Wer, wenn nicht wir?
Im Essayband “Die zwei Zeiten der Revolution” theoretisiert John Holloway die zapatistische Bewegung
Es ist still geworden um die Zapatistas. Das große Rauschen im internationalen Blätterwald ist ohnehin schon kurz nach ihrer Erhebung im Januar 1994 verklungen. Doch auch in den globalisierten Netzen einer radikalen Marktkritik fungieren die Aufständischen aus dem mexikanischen Südosten zunehmend als Ikone und moralische Referenz, kaum mehr als Akteure und Akteurinnen. Und selbst auf der innenpolitischen Bühne, der politischen Zerreißprobe nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen vom Juli 2006, sind sie die großen Abwesenden.
Da kommt John Holloway, in Gestalt der von Jens Kastner editierten Textsammlung „Die zwei Zeiten der Revolution“, gerade recht. Der Politikwissenschaftler ist kein Megastar der linken Academia, erst recht kein Salon- oder Poplinker, der die Zapatistas – wie es lange zum guten Ton eines aufgeklärten Weltbürgertums gehörte – en passant ins eigene Repertoire einbaut. Holloway, der 1947 in Dublin geboren ist und seit 1993 im mexikanischen Puebla Politische Wissenschaften lehrt, hat sich der Zapatista-Bewegung seit Anbeginn mit politischer wie theoretischer Neugier, und ohne allen Opportunismus, genähert. Deren Neu- und Eigenartigkeit nimmt er als Herausforderung für die Revision linker Theoriebildung jenseits binärer, linear und identitär angelegter Denk- und Diskursordnungen. Zugleich unterläuft dieses Vorhaben den Reflex der „Solidarität“ mit fernen Befreiungsbewegungen, an deren Stelle treten Fragen der „Resonanz und Inspiration“. In seinem Versuch der Querkopplung zwischen einer theoretischen und einer politisch-strategischen Praxis gilt John Holloway somit zurecht als einer der wenigen (wenn nicht gar: der einzige) Theoretiker des neuen Zapatismus. Davon zeugte schon der Band, der 2002 in deutscher Sprache unter dem Titel „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“ erschienen war und in dem zentrale Elemente der Hollowayschen Macht- und Staatstheorie vorgestellt werden. Das neu erschienene Bändchen von Kastner versammelt sieben neuere, diesmal explizit auf die EZLN bezogene Essays, die – bis auf einen frühen Grundlagentext – zwischen 2002 und 2005 verfasst wurden.
Zapatismus als Rätedemokratie
Ein Herzstück für Holloways Theorie wie für die zapatistische Praxis ist die „Abkehr von der linken Staatsillusion“, also die Vorstellung vom Staat als zentraler Sitz einer zu erstürmenden und revolutionär zu wendenden Macht. Dagegen denkt der Autor Staat als immer wieder von neuem produziertes Machtverhältnis, der nur durch Verweigerung und den Aufbau horizontaler Querstrukturen zum Einsturz zu bringen ist. Dass die Zapatistas genau dies tun, also vertikale Parteiapparate ablehnen und auf horizontale Selbstorganisation setzen, wird von Holloway in der Tradition der rätedemokratischen Kritik am Parteimodell der Revolution eingeordnet, von der Pariser Komune bis zu den Sowjets. Die glasklare Unterscheidung – hier die „instrumentelle“, hierarchische Partei mit dem einzigen Daseinsgrund der Machterlangung, dort das basisdemokratische und „expressive“ Rätesystem, das existierende Bedürfnisse und Fähigkeiten „zum Ausdruck“ bringt – ist natürlich eher normativ als realitätsbeschreibend. Doch durch die historische Rückkopplung gibt Holloway den Zapatistas, oftmals des Voluntarismus gescholten, eine politische Geschichte zurück.
Dass er dabei den Begriff der Macht so elegant in seine zwei Sinnvarianten zerlegen kann, ist der spanischen Grammatik zu verdanken: das Substantiv poder (Macht) bezeichnet einen Zustand bzw. eine Fakultät des Machthabens über (poder sobre), das Verb poder (können) hingegen einen schöpferischen Prozess (poder hacer). Diese Zerlegung in den instrumentellen und den kreativen Bestandteil der „Macht“ legt allerdings eine Gegenüberstellung von Macht und Kreativität nahe, die irreführend wäre. Denn wie Jens Kastner treffend bemerkt, sind schöpferische Potenziale längst – siehe das furchtbare Wort von den creative industries – den marktgängigen Verwertungsprozessen einverleibt.
Wer ist wir?
Auch die immer wieder neu gestellten Fragen, wer denn nun das Subjekt einer schöpferischen Befreiung sei und, damit eng verwoben, wie es mit der Identität des Wir bestellt ist, werden von Holloway abseits des Kanons von klassischer Revolutionstheorie und Identitätspolitik beantwortet. Nicht Arbeiterklasse oder Lumpenproletariat, aber auch keine indigene oder wie auch immer geartete Avantgarde aus besonders Geknechteten, sondern: „wir alle“. Das in der Tat „merkwürdige“ zapatistische Credo, dass das Rebellische das eigentlich „Normale“ im Menschen sei, gebiert bei Holloway eine geradezu überschäumende Metaphorik: die Menschen seien „ausbruchsbereite Vulkane“, die zwar an der Oberfläche mit einer Zuschreibung – einer Identitätsmaske – ausgestattet sind, unter der aber die Kraft der Nicht-Identität, des Überbordenden und Entgrenzenden schlummere. Es geht also nicht um revolutionäre Pädagogik, sondern darum, jenes „Wissen zum Vorschein bringen, das bereits vorhanden ist“. Darin klingt nun allerdings eine neue Art Essenzialismus auf, der so etwas wie die rebellische Natur des Menschen beschwört, die quasi nur zum Leben erweckt werden müsse, um zur Selbstbefreiung zu schreiten.
Durchaus bedenkenswert ist daher der Einwand Kastners, dass ein solches idealistisches Wir dazu neigt, vorhandene Unterschiede einer „immensen Homogenisierungsleistung“ zu unterwerfen. Unerklärbar bleibe in einem solchen Modell das weithin zu konstatierende offensichtliche Einverständnis der meisten Menschen mit den Verhältnissen, in denen sie leben. Zum Einebnen von Unterschieden neigen jedoch noch alle politischen Wir-Konstrukte, in der traditionellen Linksrhetorik zumeist in der Figur des „Volkes“ verschmolzen. Von diesem Rekurs auf das „Volk“ – etwa in der gegenwärtigen Massenmobilisierung um den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Andres Manuel López Obrador – aber unterscheidet sich das Wir des Zapatismo dadurch, dass es variabel und primär diskursstrategisch motiviert ist. Kein „kämpfendes Kollektivsubjekt“ wird hier behauptet, in dem schon alle Menschen verbündet wären, sondern ein möglicher Ort, der eine potenzielle Fusion antizipiert, etwa in der berühmtgewordenen Sentenz: „Detrás de nosotros estamos ustedes“, gegen alle Regeln der Grammatik verstoßend und letztlich unübersetzbar, „hinter uns stehen wir“.
Die von Holloway postulierte „Macht der Nicht-Identität“ läuft auf ein anti-essentialistisches Politikverständnis hinaus: Zuschreibungen verweigern, Erwartungen unterlaufen, binäre Gegenüberstellungen sprengen.
Poetik des Widerstands
Für eine solche Strategie steht nicht mehr die Frage des Eigentums, etwa an Produktionsmitteln, im Vordergrund, sondern Prozesse der (Rück)Aneignung. Sich die Produkte des eigenen Tuns rückerobern, darin besteht nach Holloway menschliche „Würde“, das so aus einem eher theologischen in ein rebellisches Repertoire umgekoppelt wird. Solche „Räume der Würde“ sind nun nicht mehr revolutionäre Verheißung, in ferner, linear oder dialektisch aus dem Heute hochgerechneter Zukunft, sondern wurzeln stets in der Gegenwart. Es entsteht so etwas wie eine neue dialektische Formel: „leben im, gegen und über den Kapitalismus hinaus“ und zwar in dessen realexistierenden „Zwischenräumen“, hier und heute.
Diese Strategie, die vermutlich eher als Haltung zu bezeichnen wäre, kommt nicht ohne Pathos („Schrei des Protests“) aus. Zudem ist sie von einer leicht größenwahnsinnig anmutenden Selbstüberschätzung durchdrungen, die in allerhand forschen Behauptungen mündet: „wir bringen das Kapital dazu, unserer Agenda zu folgen“ oder, in origineller Umkodierung des Schreckensbegriffs Kapitalflucht, „das Kapital flieht vor unserer Würde“. Erstaunlich liest sich auch der Befund, die Zapatistas würden „den Staat gelassen hinnehmen“, ihm gar „den Rücken zukehren“, um „ihr eigenes Ding“ zu machen – eine allzu entspannte Sicht, die Zwänge negiert und zudem die Möglichkeit einer nicht-kapitalistischen Parallelwelt suggeriert. Doch es geht ihm auch gar nicht um den „instrumentellen Realismus“, den der Autor Realpolitikern jeder Coleur zurecht unterstellt, sondern vielmehr um eine Poetik des Widerstands, als „Kampf gegen die prosaische Logik der Welt, Poesie als der Ruf einer Welt, die noch nicht existiert“.
Kurswechsel der „Anderen Kampagne“
Die „Zapatistas ernst nehmen“, das heißt für Holloway auch, sie beim Wort nehmen, weiterdenken, kritisieren. Nicht alles, was die Aufständischen in die politische Umlaufbahn gebracht haben, ist in den überregionalen Diskursräumen auf Resonanz gestoßen. Ohne großes Echo blieben etwa die militaristische Ikonographie oder die nationalistische Rhetorik. Hochinteressant wäre es zu erfahren, wie der Zapatismo-Theoretiker die „andere Kampagne“, den jüngsten Versuch der Grenzüberschreitung, wertet.
Nach der Verstümmelung der Gesetzesreform über indigene Autonomien hatte sich die EZLN zurückgezogen und mit dem Aufbau regionaler Regierungsräte, den sogenannten juntas de buen gobierno, begonnen. Jahrelang waren die Zapatistas, bis auf kürzere Intermezzi, von der politischen Bühne verschwunden, bis sie Anfang 2006 landesweit eine neue Offensive starteten: die otra campaña sollte, parallel zu den Wahlkampagnen der Präsidentschaftskandidaten, eine antikapitalistische Bewegung „von links und von unten“ begründen. Dabei aber zeichnet sich ein signifikanter Kurswechsel ab: War es zuvor stets, wie Holloway an anderer Stelle einmal schrieb, um „anti-definitorische“ Strategien gegangen, so wurde diesmal strengstens definiert, wer die wahren Linken bzw. Antikapitalisten sind. Das systematische Zweifeln weicht neuen Gewissheiten, breite Brückenschläge klaren Grenzziehungen, paradoxe Poetik den altbekannten Formeln einer linksradikalen Rhetorik. Dabei entstehen ebenso neue wie bestürzende Allianzen. Ein sichtbares Beispiel war der Marsch durch das Zentrum von Mexiko-Stadt, zu dem Marcos und die otra campaña – die bislang gerade 3.000 AnhängerInnen (adherentes) hinter sich versammelt – just am Wahlsonntag im Juli 2006 aufgerufen hatten. Ein paar hundert Meter hinter dem Subcomandante marschierte, immerhin wohl ans Ende des Zuges verbannt, eine Delegation der kommunistischen Jugend, rote Fähnchen mit Hammer und Sichel schwenkend. Direkt vor ihnen recken junge Männer vier riesige Standarten mit altbekannten Gesichtern in die Luft. Es sind die Herren Marx, Engels, Lenin – und Stalin.
Idee einer revolutionären Entschleunigung
Einiges spricht zudem dafür, dass der zapatistische Funken im Sinne einer „anderen politischen Rationalität“ sich heute weniger denn je in der mexikanischen Öffentlichkeit entzündet, dafür aber, abseits aller medialen Wahrnehmbarkeit, andernorts auf Nischen übergesprungen ist. Holloway nennt diese Art der Resonanz in anderen kulturellen Kontexten „urbanen Zapatismus“. Dies gilt etwa für das städtische Argentinien, in dem sich in der Folge des Krisencrashs im Dezember 2001 eine Reihe sozialer Laboratorien aufgetan haben, bei der Selbstorganisation von Arbeitslosen, der barrio-Demokratie der Stadtteilversammlungen oder in selbstverwalteten Fabriken. Doch auch in Argentinien ist der Krisenlärm, im Jahre fünf nach der politischen und ökonomischen Implosion, längst einem Sound der Normalisierung gewichen. Was bleibt, ist die Idee einer revolutionären Entschleunigung, eben die „andere Zeitlichkeit“, von der Holloway schreibt. Als „Fußgänger der Geschichte“ beschreibt Subcomandante Marcos die otra campaña und rekurriert dabei auf eine Metaphorik der Tiefe, des „Kellers“, also des gleichsam Unterirdischen und Unsichtbaren. Doch mit fehlender Sichtbarkeit verengen sich auch Resonanzräume, die überbordende Maßlosigkeit („eine neue Welt schaffen“) droht zu Selbstbezogenheit und politischem Autismus zu werden. „Wir wollen die erreichen, die so sind wie wir“, heißt es in dem Marcos-Kommuniqué vom September 2006. Einst war es darum gegangen, gerade die Anderen zu erreichen.
Doch zuweilen lösen sich Ideen von ihren Urhebern, politische Prinzipien von ihren Protagonisten. Resonanz als Treibstoff der Bewegung meint mehr als Echo, als mehr oder weniger verzerrter Widerhall, sondern Aneignung, Übersetzung und Weiterdenken.
In diesem Sinne wäre auch die gegenwärtige Stille und Enge um die Zapatistas, folgt man zumindest dem optimistischen Blick John Holloways, nicht automatisch gleichbedeutend mit dem Verschwinden eines libertären und anti-identitären Zapatismo.
John Holloway: Die zwei Zeiten der Revolution. Würde, Macht und die Politik der Zapatistas.
Aus dem Englischen und Spanischen übersetzt und eingeleitet von Jens Kastner.Verlag Turia + Kant, Wien 2006, 110 Seiten, 10 Euro.
Die ungekürzte Version dieses Beitrags erscheint demnächst in: Lateinamerika Analysen 14, Institut für Iberoamerika-Kunde (IIK) Hamburg.