„Es gibt im Internet die Möglichkeit, alle Grenzen und Kontrollen zu überschreiten“
Interview mit der Soziologin Martha Zapata Galindo
Wofür nutzen Sie als kritische Wissenschaftlerin aus Mexiko in Berlin das Internet?
Ich nutze es in erster Linie für Recherche und Kommunikation. Ich finde über das Internet sehr schnell Informationen zu sozialen Bewegungen, alternativen Wissensformen, Datenbanken und Zeitschriften, die früher nicht zugänglich waren. Ich gebrauche das Internet auch politisch als Werkzeug für Cyberaktivismus.
Was muss man sich unter Cyberaktivismus vorstellen?
Ein sehr interessanter Bereich, in dem ich tätig bin, ist die Schnittstelle zwischen Aktivismus und Hacktivismus. Hackers verfügen über technologisches Wissen, das wir AktivistInnen aus anderen Zusammenhängen nicht haben. Daher ist eine Zusammenarbeit sehr wichtig. Beispielsweise wird Software produziert, damit politische AktivistInnen mit geschützten Identitäten kommunizieren können, ohne dass die Zensur das verhindert. Der Bereich Hacktivismus wurde nach dem 11. September sehr nah an den Bereich Cyberterrorismus gebracht. Das ist nicht gerechtfertigt, weil es klare Unterschiede gibt. Aber Regierungen, wie die der USA, neigen dazu, diese Grenzen zu verwischen. Für sie wird leicht alles zum Terrorismus: ob jemand einen Virus programmiert oder aber eine Zensur umgeht oder Informationsgrenzen durchbricht.
Der Schwerpunkt unserer Ausgabe lautet „Alternative Medien“. Wie und wofür wird das Internet heute von sozialen Bewegungen genutzt?
Es gibt unendlich viel alternative Nutzung des Internets. Politische und soziale Bewegungen nutzen das Internet zur Organisation, Koordination und auch für Cyberaktivismus. Interessant ist, dass es gerade innerhalb der Indígena-Bewegungen eine immer stärkere Nutzung des Internets für Mobilisierung und Aktivismus gibt. Konkrete Aktivitäten werden online und auch offline organisiert, weil ja auch Leute erreicht werden sollen, die keinen Zugang zum Internet haben. Das Internet erlaubt es, einen größeren Radius an AktivistInnen zu erreichen und diese multiplizieren dann die Information über andere Kanäle an die nicht „Angeschlossenen“.
Ein etwas anderes Beispiel ist ein von der UNESCO unterstütztes Projekt aus Peru, in dem mehrere Indígena-Gemeinden zur Zeit einen virtuellen Raum der Erinnerung aufbauen, in dem sie Gewalterfahrungen der Vergangenheit aufarbeiten und auf unterschiedliche Form kommunizieren, sei es durch Texte, Bilder oder Foren.
Früher wurde vermutet, dass die Beziehungen, die sich im Netz entwickeln, oberflächlich bleiben. Aber das stimmt nicht. Bei Gruppen, die lange Zeit zusammen im Internet arbeiten, entsteht das Bedürfnis, sich kennen zu lernen. Gerade wenn Menschen ein gemeinsames Ziel teilen, an dem sie arbeiten, entwickelt sich ein Zugehörigkeitsgefühl, eine Art von Identität. Das beste Beispiel ist die Open Source Community, die eine Philosophie teilt und gemeinsam an der Entwicklung freier Software arbeitet. Es gibt in Lateinamerika verschiedene Provider, die nichts kosten, damit AktivistInnen ihre Seiten darauf stellen können.
Wie viele Menschen in Lateinamerika haben überhaupt Zugang zum Internet?
Der Zugang zum Internet bestimmt sich über zwei Faktoren: über die ökonomischen Möglichkeiten und über das erforderliche Wissen. Weltweit gibt es die meisten NutzerInnen in den USA, dann kommt Japan. Deutschland ist auf dem siebten oder achten Platz. Bei den lateinamerikanischen Ländern führt Brasilien, gefolgt von Argentinien und Mexiko. Aber weltweit liegt der Anteil der LateinamerikanerInnen insgesamt nur bei drei oder vier Prozent, Tendenz allerdings rapide steigend.
Die Politik der einzelnen Länder ist sehr unterschiedlich. Es gibt eine Verpflichtung von vielen Regierungen, dieses Medium zugänglich zu machen. Einige Länder haben das konsequent verfolgt. Zum Beispiel Peru hat überall öffentliche Kabinen aufgestellt, in denen ein Internetzugang umsonst angeboten wird. In Peru und Ecuador werden Schulungen durchgeführt – auch für die, die das nicht selbst finanzieren können. In Ecuador gibt es ein sehr interessantes Projekt namens chasquiNet, in dem technologische Unterstützung und Schulungen angeboten und auch die Server umsonst für AktivistInnen und soziale Bewegungen zur Verfügung gestellt werden. In Mexiko gibt es hingegen kein solches Engagement der Regierung.
Ist das Internet ein hierarchiefreier oder grenzenloser Raum? Oder haben sich durch das Internet die bestehenden Ungleichheiten vertieft?
Ich denke, das Internet kann demokratisch sein und man kann es alternativ nutzten. Gleichzeitig bezeugt die Wirklichkeit natürlich auch etwas anderes. Denn dort, wo die Armut groß ist, gibt es kein Internet. Wer schon arm ist, wird noch weiter ausgegrenzt. Da teilt sich die Welt. Neben diesem sogenannten digital divide gibt es auch einen gender divide. Immer noch nutzen viel mehr Männer das Internet als Frauen. Und es sind auch immer noch vorrangig Weiße.
Das liegt an ihrer marginalisierten Stellung in der Gesellschaft?
Einerseits ja, andererseits liegt es auch daran, dass die meisten lateinamerikanischen Regierungen ihren Auftrag nicht so ernst genommen haben. Auf Ebene der Vereinten Nationen haben sich alle Regierungen dazu verpflichtet, das Internet für alle zugänglich zu machen. Dafür müsste viel investiert werden. Das machen viele Regierungen nicht, weil sie andere Prioritäten setzen.
Gibt es überall in Lateinamerika staatliche Kontrolle im Internet?
Ich gehe davon aus, dass weltweit alle Staaten in irgendeiner Form eine Kontrollinstanz haben. Es gibt Staaten, die ungeheuerlich viel kontrollieren – wie China und Kuba. Sie haben die Macht über Knotenpunkte und es kommt nur rein, was sie wollen. Ich kann mir gut vorstellen, dass in Mexiko die Kontrolle über das Internet nicht so groß ist. Das Know-how ist da, aber bislang fehlt noch das Interesse. Andererseits gibt es die Möglichkeit, alle diese Grenzen und Kontrollen zu überschreiten für diejenigen, die über das Wissen verfügen. Das ist allerdings nicht leicht. Deshalb denke ich, dass die Zusammenarbeit zwischen hackers und AktivistInnen so wichtig ist für die politische Arbeit.
Wie wirkt sich der Trend der Kommerzialisierung im Internet aus?
Die privatwirtschaftliche Nutzung hierarchisiert das Internet und grenzt aus. Denn dadurch werden Netzbereiche geschlossen gehalten: Zeitschriften und Datenbanken sind teilweise nur noch gegen Geld zugänglich. Wissen, das früher umsonst war, wird jetzt merkantilisiert. Aber es gibt die Gegenbewegungen, wie beispielsweise Open Source, die das Wissen frei hält und publiziert. Dieser Kampf wird gerade geführt und er ist noch nicht entschieden. Obwohl diejenigen, die ein wirtschaftliches Interesse an der Nutzung des Internets haben, natürlich viel mehr sind und viel mächtiger. Ob wir noch offene Bereiche im Internet behalten, liegt natürlich auch an uns selber. Die Frage ist, wie lange wir bereit sind, für dieses freie Internet zu kämpfen.
Als ich 1997 an die Universität in Mexiko-Stadt ging, hatte ich noch nie das Internet benutzt. An der UNAM war es gang und gäbe. Ist das eine verallgemeinerbare Erfahrung? Verbreitete sich das Internet in Lateinamerika früher als in Europa oder Deutschland?
Tatsächlich hat sich das Internet früher in Lateinamerika verbreitet. Das liegt daran, dass die USA, die am meisten zur Technologie des Internets beigetragen haben, ein Interesse daran hatten, die eigenen Entwicklungen in Lateinamerika zu vermarkten. Die mächtigen industrialisierten Länder haben hingegen zunächst im Alleingang geforscht. Die lateinamerikanischen Länder konnten von vorn herein nicht konkurrieren. Daher waren sie bereit, die US-Entwicklungen einfach zu übernehmen.
Die mexikanische Universität, an der ich studiert habe, wurde bereits vor 20 Jahren vernetzt, noch bevor es das www gab – die Freie Universität Berlin erst vor fünf Jahren.
In Deutschland gibt es eine sehr komplexe Beziehung zur Technik. Viele haben Schwierigkeiten mit dem Internet und Computern und sind eher kritisch eingestellt. Hier gibt es außerdem eine sehr gute Kommunikations-Infrastruktur. Nach wie vor kann man hier ohne Probleme ohne Internet leben, weil man telefonieren kann. In Lateinamerika gibt es verhältnismäßig wenige Telefone und die Verbindung ist auch nicht so gut. So ist das Internet auch eine Alternative, weil es viel billiger und zugänglicher ist. In Lateinamerika herrscht zudem im Gegensatz zu Deutschland eine viel größere Begeisterung darüber, mittels Internet etwas zu erreichen, das über die Grenzen des Landes und der Region hinausgeht.
Und auch über die Grenzen der staatlichen Kontrolle der Massenmedien? Auf Grund von Zensur und Kontrolle war das Internet ja oft per se erstmal ein alternatives Medium. Dass die mexikanische Regierung beim Aufstand der Zapatistas 1994 ihre über die Massenmedien verbreitete Darstellung nicht aufrechterhalten konnte, lag ja zum großen Teil an der Internetnutzung der Zapatistas…
Ja, genau. Aber ich würde weiter gehen und sagen, dass das Internet generell auch heute noch ein alternatives Medium ist., denn man hat die Freiheit zu gestalten. Das ist beim Fernsehen oder bei Zeitungen nicht möglich. Dort muss man sich unterordnen unter das, was sie veröffentlichen und wie sie es darstellen. Dagegen hat man im Internet die Möglichkeit, selber zu gestalten, selber ganz schnell Information zu vermitteln. Das hat einen sehr starken Reiz für soziale Bewegungen in Lateinamerika und in der ganzen Welt.