Festnahme mit Fragezeichen
Die Verhaftung von Mexikos mächtigstem Drogenboss lässt Raum für Spekulationen
Es war ein Tag im Winter 2007. Wie aus dem Nichts tauchten in der 11.000-Seelen-Gemeinde Canelas rund 200 Motorroller auf, besetzt mit schwarz gekleideten Personen. Bewaffnet mit Maschinenpistolen verteilten sich die Männer auf die Ortseingänge des nordmexikanischen Dorfes. Kleinflugzeuge brachten Musiker_innen, zwei Hubschrauber kontrollierten das Geschehen aus der Luft. Und dann kam er: „El Chapo“, „der Kleine“, wie ihn die Leute im „Goldenen Dreieck“ der nordmexikanischen Bundesstaaten Chihuahua, Durango und Sinaloa wegen seiner geringen Körpergröße nennen. Die Kalaschnikow geschultert, stieg er aus dem Flieger, um dem örtlichen Schönheitswettbewerb beizuwohnen. Die Party ging die ganze Nacht, seine Liebste wurde zur Dorfschönsten erklärt, und wenig später heiratete Joaquín Guzmán Loera, wie El Chapo mit bürgerlichem Namen heißt, die damals 18-jährige Emma Coronel.
Erst zwei Tage später erschienen in Canelas 150 Soldat_innen. El Chapo war längst über alle Berge. Wieder war der weltweit meistgesuchte Mafia-Boss schneller als die Armee. Über sechs Jahre nach der Fiesta von Canelas ging der 56-jährige Chef des Sinaloa-Kartells den Fahnder_innen nun ins Netz: Am 22. Februar wurde er gemeinsam mit Emma Coronel und ihren Zwillingen in der Hafenstadt Mazatlán verhaftet. Die Aktion dauerte nur ein paar Minuten, kein Schuss fiel. Sofort lobte Staatspräsident Enrique Peña Nieto von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden, US-Justizminister Eric Holder sprach von einem „wegweisenden Erfolg“. Von monatelanger Überwachung war die Rede, von Drohnen-Einsätzen, einem entscheidenden abgehörten Anruf und Aussagen zuvor verhafteter Kartellmitglieder.
Politiker_innen, Ermittler_innen und Medien zeichneten das Bild eines seit 13 Jahren gejagten Mannes, der nun endlich durch immensen Fahndungsaufwand gefasst werden konnte. Doch so unerreichbar, wie es erscheint, ist der Mafiaboss für die Behörden nicht gewesen. Guzmáns Stippvisite in Canelas mag spektakulär erscheinen, außergewöhnlich war sie nicht. Legendär sind seine Besuche im Gefängnis, um den Geburtstag eines einsitzenden Angehörigen zu feiern. Auch wenn „der Kleine“ in der unweit seines Geburtsorts Badiraguato gelegenen Landeshauptstadt Culiacán über ein umfangreiches Tunnelsystem verfügte, konnte weder mexikanischen noch US-Geheimdiensten entgangen sein, dass sich El Chapo häufig in seiner alten Heimat aufgehalten hat. Geschützt wurde er von Kleinbauern und
-bäuerinnen, über Taxifahrer_innen, bis zu Gouverneur_innen. Damit gab es aber auch genügend Mitwisser_innen. Hätten die US-Antidrogenbehörde DEA oder mexikanische Strafverfolger_innen Guzmán ergreifen wollen, wäre das möglich gewesen.
Es ist nicht auszuschließen, dass eine ausgeklügelte Fahndungsstrategie zur konkreten Festnahme des Mafiabosses geführt hat. Doch einem solchen Einsatz liegt eine strategische Entscheidung auf politischer oder geheimdienstlicher Ebene zugrunde. Es besteht kaum ein Zweifel, dass Chapos Organisation über gute Kontakte zu US-Beamt_innen und zur mexikanischen Regierung verfügt. „Das Sinaloa-Kartell ist vollkommen in den mexikanischen Staat integriert“, ist etwa die Mafia-Expertin und Buchautorin Anabel Hernández überzeugt. Auch DEA-Funktionäre bestätigen eine enge Kooperation. So erklärte der ehemalige Regionalleiter Mexiko der US-Behörde, David Gaddis, im Prozess gegen Vicente Zambada Niebla, den Sohn des zweiten Sinaloa-Chefs Ismael „El Mayo“ Zambada, er habe sich mit dem Angeklagten sowie weiteren hochrangigen Vertretern des Kartells getroffen. Dokumente des Verfahrens, das in Chicago stattfindet, bestätigen mindestens 50 solcher Treffen zwischen 2000 und 2012. Die US-Regierung habe davon gewusst. Das Ziel sei gewesen, Informationen über rivalisierende Kartelle zu erhalten.
Dieses Vorgehen ist nicht ungewöhnlich. Schon Ende der achtziger Jahre verbündeten sich US- und kolumbianische Agenten mit dem Cali-Kartell, um den Drogenbaron Pablo Escobar vom gegnerischen Medellín-Kartell zu bekämpfen. Ein ähnliches Kalkül vermuten Insider_innen auch hinter dem Krieg, den Mexikos damaliger Präsident Felipe Calderón 2006 den Kartellen erklärt hat. Dafür spreche, so meint der Sicherheitsexperte Edgardo Buscaglia, dass das Sinaloa-Kartell sehr glimpflich davongekommen sei, obwohl es der wichtigste Player im Drogengeschäft sei. „Es wickelt 46 Prozent der Exporte in die USA und nach Europa ab. Doch nur 1,8 Prozent der Verhafteten stammen aus dieser Organisation, von den Verurteilten sind es sogar nur 0,9 Prozent“, erklärte er 2011.
Auch Calderóns Vorgänger Vicente Fox stand unter dem Verdacht, Guzmán zu unterstützen. Er soll nachgeholfen haben, als der „der Kleine“ 2001 aus dem Gefängnis ausbrechen konnte, sagt der ehemalige Staatsanwalt für organisiertes Verbrechen Samuel González Ruiz. El Chapo habe damals angeboten, die Konkurrent_innen vom Tijuana-Kartell ans Messer zu liefern. Beim langjährigen DEA-Chef von El Paso, Phil Jordan, stieß die jetzige Verhaftung auf großes Unverständnis. El Chapo habe Millionen in den Wahlkampf des Staatschefs Peña Nieto investiert. Das bewiesen Akten des US-Geheimdienstes. Jordan: „Irgendwas ging da schief.“
Ob etwas und wenn was genau schief gegangen ist, wird so schnell niemand beantworten. Leichtfertige Verschwörungstheorien taugen angesichts der komplexen Bande zwischen Geheimdiensten, Mafia, Wirtschaft und Politik wenig. Setzen die Dienste auf ein anderes Kartell? Ist Guzmán einem internen Machtkampf zum Opfer gefallen? Wollte Peña Nieto nach seinen wirtschaftlichen Liberalisierungen ein Zeichen setzen, dass Investitionen in Mexiko sicher sind? Dass nach der Teilprivatisierung des staatlichen Erdölunternehmens Pemex auch sicherheitspolitisch der Weg geebnet ist?
Vermeintliche Erfolge im Kampf gegen die organisierte Kriminalität kommen dem Politiker der ehemaligen Staatspartei ebenfalls sehr gelegen. So kann sich der Staatschef vom Drogenkriegs-Desaster seines Vorgängers Calderón von der konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) abheben, der Zigtausende von Toten und Verschwundenen hinterlassen und die Kämpfe nur noch angeheizt hat. Wenige Wochen nach der Verhaftung Guzmáns vermeldete die Regierung Peña Nietos auch noch den Tod eines Kopfes des Kartells der „Tempelritter“ Nazario Moreno González – drei Jahre, nachdem er schon einmal für tot erklärt worden war. Auch diesen Schlag konnte der Staatschef als Ergebnis seiner Politik verkaufen: Der Mafia-Chef wurde mit Hilfe autonomer Selbstverteidigungskräfte hingerichtet, mit denen der PRI-Politiker kooperiert.
Allerdings darf man nicht erwarten, dass die Kartelle erheblich geschwächt aus den Schlägen hervorgehen und die illegalen Geschäfte große Einbußen verzeichnen werden. Da in Mexiko keine rechtsstaatlichen Verhältnisse herrschten, so der Sicherheitsexperte Buscaglia, führe die Verhaftung eines Kartellbosses kaum dazu, dass ein kriminelles Netzwerk aufgerollt werde. „Vergessen wir nicht, dass Sinaloa horizontal strukturiert ist und über tausende von Selbstständigen verfügt, die mit der Führung zusammenarbeiten“ Die Leitung könne einfach ersetzt werden. Ähnlich hatte es bereits El Mayo Zambada ausgedrückt. „Für gefangene, getötete oder ausgelieferte Capos (Bosse, Anm. d. Red.) stehen schon Ersatzleute bereit“, sagte der Mafia-Chef der Wochenzeitung Proceso im Jahr 2010. El Mayo gilt derzeit als Nachfolger von Guzmán.
Solange nicht die finanziellen Strukturen der Kartelle und die Korruption angegangen würden, werde sich nichts ändern, meint Buscaglia. Der Dichter Javier Sicilia, die Führungsfigur der mexikanischen Friedensbewegung, forderte, dass die Hintermänner in der politischen Klasse angegangen werden müssten. Nichts werde passieren, wenn nicht jene Kriminellen zur Rechenschaft gezogen würden, die all die Verbrechen zugelassen haben. „Calderón ist einer von ihnen“, betonte Sicilia, und Peña Nieto mache bislang dasselbe wie sein Vorgänger, nur effektiver.
Doch offensichtlich unterhält der neue Präsident in Sachen Kriminalität eine andere Beziehung zum nördlichen Nachbar als sein Vorgänger. Calderón lieferte allein im Jahr 2012 115 mutmaßliche Kriminelle aus, im ersten Amtsjahr Peña Nietos sank die Zahl auf 54. Möglicherweise sei auch El Chapo garantiert worden, dass er nicht ausgeliefert werde, mutmaßt Ex-DEA-Agent Héctor Berréllez und geht davon aus, dass die Verhaftung mit Guzmán abgesprochen war. Den größten Drogenhändler der Welt ergreife man schließlich nicht wie eine Ratte, meint er. Es müsse eine Vereinbarung gegeben haben. „Wenn nicht, wäre es zu heftigen Schießereien gekommen.“ Der ehemalige Geheimdienstler verweist darauf, dass El Chapo gewöhnlich immer von 200 Leibwächter_innen geschützt worden sei. Beréllez‘ Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen. Die US-Regierung hat bislang noch keinen Auslieferungsantrag gestellt, obwohl bei sieben Gerichten Klagen gegen Guzmán wegen Mord, Drogenhandel und weiteren Delikten vorliegen.
Auch Peña Nieto kann nicht daran gelegen sein, dass die Situation an dieser Frage eskaliert. Das wäre bei einer Auslieferung nicht auszuschließen. In Kolumbien hat der Versuch, Pablo Escobar auszuliefern, zu brutalen Angriffen seines Kartells geführt. Für Guzmán ist die Frage, ob er in die USA ausgeliefert wird, ebenso von entscheidender Bedeutung. Denn während ihm dort eine lange Haftzeit unter harten Bedingungen droht, muss er das mexikanische Gefängnis nur begrenzt fürchten. Vor seinem Ausbruch 2001 konnte er vom Hochsicherheitsgefängnis Puente Grande aus acht Jahre lang seine Geschäfte ungestört führen. Zudem feierte er wilde Partys, finanzierte die besten Köche und den teuersten Whiskey, lud Musikgruppen sowie Prostituierte ein und empfing seine beiden vorhergehenden Ehefrauen. Fast wie später in Canelas, als an jenen Wintertagen seine Emma zur Schönheitskönigen gekürt wurde.