Brasilien | Comic | Literatur | Nummer 587 - Mai 2023

Favela in Pastellfarben

Die Graphic Novel Hör nur, schöne Márcia erzählt liebevoll vom Alltag einer starken Frau

Von Caroline Kim

„Hör nur, schöne Márcia, die traurigen Seufzer deines Hirten…“ ist der Text einer sentimentalen brasilianischen Salonmusik (modinha), die die Protagonistin Márcia durch die gleichnamige Graphic Novel begleitet und ihr die wenigen verträumten Momente schenkt. Denn zwischen Lohnarbeit und Sorgeverpflichtungen bleibt nicht mehr viel Zeit für Márcia selbst: ackern als Krankenschwester, nach Feierabend noch häusliche Pflege einer alzheimerkranken Patientin, die Erziehung ihrer respektlosen Tochter, das Kümmern um ihren Partner, die Verpflichtungen in der Nachbarschaft. Und doch fühlt sie sich, wie viele weiblich sozialisierte Menschen, nie genug und immer schuldig.

Die Erzählung lässt eine*n in den angespannten Alltagsrhythmus einer Favela in der Nähe von Rio de Janeiro eintauchen. Obwohl ein Buch keine Geräusche machen kann, ist dieses sehr laut. Man hört förmlich das ständige Klacken von Absätzen, das Schlagen von Türen, Schreien und Streiten, den lärmenden Verkehr. Die häufigen Close-Ups auf Gesichter lassen Wut und Schmerz der Charaktere sehr deutlich werden, das tägliche Leben ist – in entsättigten Pastellfarben – gezeichnet von Arbeit, Erschöpfung, Streit, Verrat und Gewalt. Gezeigt werden aber auch zarte solidarische Praxen in der Nachbarschaft, trotz hartem Leben und Armut gibt es ein gemeinsames Miteinander, eine Art Loyalität und gegenseitigen Trost.

Die Mutter-Tochter-Beziehung ist das vordergründige Motiv der Geschichte. Tochter Jacqueline hat Márcias beherzte Kühnheit und ihren Jähzorn geerbt, nur wendet sie diese zum Leid ihrer Mutter gegen sie und ihren Stiefvater Aluísio und droht immer tiefer in die organisierte Kriminalität abzudriften. Márcia und Aluísio verzweifeln bei dem Versuch, sie zur Vernunft zu bringen.

Feministisch relevante Themen wie Pflegeberufe, Sorgearbeit, sexualisierte Gewalt, alleinerziehende Mutterschaft und Aufopferung spielen in der Erzählung eine große Rolle. Geschrieben ist sie – kaum überraschend in der männerdominierten Comicbranche – von einem weißen Mann, dem preisgekrönten Brasilianer Marcello Quintanilha. Auch für Hör nur, schöne Marcía, einem Plot mit ausschließlich Schwarzen Protagonist*innen, hat er zwei internationale Comicpreise erhalten. Sein Erzählstil ist schnell, spannend, laut und gewaltsam. Aber er widmet den Dramen seiner Charaktere auch liebevolle Aufmerksamkeit, ist einfühlsam und empathisch.

Quintanilhas Zeichnungen erschaffen Szenerien, die die brasilianische Peripherie detailliert charakterisieren: offene Stromleitungen, die über den Straßen hängen; volle Busse; Wäsche auf den Flachdächern der Häuser an den Hängen; ihr Innenleben. Die Pastelltöne und fehlenden Konturen geben dem Comic etwas Fantastisches. Die Geschichte selbst vermittelt aber eine Hoffnungslosigkeit, denn es ist unmöglich, aus den Spiralen an Gewalt und Kriminalität auszusteigen. Selbst wenn die Akteur*innen manchmal wechseln, bleibt am Ende doch alles beim Alten.

Den Protagonist*innen gelingt letztlich die Flucht hinaus aus dem Viertel hinein in die Familie – mit allen subtil angedeuteten Widersprüchen, die auch dieser Weg mit sich bringt. Das Happy End scheint also etwas zweifelhaft, wirkt aber auch erleichternd: ein Aufatmen nach der angespannten Intensität der vorangegangenen Story.

Marcello Quintanilha // Hör nur, schöne Márcia // Aus dem Portugiesischen von Lea Hübner // Reprodukt // 128 Seiten // 24 €

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