Brasilien | Nummer 227 - Mai 1993

“Gefährliche Klasse”

Straßenkinder in Brasilien

Das Thema Straßenkinder ist in aller Munde. Auflagenstarke Zeitungen nehmen sich der Sache mit Farbreportagen an. Nur selten findet man Informationen über die aktuellen politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge: Über das Engagement der ErzieherInnen, das neue Kinder- und Jugendschutzgesetz Brasiliens und Projekte von NGO’s in diesen Gefilden der Konfrontation und Gewalt auf der Straße – über all die Versuche, vor Ort zu intervenieren.

H.H., H.D. (Straßenkinderkomitee)

Brasilien wird manchmal in seiner Sozialstruktur mit einer Schweiz und zwei Bangladeshs verglichen. In der Zone des Aufpralls zwischen diesen beiden Lagern befinden sich die Kinder und Jugendlichen. Daher die vielen Toten, die Todeskommandos. In den letzten Jahren ist in dieser Zone des Aufpralls auch eine politische Bewegung entstanden, die – anders als zahlreiche NGO’s – die Kinder nicht von der Straße holen, sondern mit ihnen die politischen Bedingungen fürs Überleben erkämpfen will. Man kann sich darüber streiten, ob diese Bewegung der ErzieherInnen in Wirklichkeit nur die Funktion hat, die Konfrontation ein wenig abzumildern. Festzustellen ist, daß ihr Platz vor Ort massiv – ja mit dem Mittel der bewaffneten Gewalt – bekämpft wird, und zwar von den Hütern der alten Ordnung.
Das “Straßenkinderkomitee Brasilien” (Treffpunkt im FDCL) hat Anfang April 1993 Volmer do Nascimento, einen der Gründer dieser politischen Bewegung der ErzieherInnen und Straßenkinder (MNMMR) eingeladen. Im Kulturhaus Berlin Mitte hielt er am 2.4.1993 einen Vortrag, am nächsten Tag gab es eine Diskussionsrunde im kleineren Kreis. Wir fassen im folgenden den Bericht und die Diskussionen in einem Themenaufriß zusammen.

Volmer do Nascimento – zur Person

Volmer do Nascimento betätigte sich in den 70er und frühen 80er Jahren in den Gewerkschaften. Er war Mitglied der kommunistischen Partei (PCB) und wechselte, als diese 1982 verboten wurde, zum legalen Sammelbecken der demokratischen Opposition PMDB. Seit 1985 ist er Mitglied der Arbeiterpartei (PT).
1985 übernahm er leitende Funktionen in der staatlichen Behörde FUNABEM (Stiftung der Kinder- und Jugendwohlfahrt) und begann in Duque do Caxias, einem Stadtteil von Rio de Janeiro, seine Arbeit mit Straßenkindern. Diese Arbeit vor Ort organisierte die Kinderpastorale, eine kirchlichen Institution, die – von der Befreiungstheologie inspiriert – den direkten Weg zu Kindern und Jugendlichen gesucht hat. Als 1986 einige Straßenkinder, mit denen Volmer zusammengearbeitet hatte, verschwanden und umgebracht wurden, begann er mit Untersuchungen zu den Hintergründen der Morde.
Volmer do Nascimento gehört zu den Gründungsmitgliedern des Movimento Nacional de Meninos e Meninas da Rua (MNMMR), das seit 1985 besteht. Er hat seitdem zahlreiche Initiativen auf dem Feld des Kinder- und Jugendschutzes organisiert. Inzwischen ist er einer der international bekanntesten Verfechter der Rechte der Straßenkinder. In diesem Jahr sieht er sich besonderen Repressionen ausgesetzt, wie weiter unten ausgeführt wird.

ErzieherInnen und Straßenkinder organisieren sich

Gegen Ende der Militärdiktaturen in Südamerika erfuhren gerade die pädagogischen Bereiche eine Neubestimmung ihrer Aufgaben; es galt Erziehungsalternativen zum Autoritarismus zu entwerfen. Viele Gruppen von ErzieherInnen machten sich recht selbständig auf den Weg in die Favelas und auf die Straßen. Die Aufbruchstimmung in Brasilien entging den staatlichen und internationalen Einrichtungen nicht; sie versuchten, Impulse in diese Basisbewegungen hineinzutragen und die zahlreichen Gruppierungen durch koordinierte Förderung einzubinden.
UNICEF führte von 1983-85 zusammen mit dem Ministerium für Soziales auf Bundesstaatsebene (SAS) und der Stiftung für Kinder- und Jugendwohlfahrt (FUNABEM) ein Betreuungsprogramm für Straßenkinder durch, in dem partizipative Modelle der Erziehung erprobt werden sollten. Nach Auslaufen des UNICEF-Programms wurde auf einem nationalen Treffen die Gründung einer von Staat, Kirche und Parteien unabhängigen Organisation beschlossen. Auch inhaltlich wollte man sich stärker von sozialfürsorgerischen und paternalistischen Konzepten abgrenzen. Die politische Auseinandersetzung unter ErzieherInnen, SozialarbeiterInnen, Kindern und Jugendlichen stand im Vordergrund. So entstand 1985 das Movimento Nacional de Meninos e Meninas da Rua (MNMMR). Die innere Struktur dieser Bewegung ist basisdemokratisch angelegt. Es gibt regelmäßige Diskussionen auf der Straße, in der Schule und im Stadtteil. Dort werden Kinder von ihren AltersgenossInnen gewählt, um so die Vertretung auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene zu gewährleisten. Landesweit sind heute 3.000 ErzieherInnen dem MNMMR angeschlossen, und die Bewegung erreicht mehr als 80.000 Kinder und Jugendliche. Im Dezember 1992 hat in Brasilia der dritte Nationalkongreß des MNMMR mit 1.200 Kinder- und JugendvertreterInnen aus allen Landesteilen stattgefunden.
In der Selbstdarstellung des MNMMR wird betont, daß man “mit” statt “für” die Bevölkerung arbeite. Das kritische Bewußtsein solle gestärkt werden (nicht nur bei den Kindern und Jugendlichen!), um dadurch zu einem Wandel der ungerechten Strukturen der Gesellschaft zu gelangen. Die Identität auch der Straßenkinder solle respektiert und davon ausgehend ein Lebensentwurf dieser Gruppen gesucht werden. Die Arbeitssituation, in der sich die meisten Kinder und Jugendlichen Brasiliens befinden, solle zum Ausgangspunkt genommen werden, damit die Arbeitenden selbst zu den Akteuren der Veränderung werden könnten.

Demokratie und Todesschwadrone

Der Übergang von der Militärdiktatur zur Demokratie brachte in Brasilien nicht ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit. Die 80er Jahre bedeuteten auch für dieses Land eine Zunahme an Verarmung, Hunger und einen Rückgang der Löhne. Die sozialen Auseinandersetzungen haben sich verschärft. Noch nie wurden in Brasilien so viel Menschen auf dem Land wie in der Stadt durch staatliche und parastaatliche Repression umgebracht.
Die Doktrin der Militärdiktatur der 70er Jahre richtete sich mit Folter und Todesschwadronen gegen die politische Opposition. Seit Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre gibt die oberste Militärinstanz Brasiliens, die ESG, neue Richtlinien vor: In das Schußfeld geraten nun die “gefährlichen Klassen”, die Obdachlosen, die Plünderer, die Straßenkinder, die Homosexuellen und HIV-Positive. Nach dieser neuen, nach der “Sozialhygiene” ausgerichteten Doktrin soll die Armut durch die Vernichtung der Armen bekämpft werden. Diese Ideologie ist in den letzten Jahren in Brasilien durchaus gesellschaftsfähig geworden: Die neuen Todesschwadrone (escuadrôes de exterminio) werden nicht nur von Militär und Polizei gebildet. Auch Geschäftsleute, Richter und hohe Politiker erteilen “Exterminio”-Aufträge an private Sicherheitsdienste und Killerkommandos.
Nach einem parlamentarischen Untersuchungsbericht (1992) wurden in Brasilien zwischen 1987 und 1991 über 16.000 Kinder ermordet, 80% von ihnen Schwarze. Nach offiziellen Angaben werden in Brasilien täglich vier Kinder umgebracht, das MNMMR geht von täglich sieben bis acht Morden an Kindern aus. Während in Sâo Paulo die (Militär-)Polizei aktiv wird – von zehn Morden gehen nach Schätzungen sechs auf das Konto der Polizei – sind in Rio de Janeiro ganze Stadtviertel in der Hand von Todesschwadronen.
Parallel zu dieser Entwicklung der tausendfachen Morde formte sich der brasilianische Staat zu einer Verfassungsdemokratie um. Es gab eine sehr breite Diskussion um die einzelnen Artikel der Verfassung, die schließlich 1988 verabschiedet wurde und 1990 in Kraft trat. Auch das MNMMR beteiligte sich an der Ausarbeitung eines in der Verfassung verankerten Statuts der Kinder- und Jugendlichenrechte. Laut UNO hat Brasilien eines der fortschrittlichsten Kinder- und Jugendschutzgesetze.
Die Jugendrechtsreform hat in einigen Bereichen tatsächlich enorme Umbrüche ausgelöst. Die frühere Form der staatlichen Kinderfürsorge, die Kinderverwahranstalten, die eher Gefängnissen glichen, wurde weitgehend abgeschafft. Es gab keine Nachfolgeeinrichtungen. Von den Vorteilen des Gesetzes haben die Kinder und Jugendlichen allerdings bisher kaum etwas zu spüren bekommen. Die Auflösung von staatlichen Erziehungsanstalten, die Schließung von Heimen hat viele Kinder auf die Straße entlassen, so daß sich die Todesschwadrone mehr denn je berufen fühlen, Minderjährige zu foltern und umzubringen. Daß den Jugendlichen, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind, mehr Rechte eingeräumt werden als früher, sehen die Todeskommandos und ein Teil der (zivilen!) Gesellschaft als Provokation.
In anderen Bereichen hat die Jugendrechtsreform nichts verändert. Nach wie vor werden in wohl allen Gefängnissen und auf vielen Polizeistationen dauerhaft Kinder und Jguendliche festgehalten – illegal wie auch zuvor.
Nach dem Geist der Verfassung sollte an die Stelle der Kinderverwahranstalten eine ausdifferenzierte Form der Gesellschaftskontrolle treten. Auf kommunaler wie auf regionaler und nationaler Ebene wurden gewählte Gremien eingesetzt, die zur Hälfte aus staatlichen Vertretern und zur Hälfte aus der “Zivilen Gesellschaft” stammen. Im strafrechtlichen Bereich sollen Vormundschaftsräte erzieherische und disziplinarische Maßnahmen für straffällig gewordene Jugendliche beschließen können und ihre Durchführung überwachen. Diese Gremien und vor allem die Vormundschaftsräte sind unterdes auf viel Widerstand gestoßen. Vor allem Polizisten und Richter, die bisher über uneingeschränkte Kompetenzen verfügten, wollen die Beschneidung ihrer Macht nicht hinnehmen. In ihrer Befürchtung, daß “der Gesellschaft” zuviel Macht zugestanden wird, haben Politiker inzwischen über 150 Gesetzvorlagen zur stückweisen Abschaffung dieses Statut eingereicht. Wenn im Oktober 1993 über eine Verfassungrevision entschieden wird, befürchtet das MNMMR die gänzliche Abschaffung des Kinder- und Jugendschutzgesetzes.
Das MNMMR sieht zur Zeit einen wichtigen Kampf in der Durchsetzung und Verwirklichung des Statuts. Es sieht das Statut als Bestandteil einer demokratischen Gesellschaftsstruktur. In diesem Sinn mobilisiert die Bewegung nun die Kinder, damit diese ihre Rechte einklagen und damit die Regierung gezwungen wird, sich um die Belange der Kinder zu bemühen.

Repressalien gegen MNMMR

Die ErzieherInnen des MNMMR haben angefangen die Morde an den Kindern anzuprangern und die gesellschaftlichen Gruppen und Einzelpersonen zu benennen, die hinter den Todesschwadronen stehen, – so wurden die Namen von Geschäftsleuten, Richtern, Politikern und Polizeipräsidenten bekannt. Seitdem werden Personen des MNMMR verfolgt und bedroht. Volmer do Nascimento berichtete, daß von den sechzig Kindern, mit denen er in der Kinderpastorale in Duque de Caxias arbeitete, einundzwanzig Kinder in neunzehn Monaten umgebracht wurden, und zwar von den Escuadrôes de Exterminio, die im Auftrag von Geschäftsleuten handelten. Schließlich kamen auf starken Druck hin staatliche Ermittlungen in Gang. Es wurde festgestellt, daß die Zahl der ermordeten Kinder in Duque de Caxias noch weitaus höher lag. 147 Kinder waren laut dieser staatlichen Ermittlung allein in diesem Stadtteil und 427 Kinder in der Baixada Fluminense, also dem gesamten Bezirk, im gleichen Zeitraum (bis Juni 1988) umgebracht worden. Unterstützt von Amnesty International reichte das MNMMR eine Klage wegen dieser Morde ein. Obwohl die Namen der Mörder bekannt waren, wurde niemand festgenommen oder zur Rechenschaft gezogen.
Eine 500-seitige Untersuchung, die Volmer do Nascimento mit der Staatsanwältin Tania Moreira 1989/90 erarbeitete und 1991 vorlegte, versammelte eindeutige Beweise unter anderem gegen vier Richter aus Duque de Caxias. Einer der Anführer der Todeschwadrone war demnach ein Gerichtsdiener beim Amtsgericht dieses Stadtteils.
Zwei Richter strengten daraufhin einen Prozeß wegen Verleumduung und übler Nachrede gegen Volmer do Nascimento an. Sie verloren den Prozeß, weil Volmer Beweise in der Hand hatte, die aus den Büros der Richter entwendet worden waren, und die die Richter nicht zum Gegenstand des Verfahren machen wollten, weil sie sich damit allzu kompromittiert hätten. Der Justizminister Brasiliens mußte eingestehen, daß Luis Cesar Bittencourt, immerhin Präsident des Gerichtshofs von Rio de Janeiro, mit Hilfe des Richters Rubens Medeiros jahrelang Kriminellen Schutz gewährt hat.
Seitdem häuften sich Morddrohungen gegen Volmer. Anfang 1991 bekam er auf Anweisung des Präsidenten Brasiliens Polizeischutz, allerdings eher zu seiner Überwachung als zu seiner Sicherheit. Im April 1991, kurz nachdem dieser zweifelhafte Schutz unangekündigt eingestellt wurde, wurde Volmer für 43 Stunden von Unbekannten entführt und wieder freigelassen. Die Polizei ermittelte nicht wegen der Entführung, stattdessen erhielt Volmer seinen nächsten Prozeß. Nochmals klagten ihn Richter wegen Verleumdung und übler Nachrede an. Volmer hatte nicht ausgeschlossen, daß dieselben namentlich bekannten Hintermänner der Todesschwadrone auch hinter seiner Entführung gestanden hätten. Zudem wurde auf richterlichen Beschluß das Kinderhaus der Kinderpastorale in Duque de Caxias geschlossen, unter dem Vorwand, daß die Kinder dort zum Klebstoffschnüffeln animiert würden.
So wurde Volmer im November 1992 zu insgesamt sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Das Strafmaß übersteigt das für das Delikt vorgesehene Höchstmaß um fünf Jahre. Wahrscheinlich läuft im Mai 1993 die Revision des Prozesses. Falls das Urteil bestätigt wird, muß Volmer befürchten, daß er die Gefängnisstrafe antreten muß und das Gefängnis nicht lebend verlassen wird.

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