Brasilien | Nummer 485 - November 2014

Traum vom Guten Leben auf dem eigenen Land

Interview mit Sônia Bone Guajajara von der Koordination der Artikulation der Indigenen Völker Brasiliens APIB

Die LN sprachen mit Sônia Bone Guajajara kurz vor dem ersten Wahlgang der brasilianischen Präsidentschaftswahlen über die Situation und Aussichten der Indigenenbewegung in Brasilien.

Interview: Martin-Gregor Weise

Ende September erklärte die Präsidentin der Indigenenbehörde FUNAI, Maria Augusta Assirati, ihren Rücktritt. Wie schätzen Sie diesen Schritt ein?
Sônia Bone Guajajara: Der Rücktritt erfolgte, weil sie es leid war, die Anordnungen des Justizministers, Eduardo Cardozo, mittragen zu müssen. Die Regierung hat die Konsolidierung der Indigenengebiete nicht nur gestoppt, sondern die Gebiete sogar reduziert. Hinzu kommt die zunehmende Kriminalisierung der Anführer und der Gemeinden. Kürzlich fand die Weltkonferenz der Indigenen Völker in New York statt. Cardozo verteidigte mit übelsten Argumenten das vom Staat verhängte Ausreiseverbot für den Indigenenführer Marcos Xucuru zur Teilnahme an der Konferenz. Und Cardozo selbst präsentiert sich dann in New York als großer Verteidiger indigener Rechte und hat später sogar vorgeschlagen, zum ersten Mal einen Indigenen zum Präsidenten der FUNAI zu machen. Seine wirkliche Absicht dahinter ist klar: die Demoralisierung der Indigenen Völker. Mit einer schrottreifen, gebrochenen FUNAI, ohne jegliche Autonomie, hätte niemand von uns die Bedingungen, um eine andere Arbeit zu machen und so hetzt er die Völker gegen die Indigenen auf. Er zielt darauf, die Indigenenbewegung zu spalten, weil er genau weiß, dass die indigenen Organisationen niemals die Berufung eines Indigenen in das Amt akzeptieren würde, die das Justizministerium erzwungen hat. Dies würde unzählige Konflikte unter den Völkern und den Regionen hervorrufen. Ja, wir müssen kämpfen, um die Ämter zu besetzen, aber, noch wichtiger ist es, für die Garantie einer gestärkten, strukturierten, politisch autonomen und mit finanziellen Ressourcen ausgestatteten Behörde zu kämpfen, die den verschiedenen Realitäten Indigener Territorien gerecht wird, angefangen mit der Wiederaufnahme der Demarkationen.

Wie steht es aktuell um die Situation der Indigenenbewegung in Brasilien?
Die Indigenenbewegung, sei es als Volk, als Bewegung, als Kraft, ist immer bereit zu Widerstand, bereit, Kämpfe auszutragen, bereit, zu demonstrieren, aber auch für auch angemessene und konsequente Form von Politik zu sorgen, die der Realität unserer Völker gerecht werden. Wir sind untereinander nicht immer einer Meinung, aber die Verteidigung unserer Rechte vereint uns. Insbesondere in den letzten drei Jahren hat die Bewegung sehr viel an Kraft gewonnen, als wir uns mit dem Ziel zusammen taten, die territorialen Rechte zu verteidigen. Immer schon wurden unsere Rechte verletzt, aber in den letzten Jahren hat sich der Angriff auf die territorialen Rechte der indigenen Völker brutal verstärkt. Zwar hatte es besonders ab den 90er Jahren Fortschritte gegeben im Prozess der Demarkierung von Indigenengebieten, vor allem in Amazonien. Jetzt aber ist alles total paralysiert. Die Demarkierung von Land kommt nicht voran. Im Gegenteil: 60 Prozent der Anzahl der Indígena-Gebiete, die eigentlich reguliert und verbrieft werden müssten, sind es noch nicht. Die Schande derzeit hier in Brasilien ist, dass gar kein Land demarkiert wird. Das wird direkt vom Justizministerium bestimmt, das der FUNAI sogar verbot, irgendwelche öffentlichen Erklärungen oder Verordnungen zu Landdeklarationen zu unterschreiben. Und in dieser Frage ist die Indigenenbewegung geeint und verstärkt ihre Kämpfe sowohl in den Regionen wie auf nationaler Ebene, um dieses Recht auf Territorium zu garantieren.

Das Recht auf Territorium müsste eigentlich in Demarkation von Land münden.
Das Territorialrecht ist viel mehr als ein Verfassungsrecht. Es ist ein Recht auf Ursprung. Wir haben das Recht auf die traditionell genutzten Gebiete. Was die Regierung tun müsste, ist einfach, diese zu registrieren und zu veröffentlichen, was schon Indigenengebiet ist. Es ist kein Gefallen, um den wir bitten oder der uns gewährt wird. Aus diesem Grund versuchen die indigenen Völker, die Indigenenbewegung und wir, die APIB, in die verschiedenen Regionen und Indigenengebiete im ganzen Land zu gelangen, und unsere Leute über das Vorgehen der Regierung zu informieren, damit wir alle die Situation und die Notwendigkeit einer gemeinsamen Konfrontation mit dem Staat begreifen.

Mit welchen weiteren Herausforderungen haben die Indigenen zu kämpfen?
Die Herausforderungen sind immer sehr groß. Wir sagen, der wichtigste Kampf ist die Frage des Landrechts der Indigenengebiete und das war sie auch immer. Ausgehend davon diskutieren wir in der Folge alle anderen Diskussionen rund um Gesundheit, Erziehung, den Schutz der Territorien vor Invasionen und die umweltgerechte, territoriale Nutzung dieser Indigenengebiete.
Nichts ist einfach für uns. Immer ist alles verdammt schwierig. In der föderalen Verfassung werden Indigene als indigene Völker mit ihren eigenen sozialen Organisationsformen für jedes indigene Volk anerkannt. Der brasilianische Staat erlässt entsprechende Gesetze zu differenzierter Gesundheit und Erziehung, so wie wir sie praktizieren (entsprechend der indigenen lokalen Organisationsform, Anm. d. Übers). Aber in der Praxis werden diese nicht umgesetzt. Wir haben eine indigene Gesundheitspolitik, die nicht mit der Realität übereinstimmt, die die Nachfrage nicht bedient, die es nicht schafft, an der Basis anzukommen. Das Gesundheitssystem für Indigene ist eine Schande, weil es eine Situation von Hilflosigkeit und Vernachlässigung schafft. Wir können nicht verstehen, dass dieselbe Verwaltung sagt, dass Finanzen nicht das Problem sind. Aber sie schafft es nicht, für konkrete Schritte zu sorgen, um die prekäre Situation zu lösen. Es gibt nicht genügend Gesundheitspersonal unter Vertrag, um in die indigenen Dörfer zu gelangen, es gibt nicht die Struktur, um die existierende Diversität zu bedienen: Es ist eben nicht dasselbe, die indigene Gesundheitsfrage in Amazonien zu bedienen wie zum Beispiel die Gesundheit im Süden Brasilien oder im Nordosten.

Können Sie das weiter ausführen?
Jede und jeder hat seine und ihre Eigenheiten. Und die Gesundheitsbehörde für Indigene muss dem Rechnung tragen. Schon das ganze Gesundheitssystem in unserem Land bietet keine angemessene Versorgung, insbesondere fehlt es an Ausstattung, Personal und Professionalisierung. Und nun kommt hinzu, dass das Gesundheitsministerium zusammen mit dem Justiz-und Planungsministerium die Absicht bekundete, ein Institut für Indigene Gesundheit zu gründen. Nach unserem Verständnis aber bedeutet dieses Institut nicht mehr und nicht weniger als die Privatisierung des Gesundheitssystems für Indigene. Oder anders gesagt: all das Geld der Öffentlichen Hand, was jetzt schon nicht richtig eingesetzt wird, wird nun alles in den Rachen einer Privatfirma geworfen. Das ist nicht gut für uns. Wir kämpfen darum, dass der brasilianische Staat seine Verantwortung übernimmt. Er soll sich darauf vorbereiten und seine Mission erfüllen, mit der öffentlichen Gesundheit in die Gemeinden zu kommen – und nicht die Verantwortung an Dritte delegieren. Wir setzen immer noch auf die Notwendigkeit einer regionalisierten öffentlichen Ausschreibung von offenen staatlichen Arbeitsplätzen im Geseundheitssektor, damit wir in allen Regionen de facto Professionelle haben, die auch dort bleiben.

Was sind Ihre Ansichten über die Entwicklung der Indigenengebiete, die die Regierung verfolgt? Was sind Ihre Visionen?
Das Entwicklungsmodell in unserem Land ist zerstörerisch. Es ist nicht nur ausbeuterisch, es ist ein Modell der Zerstörung, ein Modell, das Personen vertreibt, das Gemeinden aus ihren Gebieten rauswirft. Es ist ein Modell, das nur auf Wirtschaftswachstum abzielt. Das ist nicht die Idee von Entwicklung, die wir uns immer vorstellen. Entwicklung bedeutet für uns, dass unsere Gebiete demarkiert und geschützt sind, und dass wir unsere Gebiete unter angemessene Bedingungen bewirtschaften.
Wir wollen mit unseren natürlichen Ressourcen, die sich in unseren Gebieten anfinden, arbeiten, ohne sie zu zerstören, und wir wollen die natürlichen Reichtümer nachhaltig nutzen, Einkommen schaffen und die Nahrungssicherung der Gemeinde sichern.

Können Sie dafür ein Beispiel geben?
Im Moment der Demarkierung sind Indigenengebiete oft komplett zerstörtes und degradiertes Land, das zuvor von einem fazendeiro (Landwirt; Anm d. Red) besetzt gewesen war. Die Indigenen etablieren dann ein Agroforst-System, mit Fruchtbäumen, Holzpflanzen und Medizinpflanzen. Auf diese Weise schaffen die Familien eine Umwelt im Gleichgewicht, eine wiederbewaldetes Land, sie schaffen Nahrungssicherheit, was das wichtigste für eine Gemeinde ist, und noch dazu schafft es Einkommen. So bekommen sie Produkte direkt von ihrem Land zum Essen, aber auch zum Verkauf.
Die Vorstellung von Entwicklung ist genau diese, dass jedes Volk und jede Familie jedes Indigenengebiet nutzen kann, und zwar mit der eigenen Lebensart. So wollen wir unser altes Ziel erreichen: das Gute Leben auf dem eigenen Land, ohne das Land verlassen zu müssen. Die Ausbeutung unserer Indigenengebiete akzeptieren wir nicht! Wenn man unsere mit den anderen Ländereien der öffentlichen Hand vergleicht, dann sind die Indigenengebiete bewiesenermaßen die am besten erhaltenen, auch wenn sie nicht die geschütztesten Gebiete sind, weil es keine effektive Politik zum Schutz der Territorien gibt. Aber, sie sind am besten erhalten.
Wir wollen, dass die Regierung, dass Brasilien unsere existierende Diversität versteht, die Eigenheiten respektiert und die Bedingungen dafür schafft, dass wir weiter auf unsere Weise leben können. Und ohne Landgarantie können wir diese Lebensart nicht reproduzieren.

Inwieweit beeinflussen die jetzigen Wahlen Ihren Kampf?
Das ist sehr kompliziert. Wir haben ein ziemlich abgewracktes und zurückgebliebenes politisches System. Der brasilianische Staat ist nicht darauf vorbereitet, der Bevölkerung zu dienen, weil jede Regierung, auch wenn sie aus der Linken kommt, nach der Wahl Bündnisse schließen muss. Man zwar einen Präsidenten wählen kann, der ein wenig die Vision hat, dem Volk zu dienen. Doch dann gibt es den Nationalkongress, der sich am Ende in seiner Mehrheit von anderen Interessen lenken lässt, die nicht unsere sind. Die größten Interessen in diesem Land sind die politischen Allianzen, die die Kontinuität der Politiker an der Macht garantieren. Die ökonomischen Allianzen garantieren die Mittel für die Unternehmer, für die großen Produzenten, für die Großfarmer. Und es gibt die Medien, die als starker Faktor immer das verkaufen, was im Interesse der ökonomischen und politischen Mächtigen ist. Diese Mächte stehen sehr im Gegensatz zu dem, was in unserem Interesse ist. So ist jeder Präsident nicht ausgenommen davon, diese Bündnisse zu schließen. Und das ist nicht gut für uns. So haben wir keine Perspektive auf einen Wechsel.

Sônia Bone Guajajara ist Mitglied der Koordination der Artikulation der Indigenen Völker Brasiliens (Articulação dos Povos Indígenas do Brasil – APIB), die die regionalen Indigenen-Organisationen auf bundesstaatlicher Ebene vertreten.

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