Film | Nummer 356 - Februar 2004

Filme für Millionen

Ein Bericht vom 25. Lateinamerikanischen Filmfestival in Havanna

Auf dem diesjährigen lateinamerikanischen Filmfestival in Havanna haben besonders argentinische und brasilianische Produktionen Aufsehen erregt. Als Sieger ging der Stummfilm Havana Suite, der neun Menschen während eines Tages filmerisch begleitet, aus dem Festival hervor.

Lotte Arndt

Zum 25. Mal fand vom 2. bis 12. Dezember 2003 das lateinamerikanische Filmfestival in Havanna, Kuba statt. Unter der Leitung ihres langjährigen Präsidenten Alfredo Guevara zeigte das kubanische Filminstituts ICAIC insgesamt 45 lateinamerikanische Spielfilme, davon 24 Erstlingswerke. Zusätzlich wurden 33 Dokumentarfilme, einige Zeichentrickfilme und zahlreiche Kurzfilme den mehr als einer Million Zuschauern und der Jury präsentiert. Insbesondere drei Regisseure wurden gewürdigt: Der griechische Regisseur Costa-Gavras, der Venezolaner Román Chalbaud sowie der Franzose Jean Renoir. Neuere Werke des spanischen, deutschen und italienischen Kinos wurden in Länderfoki gezeigt.
Hoch war in diesem Jahr vor allem die Beteiligung Brasiliens und Argentiniens. Mexiko fiel hingegen nach den herausragenden Filmen des letzten Jahres mit kaum einer Produktion auf. Kuba trat mit vier Spielfilmen zum Wettbewerb an: Rigoberto Lopez Pegos Roble de Olor, Entre Ciclones, dem Erstlingswerk von Enrique Colina, sowie Aunque estés lejos von Juan Carlos Tabío.
Fernando Perez’ Stummfilm Suite Habana gewann den ersten Preis des Festivalwettbewerbs. Der Film ist irgendwo an der Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion angesiedelt. Und porträtiert Havanna am Beispiel von neun Bewohnern der Stadt. Ohne Dialog, nur mit Geräuschen und Musik, werden so neun verschiedene Geschichten erzählt.

Sinfonie einer Großstadt in den Tropen
Suite Habana erinnert im Stil an Sinfonie einer Großstadt. Im Gegensatz zu dem Klassiker aus Berlin sind in Perez’ Stummfilm die Menschen nicht nur das Gärmittel, das den Moloch Großstadt antreibt, sondern ihre Lebensbedingungen selber zeigen die Charakteristika der Stadt am Ende eines Krisenjahrzehnts. Neun Personen werden durch den Ablauf eines Tages verfolgt: Vom Aufstehen, der Arbeit als Arzt, als Schienenarbeiter, als Straßenverkäuferin, als Schüler. Von den Mahlzeiten, die beim einen spärlicher, beim anderen üppiger ausfallen, bis zu den Abendaktivitäten.
Es gelingt Perez, die widersprüchliche Schönheit der kubanischen Hauptstadt am Ende der periodo especial zu zeigen, die ineinander verwobenen Kontraste der verfallenden Stadt und ihrer morbiden Schönheit in Farben. Diese zeigt der Film manchmal intensiver als die Realität. Daher auch die Kritik, dass der Film die gesellschaftlichen Extreme Kubas ausspart und weder die größte Armut, noch den mehr oder minder versteckten, teils neuen Reichtum berücksichtigt.

Zweiter und dritter Preis: B-Happy und Kamchatka
Mit dem zweiten und dritten Preis prämiert wurden der chilenische Spielfilm B- Happy von Gonzalo Justiniano und Kamchatka von dem argentinischen Regisseur Marcelo Piñeyro.
B-Happy zeigt die Selbstbefreiung der jungen Kathy aus ihrem einfachen Leben und ihren Aufbruch auf der Suche nach dem Anderen, das recht unbestimmt bleibt. Manuela Martinelli wurde für ihre Darstellung der Kathy mit dem Preis für die beste weibliche Darstellerin ausgezeichnet.
Kamchatka, der aus der Perspektive des zehnjährigen Harry die letzten Monate vor Beginn der argentinischen Militärdiktatur 1976 erzählt, gewann zudem die Auszeichnung für das beste Drehbuch.

Neues aus Brasilien und Argentinien
Die beiden in der Publikumswertung hoch angesiedelten Carandiru (Brasilien, Regie: Hector Babenco) und Juego de Arcibel (Argentinien, Regie: Alberto Lecchi) erhielten bei der offiziellen Preisverleihung wenig Beachtung. Sie stachen aber thematisch und künstlerisch unter den recht vielen seichten Unterhaltungsfilmen des Festivals heraus. Juego de Arcibel erhielt immerhin den Preis der Universität Havanna. Der Film ist eine Metapher auf die lateinamerikanischen Diktaturen und die durch sie ausgeübte Repression. Ein Journalist wird für die Interpretation einer Schachpartie, in der er das Regime kritisiert, von der Zensurbehörde zu lebenslanger Haft verurteilt.

Revolte im Knast
Carandiru basiert auf dem Bestseller „Estação Carandiru“ von Drauzio Varella. In ihm beschreibt der Arzt Varella die Mechanismen des täglichen Überlebenskampfes in Lateinamerikas größtem Gefängnis. Carandiru in São Paulo ist völlig überbelegt: Ursprünglich für 3000 Gefangene konzipiert, beherbert es etwa 8000 Inhaftierte. Im Oktober 1992 kam es zu einer Revolte, das im größten Gefängnismassaker Brasiliens endete: 111 Gefangene wurden brutal von der Polizei hingerichtet.
Der Film kann als thematische Fortsetzung von Pixote gesehen werden, den Babenco 1980 drehte – ein klassischer Film über brasilianische Straßenkinder. „Die Kinder aus Pixote sind im Grunde die Erwachsenen Carandirus“, erklärte der Regisseur im Interview mit der Festivalzeitung.
Die Lebensbedingungen der Marginalisierten und die soziale Problematik in den übervölkerten Großstädten Brasiliens ist Thema weiterer Werke: Der prämierte Dokumentalfilm Bus 174 (Brasilien, Regie: José Padilha, Felipe Lacerda) etwa, der über eine Busentführung durch ein ehemaliges Straßenkind in Rio berichtet. Oder der stark kommerzialisierte Film Homem do ano (Brasilien, Regie: José Enrique Fonseca, siehe LN 344). Dieser zeichnet den Werdegang des unbedarften Mitzwanzigers Maiquel zum Auftragsmörder im Dienst der Reichen in Recife nach, bis die Stricke der Interessen der Wirtschaftspotentaten sich auch um seinen Hals immer enger zusammenziehen.
Carlos Diegues hingegen verfehlte mit seinem Dios es brasileño die Gelegenheit zur scharfen Sozialkritik, die der Plot geboten hätte. Erzählt wird die Geschichte eines Gottes, der erschöpft von den ständigen Verfehlungen der Menschen, Urlaub machen will. Auf der Suche nach einem Heiligen, der derweil seine Amtsgeschäfte erledigen soll, reist er mit sehr weltlichen Verkehrsmitteln durch das moderne Brasilien. Leider verharrt das Ganze in ausufernden, zum Teil inhaltsarmen Dialogen, flachen Witzen und schwülstiger Romantik.
In den Kategorien beste Kamera und bestes Erstlingswerk wurde Amarelo mango vom Brasilianer Claudio Assis ausgezeichnet. Der Film erzählt mit viel Neugier für die Abgründe des Alltäglichen die Illusionen, Abenteuer und kleinen Geschichten einiger Bewohner eines Viertels von Recife. Hingebungsvoll werden die emotionalen und sexuellen Extremsituationen, die die Personen in ihren öffentlichen Leben nicht zeigen, dokumentiert. Amarelo mango wurde von dem noch immer recht homophoben kubanischen Publikum teils entrüstet aufgenommen.

Rigoberto Lopez Pegos Roble de Olor
Das Debüt des Regisseurs Enrique Colina Entre Ciclones erzählt die kitschige Geschichte einer Liebe zwischen einem Deutschen und einer Haitianerin. Die beiden führen Mitte des 19. Jahrhunderts in Kuba eine sehr erfolgreiche Kaffeeplantage, auf der sie ihren Sklaven Religionsfreiheit gewähren und sie „menschlich“ behandeln. Dieses Projekt geht allerdings am Rassismus der Gesellschaft und dem wirtschaftlichen Neid des Generalkapitanats zu Grunde.

Argentinien und Mexiko: Prostitution und Diamanten
Eröffnet wurde das Festival mit dem Spielfilmdebüt des Argentiniers Alejandro Chomski Hoy y mañana. Dieses erzählt die Geschichte einer jungen, von Antonella Costa dargestellten Frau, die auch in den krisengeprägten Zeiten des heutigen Argentiniens zur recht gut gestellten Mittelschicht gehört. Auf Grund einer Reihe von Zufällen verliert sie ihren Job und hat keine Möglichkeiten, sich bei Freunden und Verwandten Geld zu leihen. So bedient sie sich der Prostitution, um ihre binnen 24 Stunden fällige Miete zu beschaffen.
In Hoy y mañana fällt die Entscheidung der Protagonistin, sich zu verkaufen, sehr schnell. Somit beschränkt sich der Hauptinhalt des Films fast ausschließlich auf eine detaillierte Erzählung der Prostitutionsgeschichte, ohne den Ursachen der Situation weiter nachzugehen.
Mexiko war nur mit sehr wenigen Beiträgen vertreten, landete aber mit Nicotina (Hugo Rodríguez) einen Publikumserfolg. Ästhetisch stark an Tarantino orientiert, zeigt der Film den Protagonisten Lolo, der sich eine verrauchte und verruchte Nacht bei der Jagd nach einigen Diamanten um die Ohren schlägt. Er hofft, durch die Edelsteine seine schöne Nachbarin erobern zu können, in die er sich wild verliebt hat.

25 Jahre Festival
Bemerkenswert an dem kubanischen Filmfestival ist nicht nur, dass es weiterhin die wichtigsten Leinwandproduktionen Lateinamerikas zeigt, sondern dass es wahrscheinlich das massenorientierteste Festival der Welt ist: In vielen Kinos des Landes, insbesondere in Havanna und seinen Vororten, werden in bis zu fünf Vorstellungen pro Tag dem Publikum zum normalen Kinopreis von zwei Pesos die Filme dargeboten. Es ist kein Festival, das unter Ausschluss der lokalen Öffentlichkeit die Kunsteliten vereint, sondern tatsächlich ein Ereignis, das breite Schichten der Bevölkerung anzieht.
Die Masse von knapp einer Million Zuschauern in den zehn Festivaltagen erklärt sich auch dadurch, dass die meisten Filme in dieser Zeit zum einzigen Mal auf der Insel zu sehen sind. Das Festival bietet also für viele die einzige Gelegenheit, ausländische Filme zu sehen.
Ein starker Antrieb für die Gründung des Festivals vor 25 Jahren war es, von der Filmindustrie Hollywoods unabhängige Produktions- und Distributionsmittel zu schaffen. Damit sollte der Untergang des lateinamerikanischen Kinos verhindert werden. Betrachtet man heute die Anzahl der Koproduktionen unter den Filmen, wird deutlich, dass gerade für die wirtschaftlichen Probleme dieses Projekts seit 1979 keine Lösung gefunden wurde: Viele der Produktionen sind auf die Kooperation mindestens eines europäischen Landes angewiesen. Mit dem Bewusstsein für diese prekäre Lage widmeten sich verschiedene Foren während des Festivals den künftigen Möglichkeiten einer stärkeren Südintegration der Produktionen, sowie einer verstärkten Kooperation mit europäischen, vor allem unabhängigen Filmproduzenten.

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