Bolivien | Nummer 501 - März 2016

FALLSTRICKE DER TRANSFORMATION

Evo Morales stolpert über das Referendum zur Wiederwahl

Am 21. Februar entschied Bolivien im Referendum über eine Verfassungsänderung zur Möglichkeit einer vierten Amtszeit für Präsident Evo Morales – negativ. Ein Sieg hätte ihm und seinem Vize Álvaro García Linera ermöglicht, insgesamt 20 Jahre an der Macht zu bleiben. Die Niederlage ist eine Zäsur.

Von Ximena Montaño
Wählerinnen in El Alto
Wähler*innen in El Alto (Fotos: Ximena Montaño)

Erstmals seit seinem Amtsantritt 2006 hat Boliviens Präsident Evo Morales einen Urnengang verloren. Eine Verfassungsänderung, die ihm eine erneute Kandidatur im Jahr 2019 erst ermöglicht hätte, wurde im Referendum vom 21. Februar von 51,3 Prozent der Bevölkerung abgelehnt. Es war auch das erste Mal in der Geschichte, dass alle Bolivianer*innen gefragt wurden, ob sie ihre Verfassung ändern wollen. „Ein wichtiges Rendezvous mit der direkten Demokratie“, nannte José Luis Exeni, Mitglied der Wahlbehörde, deshalb das Plebiszit. Die Möglichkeit dafür hatte die Verfassung von 2009 geschaffen. Diese war innovativ, nicht nur weil sie Bolivien aufgrund seiner indigenen Bevölkerungsmehrheit zum plurinationalen Staat erklärt und damit die Existenz von 36 Kulturen anerkannt hatte. Sie sieht auch drei Formen von Demokratie vor: repräsentativ, direkt/partizipativ und kommunitär – und zwar ohne, dass eine dieser Formen den anderen übergeordnet wäre. Unter kommunitärer Demokratie versteht man eine Versammlungsdemokratie mit Rotationsprinzip, eine traditionelle Entscheidungsform in indigenen Gemeinden.
Die Feministin Elisabeth Peredo beklagte vorab dennoch: „Dieses Referendum stellt uns nicht nur zu einem völlig verfrühten Zeitpunkt vor eine wahlpolitische Alternative. Es hat auch die grundsätzlichen Themen unseres Landes auf ein einfaches Ja oder Nein reduziert. Die Debatte über das Entwicklungsmodell, über die Gefahren, die Bolivien angesichts der globalen Veränderungen drohen, die Frage, ob wir weiter auf jenes megalomane Wachstum setzen sollen, dem ­unsere ­Regierenden­ sich verschrieben haben.“
In der Tat steht das südamerikanische Land vor großen Herausforderungen. Dass makroökonomische Indikatoren wie Wachstum (in den vergangenen Jahren über fünf Prozent) und Armutsminderung (rund 20 Prozent seit 2002) Bolivien ein sehr positives Zeugnis ausstellen, bedeutet nicht, dass es keine drängenden Probleme gäbe. Zwar sind die Sozialausgaben gestiegen. Doch sie bestehen vor allem aus monatlichen Zahlungen kleiner Beträge an verschiedene soziale Gruppen (Schwangere, Kinder, Alte, etc.), ohne dass sich beispielsweise die Qualität oder Ausdehnung der staatlichen Gesundheitsversorgung spürbar verbessert hätte. Noch federn die internationalen Reserven des Landes den weltweiten Absturz des Erdgas- und Ölpreises ab. Doch im Bergbau zeigen sich schon Auswirkungen der auf dem Weltmarkt ebenfalls gesunkenen Erzpreise. Diese zu erwartende tiefe Wirtschaftskrise, die in den Nachbarländern bereits wütet, ist der Grund, warum die Regierung schon zum jetzigen Zeitpunkt auf die Abhaltung des Referendums drängte: Sie sah ihre Gewinn-Chancen schwinden. Das Kalkül ging nicht auf,. „Wir haben eine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg.“, kommentierte Evo Morales das Ergebnis.
Bolivien hat zunehmend auf Rohstoffexport und Agroindustrie gesetzt, auch wenn dies laut Vizepräsident Álvaro García Linera nur vorübergehend sein sollte, um irgendwann später eine Industrialisierung und wirtschaftliche Diversifizierung finanzieren zu können. Damit einhergehende Konflikte und Umweltzerstörung wurden in Kauf genommen. Im Sommer 2015 wurden alle Naturschutzgebiete des Landes – Bolivien erstreckt sich weit ins Amazonasbecken hinein – für die Suche nach Ölreserven freigegeben. Vor allem aber hat dieser Extraktivismus längst die typischen Übel hervorgerufen, welche auf Rohstoffrenten zielende Gesellschaften charakterisieren: „Die Überschüsse aus den Rohstoffexporten­ sind nicht für eine Umwandlung der Produktion verwendet worden, sondern um klientelistische Strukturen zu schmieren und so die politische Kontrolle über die Gesellschaft zu verstärken und den Aufstieg einer neuen Bourgeoisie zu ermöglichen“, sagt der Linksintellektuelle Luis Tapia.

Alles korrekt - Stimmauszählung in La Paz
Alles korrekt – Stimmauszählung in La Paz

Seit vergangenem Jahr haben Korruptionsskandale das politische Projekt der Regierungspartei Moviemiento al Socialismo (MAS) schwer erschüttert, an der Spitze wie an der Basis. In der ersten Jahreshälfte 2015 kam heraus, dass praktisch flächendeckend Millionenbeträge in US-Dollar aus dem Fondo Indígena, einem bedeutenden, aus Erdgasexporteinnahmen finanzierten Regierungsfonds zur Förderung indigener und kleinbäuerlicher Organisationen, auf Privatkonten der Führungsriegen gelandet waren. Die geförderten Projekte wurden niemals ausgeführt. Über 200 Gerichtsverfahren sind in Gang, eine ehemalige Ministerin, zwei Senatoren der MAS und eine Reihe bekannter Führungspersonen großer, regierungstreuer Organisationen befinden sich in Haft. Ein politisches Erdbeben für die selbsterklärte „Regierung der sozialen Bewegungen“. Dabei waren­ gerade die indigenen ­Organisationen, die laut Morales für die ethische Integrität seines Transformationsprojekts stehen sollten, besonders betroffen. Zwei davon, CONAMAQ und CIDOB, hatten bereits Jahre zuvor unter anderem diese klientelistischen Praktiken kritisiert und deshalb die Seiten gewechselt. Doch sind sie inzwischen durch systematische Diffamierung und Spaltung seitens der Regierung weitgehend zerrieben.
Die MAS hat sich die großen sozialen Organisationen einverleibt und zur unbedingten Loyalität verdonnert, anstatt ihre Autonomie als notwendiges demokratisches Korrektiv zur enormen Wirkungsmacht staatlicher Institutionen anzusehen und den Dialog zu suchen. Die traditionelle existierende korporative Kultur wurde noch verschärft. Beispielsweise wurden in El Alto ganze Fakultäten der Universität, ganze Stockwerke in Krankenhäusern und ganze Abteilungen der Stadtregierung bestimmten Lokalfürst*innen und ihrem Gefolge „zugesprochen“. Das heißt, sie besetzen dort die Stellen und verteilen die Gelder, ungeachtet von Bedarf, Qualifikation und Qualität. Ansonsten bestünde nicht nur in El Alto die Gefahr, dass massive Demonstrationen den Bürgermeister stürzen könnten – wo wiederum die Teilnahme nicht etwa freiwillig ist, sondern mit Anwesenheitslisten kontrolliert wird. „Die Leute haben diese Strukturen gründlich satt“, erklärt Eliana Tambo, Aktivistin aus einem Jugendprojekt in El Alto. „Nur deshalb ist in El Alto vergangenes Jahr die Oppositionskandidatin Soledad Chapetón Bürgermeisterin geworden.“
Genau das war auch der Hintergrund der tragischen Vorfälle in El Alto vier Tage vor dem Referendum, wo im Zuge einer Demonstration für die bessere Ausstattung von Schulen ein Gebäude der oppositionellen Lokalregierung angezündet wurde. Sechs Angestellte starben an Rauchvergiftung. Wie übel das politische Klima im linksregierten Bolivien in jüngster Zeit ist, wird dadurch deutlich, dass der Vizeinnenminister Marcelo Elío noch am selben Abend öffentlich kommentierte, es handle sich bei dem Angriff auf die Stadtregierung von El Alto um ein „Selbst-Attentat“ der Opposition. Der Fernsehsender Telesur meldete nicht weniger eilfertig, Oppositionelle hätten ein Regierungsgebäude der MAS angezündet – und musste diese Verdrehung der Tatsachen hinterher richtigstellen. Verhaftet wurde schließlich ein Anführer der großen Straßenhändler*innenorganisation, die mit dem ehemaligen MAS-Bürgermeister Patana in enger Verbindung steht. Seine Leute hatten gezielt das Gebäude angezündet, um Ermittlungsakten gegen die Korruption aus der Amtszeit von Patana zu vernichten.
Auch Präsident Morales selbst wurde schließlich Protagonist eines Skandals. Anfang Februar beschuldigte ihn der Fernsehjournalist Carlos Valverde, eine Geliebte in den Aufsichtsrat eines chinesischen Unternehmens namens CAMC Engineering gehievt zu haben. Diese Firma hat in den letzten Jahren Infrastrukturaufträge im Wert von 566 Millionen Dollar von der bolivianischen Regierung zugesprochen bekommen. Valverde legte zum Beweis die Geburtsurkunde eines Kindes von Evo Morales mit der betreffenden Gabriela Zapata vor – die keinerlei Qualifikation für den Posten mitbrachte. Der Präsident gestand ein, mit der damals 19-Jährigen ein paar Jahre ein Verhältnis gehabt zu haben – beschuldigte Valverde jedoch umgehend, als ehemaliger Geheimdienstler im Auftrag des US-Imperialismus zu handeln. Es ist nicht auszuschließen, dass beide Seiten mit ihren Beschuldigungen recht haben. Doch hat die Reputation von Morales durch diese reflexhafte Reaktion nur noch mehr Schaden erlitten.
Auch der international als intellektueller Vordenker der Regierung geltende und durch zahlreiche Ehrendoktorwürden ausgezeichnete Vizepräsident García Linera musste in der Woche vor dem Referendum Federn lassen: Obwohl er in seinen zahlreichen Büchern als Mathematiker und Soziologe firmiert, wurde bekannt, dass er keinen dieser Studiengänge jemals abgeschlossen hat.
Die Tragik liegt darin, dass Bolivien in einem Kontinent, in dem der koloniale Habitus der Unterordnung unter den Patrón die politische Kultur immer noch sehr stark prägt, eben wegen seiner innovativen Verfassung eine wichtige symbolische Ausstrahlung hatte. Die Begriffe der Entkolonisierung und Entpatriarchalisierung, beides heute zentrale Begriffe der Emanzipation nach lateinamerikanischen Maßstäben, sind dort geprägt worden. Doch sind sie mittlerweile aus dem offiziellen Diskurs der Regierung Morales verschwunden. Das knappe Ergebnis zeigt zwar, dass ein Großteil der indigenen Bevölkerung sich nicht vorstellen kann, wieder zu einer Regierung der rassistischen alten Oligarchie zurückzukehren. Doch entschuldigt das in keiner Weise die Praktiken der neuen Eliten, auch wenn sie ethnisch repräsentativer sind. Die Aktivistin Eliana Tambo aus El Alto meint dazu: „Man kann sich des Eindrucks einfach nicht mehr erwehren, dass alles von innen verrottet ist.“
Die Wandlung der Regierung Morales ist ein Lehrstück in Sachen linker, gesellschaftlicher Transformation und ihrer Fallstricke. Vielleicht ist es für die politische Kultur des Landes, aber auch für die Demokratie heilsam, wenn Morales und García Linera nun 2020 nicht mehr kandidieren dürfen. „Auf jeden Fall hat die Demokratie das Referendum gewonnen. Und hoffentlich bekommen jetzt diejenigen Kräfte Auftrieb, die unsere Organisationskultur von Grund auf erneuern wollen“, gesteht ein zum kritischen Flügel gehörender Abgeordneter der Regierungspartei im inoffiziellen Gespräch. Auch Eliana Tambo ist ähnlicher Meinung: „Ich habe keine Hoffnung mehr, dass Erneuerung von der Regierung ausgeht. Aber es gibt hier jenseits der Großen immer noch eine Vielzahl kleiner Organisationen, die zeigen, dass unser Transformationsprozess lebendig ist. Es kommt jetzt darauf an, dass die Leute aufhören, immer nur auf den ganzen Schmutz da oben zu starren und sich selbst wieder als Akteure begreifen. So, wie wir einmal angefangen haben.“

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