Aktuell | Feminismus | Mexiko | Nummer 557 - November 2020

FEMINISTISCHE KÄMPFE STEHEN NICHT STILL

Besetzung der Nationalen Menschenrechtskommission in Mexiko

Im September besetzten feministische Kollektive, Familien von Verschwundenen und Opfern von Feminiziden, Mord und Gewalt in verschiedenen Teilen des Landes die regionalen Büros und die zentrale mexikanische Menschenrechtskommission in Mexiko-Stadt. Sie fordern Gerechtigkeit und Aufklärung. Nachdem es zu einer Spaltung der Besetzerinnen kam, führt nun der feministische Bloque Negro die Besetzung der Menschenrechtskommission in Mexiko-Stadt weiter fort.

Von Finja Henke

Okupa Casa Refugio Ni Una Menos México Früher Menschenrechtskommission, heute Schutzraum (Foto: B.jars, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0)

Hinter dem polierten Holzschreibtisch in einem Büro der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) steht „Wir werden weder vergeben noch vergessen!“ in schwarzer Schrift auf den kahlen Hintergrund gemalt. Die Farbe ist noch frisch und tropft herunter. Vor dem Schriftzug posiert eine Person mit Sturmhaube, unter der die langen schwarzen Haare hervorschauen. Es ist das Foto, das zum Symbolbild der feministischen Besetzung wird. Anfang September wird diese von Betroffenen exzessiver Gewalt und ihren Angehörigen initiiert, feministische Kollektive schließen sich an.

Am 2. September waren Familien aus dem Bundesstaat San Luis Potosí zur Nationale Menschenrechtskommission in Mexiko-Stadt gekommen, um Aufklärung für zahlreiche Fälle von Gewalt und Verschwindenlassen insbesondere von Frauen und Kindern zu fordern. Darunter ist auch Marcela Alemán, Mutter eines vierjährigen Mädchens, das 2017 in ihrer Vorschule Opfer sexualisierter Gewalt wurde. Der Fall von Alemáns Tochter hatte eine Reihe von Klagen bei verschiedenen Instanzen zur Folge. Obwohl das Mädchen ihre Täter identifizieren konnte, wurden sie nicht verurteilt. Als deutlich wurde, dass sich auch die Nationale Menschenrechtskommission dem Fall nicht annehmen würde, weigerte sich Alemán, den Sitzungssaal zu verlassen. Sie setzte sich auf einen Stuhl, fesselte sich selbst am Stuhlbein fest und verkündete, dass sie nicht aufstehen würde, ehe der Fall ihrer Tochter aufgeklärt sei. Silvia Castillo, die Mutter eines Jungen, der 2019 in San Luis Potosí getötet wurde und dessen Fall ebenfalls nicht aufgeklärt ist, schloss sich ihr an.

„Wir werden weder vergeben noch vergessen!“

In den folgenden Tagen kamen auf die Initiative von Müttern vor Ort feministische Kollektive sowie weitere Angehörige von verschwundenen und ermordeten Personen und jene, die selbst verschiedene Formen von Gewalt erlebt hatten, dazu. Sie schlossen sich zusammen, um ihre Anliegen vorzubringen und sich gegenseitig zu unterstützen. Dabei forderten sie gemeinsam eine juristische Aufarbeitung aller Fälle.

Als sie vier Tage später, am Sonntag den 6. September, weder eine Antwort erhielten noch juristische Verfahren eingeleitet wurden, formte sich aus der anfänglichen Protestaktion eine politische Besetzung der CNDH, der höchsten staatlichen Institution, in deren Verantwortung der Schutz der Menschenrechte liegt. Kurzerhand änderten die Besetzerinnen den Namen des Gebäudes in Okupa Casa Refugio Ni Una Menos México („Hausbesetzung Schutzraum Nicht Eine Weniger”). Während der Besetzung dieser öffentlichen Einrichtung bemalten die Frauen Teile des Gebäudes: Auf Wände wurden feministische Parolen gesprüht, historische Gemälde von Männern, die als Helden der Geschichte gelten, wurden mit ironischen und politischen Symbolen überzeichnet. Der Ort wurde von da an zum Schutzraum für Angehörige und für Opfer von Gewalt erklärt.

Bis zum 15. September kam es zu keiner Einigung mit staatlichen Stellen. Im Gegenteil: Die Positionen einzelner Behörden und insbesondere des Präsidenten Andrés Manuel López Obrador (AMLO) waren geringschätzig und zurückweisend. Der mexikanische Präsident erkannte an, dass die Besetzung der CNDH Ausdruck einer „angemessenen Forderung“ sei. Sie hätte sich jedoch in ein politisches Anliegen verwandelt, das von konservativen Kräften unterstützt werde, die die mexikanische Demokratie in Gefahr bringen würden. AMLO bringt damit die Familien in Zusammenhang mit den Konservativen des Landes wie etwa den politischen und wirtschaftlichen Eliten und der verpönten Mainstreampresse – und diffamiert damit die Besetzung im höchsten Amt der Regierung.

„Die Polizei passt nicht auf uns auf, sie vergewaltigt uns!“

Die Besetzung fand jedoch auch viel Zuspruch. So gab es weitere Besetzungen von bundesstaatlichen Menschenrechtskommissionen durch feministische Kollektive unter anderem in Chiapas, Guerrero, Sinaloa oder Chihuahua. Einer der bekanntesten Fälle war die Besetzung der Menschenrechtskommission im Bundesstaat Mexiko (CODHEM) durch verschiedene feministische Gruppen in Ecatepec, die auf gewaltsame Weise am Morgen des 11. Septembers geräumt wurden. Der Bezirk Ecatepec sorgte in der Vergangenheit aufgrund sehr hoher Feminizidraten immer wieder für Aufmerksamkeit.

Bei der Räumung in Ecatepec kam es zu heftigen Repressionen, die das Ausmaß der täglichen Gewalt und die Gefahren des feministischen Kampfes an diesem Ort widerspiegeln. Teilweise wurden Besetzerinnen festgenommen und ihr Aufenthaltsort nach der Verhaftung blieb lange unklar – eine bekannte Einschüchterungsstrategie seitens der Polizei. Denn solange nichts über den Verbleib einer verhafteten Person bekannt ist, ist die Sorge hoch, dass es sich um einen Fall gewaltsamen Verschwindenlassens handeln könnte.

Eine häufig geäußerte Kritik von Frauen aus feministischen Gruppen in Mexiko lautet: „Die Polizei passt nicht auf uns auf, sie vergewaltigt uns!“. So heißt es auf Demonstrationen, in Aufrufen und im Netz: #NoNosCuidanNosViolan. Die Repressionen gegen die feministischen Proteste, angesichts der Besetzungen der Menschenrechtskommissionen, erinnern daran, dass in einem patriarchalen System – wie es in Mexiko eine Ausprägung findet – Frauen oft nicht als Menschen wahrgenommen werden, deren Rechte es zu schützen gilt.

Der feministische Bloque Negro führt die Besetzung fort

Mitte September kam es zu Differenzen zwischen den verschiedenen Gruppen der Okupa Casa Refugio Ni Una Menos México. Im Fokus stand Yesenia Zamudio, Mutter von Maria Jesús Jaimes Zamudio (besser bekannt als Marichuy), die Opfer eines Feminizids wurde. Ihr Fall wurde nie aufgeklärt, was ihre Mutter zu einer Aktivistin machte. Heute führt sie das Kollektiv Frente Nacional Ni Una Menos an, das an der Besetzung des CNDH Anfang September beteiligt war.

Yesenia Zamudio kritisierte Mitte September öffentlich Konflikte innerhalb der Besetzung, was zu einer Reihe von gegenseitigen Anschuldigungen zwischen Zamudio und anderen Müttern und dem feministisch-militanten Bloque Negro („Schwarzer Block“) führte, der sich an der Besetzung des CNDH beteiligt. Der Bloque Negro symbolisiert eigentlich eine Taktik auf Demonstrationen und Kundgebungen, um die Anonymität der Mitglieder einer Gruppe zu gewährleisten. Er wird häufig als militant beschrieben, da er den gewaltvollen Konflikt gegen den Staat (und häufig auch Privatbesitz) als unumgänglich ansieht. Im Falle der Besetzung der CNDH ist nicht klar, welche feministischen Gruppen sich hinter dem Bloque Negro verbergen. Das Zerwürfnis zwischen den Müttern und dem Bloque Negro hatte schließlich zur Folge, dass die Angehörigen von Verschwundenen und Opfern von Feminiziden die Okupa Casa Refugio Ni Una Menos México verließen.

Trotz der Konflikte muss jedoch hervorgehoben werden, dass die Angehörigen vor dem Verlassen der besetzten CNDH die Möglichkeit hatten, ihre Forderungen vor den Behörden zu äußern. Yesenia Zamudio ist es sogar gelungen, dass der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte ihren Fall überprüfen wird. Gema Antunez Flore vom Kollektiv María Herrera de Chilpancingo sagte: „Ich bin hoffnungsvoll, ich gehe nicht zufrieden, aber mit der Hoffnung, weil die Behörden sich dazu verpflichtet haben, Akte für Akte zu überprüfen.

Wir kamen in diesen Kampf, um die Behörden zu einer Reaktion zu bewegen, denn in der momentanen Situation der Pandemie haben sie uns vollkommen im Stich gelassen und leider gibt es im Bundesstaat Guerrero täglich Fälle von Verschwundenen, Morden, Entführungen. Wir fordern Gerechtigkeit.“ Inwiefern diese Aufklärung wirklich eintreten wird, bleibt abzuwarten. Antunez möchte die Wahrheit über die verschwundenen Personen in Mexiko wissen. In ihrem Fall ist der Aufenthaltsort ihres Sohnes Juan Sebastián García Antunez seit neun Jahren unbekannt. Was sich die Hinterbliebenen wünschen, ist zumindest den Körper zu sehen, um Frieden zu finden.

Der feministische Bloque Negro führt indessen die Besetzung der Nationalen Menschenrechtskommission in Mexiko-Stadt fort. Auf Facebook fordern die Feministinnen Immunität für alle Aktivistinnen des Protestes, damit ihre Aktionen weder verdeckt noch kriminalisiert werden. Hintergrund ist, dass Aktivistinnen immer wieder betonen, dass trotz friedlicher Proteste sexualisierte Gewalt weiterhin eine Bedrohung für alle Frauen und Mädchen im Land darstellt. In Mexiko werden laut Statistiken im Durchschnitt täglich zehn Frauen Opfer eines Feminizids. Nur ein Bruchteil der Fälle landet vor Gericht. Kommt es zu gewaltvollen Ausschreitungen, werden die Proteste von Politiker*innen und Medien diffamiert und kriminalisiert.

Des Weiteren fordern die Aktivistinnen den unmittelbaren Rücktritt der Polizeieinheit, die auf gewaltsame Weise eine Gruppe von Demonstrantinnen in der Menschenrechtskommission in Ecatepec im Bundesstaat Mexiko geräumt hat, und eine gendersensible Schulung der Polizei. Außerdem verlangen sie einen detaillierten, öffentlichen Bericht der Regierung über die Maßnahmen, die bisher ergriffen wurden, um sexualisierte Gewalt zu bekämpfen. Besagter Bericht soll vom mexikanischen Präsidenten und den Gouverneur*innen präsentiert werden. Weiter fordern sie die Regierung dazu auf, einen Leitfaden für gendersensible Berichterstattung zu erstellen, um eine Reviktimisierung von Aktivistinnen und Opfern sexualisierter Gewalt zu verhindern.

Bisher erreichte der feministische Bloque Negro ein Treffen mit María Fabiola Alanís Sámano, nationale Kommissarin für die Prävention und Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Sie reichten ihre Forderungen ein und konnten die Freilassung der Studentin Tania Elis erwirken, die bei Protesten gegen sexualisierte Gewalt an der Nationalen Autonomen Universität Mexiko (UNAM, siehe LN 557) einen Monat zuvor festgenommen wurde.

Trotz der Kritik an den feministischen Aktionen seitens der Regierung haben die Besetzerinnen der Menschenrechtskommission Lebensmittel, Kleidung und Medikamente von solidarischen Anwohner*innen erhalten, um ihren Kampf weiterführen zu können. Seit der Pandemie und dem damit einhergehenden ständigen Gesundheitsrisiko ist das alltägliche Leben auch aufgrund verschiedener Ängste lahmgelegt. Die Besetzung der CNDH ruft in Erinnerung, dass diese Ängste jedoch nicht lähmen lassen darf. Denn sie bringt die Kämpfe, die Besetzungen von öffentlichen Orten und die Kraft und den Mut, den verschiedene feministische Kollektive in den letzten Jahren erlebt haben, zurück.

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