Nummer 404 - Februar 2008 | Sachbuch

Fachleute unter sich

Der Sammelband Lateinamerika 1870 – 2000. Geschichte und Gesellschaft wendet sich vor allem an ein bereits informiertes Publikum

Oliver Commer

Der Anspruch, die Geschichte und Gesellschaft Lateinamerikas im 19. und 20. Jahrhundert auf gerade einmal gut 260 Seiten auszubreiten, ist ein mutiges Vorhaben. Doch der Sammelband Lateinamerika 1870 – 2000 hat sich genau dies zum Ziel gesetzt. In insgesamt 13 Beiträgen bemühen sich die AutorInnen einerseits, einen roten Faden durch die wechselhafte, vielstimmige Geschichte der vergangenen 130 Jahre auf dem Subkontinent zu ziehen, während sie andererseits gerade die Diversität und die Heterogenität betonen, die wiederum jegliche Generalisierung in Frage stellen. Einfach macht es dieses Buch den LeserInnen nicht. Fast alle AutorInnen sind InhaberInnen von Lehrstühlen und betreiben ihre sozial- und politikwissenschaftliche Analyse äußerst kenntnisreich – jedoch vermag der Funke bei einigen Artikeln nicht so richtig überzuspringen.
Das liegt zunächst an der Zusammenstellung des Buches. Gerade die ersten drei Beiträge, in denen die Stufen der politischen Entwicklung in Lateinamerika, das Verhältnis zwischen Politik und Gewalt oder die wirtschaftlichen Konjunkturen des Kontinents vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute dargestellt werden, sind wegen ihrer stark gerafften und viele Aspekte aussparenden Darstellungsweise als einführende Artikel schwer verdaulich. Hier wird den LeserInnen eine Menge an Wissen über umfassende und komplexe Zusammenhänge abverlangt. Doch es geht auch anders. Der leicht lesbare und zugleich höchst informative Beitrag von Bernd Hausberger macht Lust, mehr über die unterschiedlichen Entwürfe subkontinentaler Identität und transnationaler Integration zu erfahren und hätte sich als Einstieg angeboten. Ebenso gut geschrieben ist der Artikel über das Verhältnis der lateinamerikanischen Nationen zu ihrem übermächtigen Nachbarn im Norden. Wolfgang Dietrich und Holger M. Meding vermögen es fesselnd und zugleich anspruchsvoll, diese ungleiche Beziehung zwischen den USA und Lateinamerika mit all ihren Zyklen von Entfremdung und Annäherung darzustellen. Gut gelungen ist auch der Vergleich zwischen dem brasilianischen Ex-Präsidenten Getúlio Vargas und dem argentinischen Ex-Präsidentenpaar Juan und Eva Perón, in dem Ursula Prutsch Populismen, Mythen und Inszenierungen untersucht und der allein schon zu einer genaueren Ansicht des Buches einlädt. Die meisten AutorInnen weisen zurecht darauf hin, dass im Rahmen des Sammelbandes eine tief gehende und detaillierte Analyse ihres Gegenstandes nicht möglich sei. Trotzdem wirken die umfangreichen Literaturangaben oftmals nur als Trostpflaster, da wichtige Fragen zwangsläufig unbehandelt bleiben. Und dass die Entwicklungen in Hoch- und Populärkultur Lateinamerikas in einem einzigen Beitrag – bezeichnenderweise dem letzten – und anhand einiger sehr spezieller Beispiele aus der Literatur und des Kinos abgehandelt werden, kann so nicht überzeugen. Interessierte mit wenigen Vorkenntnissen der Geschichte und Gesellschaft Lateinamerikas sollten sich lieber an anderer Stelle einführend informieren, da das Buch sich eindeutig an ein akademisches Publikum wendet, auch wenn das so nicht explizit formuliert wird. Diejenigen LeserInnen aber, die zu einigen ganz spezifischen Fragestellungen an die lateinamerikanische Geschichte einen anspruchsvollen, wohl aber nicht vollständigen Überblick erwarten, sei dieses Buch durchaus ans Herz gelegt.

Walther L. Bernecker et al.(Hg.) // Lateinamerika 1870-2000. Geschichte und Gesellschaft // Promedia Verlag // 264 Seiten // 24,90 Euro

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