Haiti | Nummer 231/232 - Sept./Okt. 1993

Gelingt der Demokratisierungsprozeß?

“Heute riechen wir die Demokratie. Am 30.0ktober sollten wir sie schmecken.”Diese blumigen Worte fand der schwarze US-Bürgerrechtler ]esse ]ackson anläßlich der Vereidigung des neuen haitianischen Premierministers Robert Malval am 30. August in Washington. Tatsächlich scheint sich nach der Verabschiedung eines Zehn-Punkte-Plans im Juli einiges zu verändern: Der von Aristide ernannte Premier Malval wurde von Parlament und Senat bestätigt und hat mittlerweile auf Haiti ein neues Kabinett gebildet. Aristide selbst soll am 30. Oktober nach mehr als zweijährigem Zwangsexil auf die Insel zurückkehren. -Auf institutioneller Ebene kommt die Umsetzung des Demokratisierungsplanes also voran. Gleichzeitig ist die Zahl der Menschenrechtsverletzungen aber seit ]U 1i wieder gestiegen.

Bettina Bremme

Lange Zeit sah es so aus, als würde die internationale Solidarität mit Haitis demokratisch gewähltem Präsidenten Aristide sich durch vollmundige Bekundungen und halbherzige Taten auszeichnen. Das Wirtschaftsembargo gegen die Insel, welches die “Organisation Amerikanischer Staaten” (OAS) mit internationaler Billigung nach dem Putsch von General Cédras vom September 1991 verhängte, funktionierte äußerst lückenhaft. Betroffen war in erster Linie die arme Bevölkerung, während der Schmuggel von Luxusgütern und Waffen ziemlich ungehindert vonstatten ging. Das Einfrieren internationaler Kreditprogramme trieb die Inflation in die Höhe und den Staatshaushalt der armen Karibikinsel endgültig in den Ruin.
Wirtschaftliche Not und die Repression durch die Militärdiktatur trieben immer mehr Menschen dazu, Haiti in überfüllten Booten Richtung Nordamerika zu verlassen. US-Präsident Bush reagierte mit einer Seeblockade gegen die “boatpeople”, die sein Nachfolger Bill Clinton entgegen eigenen Wahlversprechen fortsetzte (siehe LN 225).
Der innenpolitische Druck, der in den Vereinigten Staaten angesichts der haitianischen Flüchtlinge entstand, war letztendlich wohl das entscheidende Motiv für die US-Regierung, auf eine Verschärfung der internationalen Sanktionen gegen das Militärregime zu drängen. Nachdem einige Vermittlungsinitiativen von UNO und OAS an der kategorischen Verweigerung der Militärs gescheitert waren (siehe LN 227), zwang erst die Verhängung eines 01-und Waffenembargos durch die UNO am 23. Juni Juntachef Cédras an den Verhandlungstisch.
Hinzu kam, daß die Situation auf Haiti sich im Juni aufgrund des Rücktritts von Premierminister Bazin weiter destabilisiert hatte. Der Zivilist, den die Militärs nach dem Putsch ernannt hatten, legte sein Amt anläßlich eines Streits mit der Junta um eine Kabinettsumbildung nieder. Tiefere Ursache für Bazins Schritt war sicher, daß es ihm nicht gelungen war, die wirtschaftliche Situation in den Griff zu bekommen und Haitis außenpolitische Isolierung zu durchbrechen. Gleichzeitig verstärkten sich auf Haiti die Aktivitäten der Opposition: Um der Forderung nach Aristides Rückkehr Nachdruck zu verleihen, riefen die Gewerkschaften am 24. Juni zu m Generalstreik auf, der in Port-au-Prince weitgehend ‘ befolgt wurde.

Beseitigung der Diktatur durch Verhandlungen?

Ende Juni begannen in New York unter internationaler Vermittlung indirekte Verhandlungen zwischen Aristide und seinen BeraterInnen mit einer Delegation des Militärregimes. Resultat der indirekten Diplomatie von UNO und oAS -die gegnerischen Parteien waren nicht bereit direkt miteinander zu sprechen -war ein Zehn-Punkte Plan, der am 17. Juli unterzeichnet wurde. Das Abkommen sieht die Rückkehr Haitis zur Demokratie binnen sechs Monaten unter Aufsicht von UNO und OAS vor. Kernpunkte sind die Ernennung eines Premiers durch Aristide und dessen Bestätigung durch Senat und Parlament, die Aufhebung des Embargos, die Neustrukturierung von Polizei und Armee und die Rückkehr Aristides zum 30. Oktober. Spätestens dann muß Juntaführer Raoul Cedras einem von Aristide ernannten Armeechef weichen. Gleich-zeitig beinhaltet der Zehn-Punkte-Plan eine Amnestie für alle am Putsch beteiligten Militärs.
Um mit der Verbesserung der katastrophalen wirtschaftlichen Verhältnisse zu beginnen, ist Haiti ein internationales Hilfspaket in Aussicht gestellt worden. So bieten die USA der Insel für den Rest dieses Jahres ungefähr 100 Millionen Dollar an. Laut Angaben des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen
NDP) benötigt Haiti in den nächsten 18 Monaten Hilfeleistungen von
mindestens 535 Millionen Dollar. Um den Demokratisierungsprozeß abzusichern, hat Aristide die UNO um die Entsendung eines Kontingents von 500 bis 600Polizeibeamtensowie 550 militärischen Fachleuten gebeten, die bei der Neustrukturierung von Armee und Polizei behilflich sein und auf die Einhaltung der Menschenrechte achten sollen.
– Am 10. August wurde als erster Schritt zur Umsetzung des Abkommens Firmin Jean-Louis von Aristides Nationaler Front für Wandel und Demokratie (FNCD) zum Senatspräsidenten gewählt. Kurze Zeit später bestätigten Senat und Parlament den von Aristide ernannten Robert Malval als Premier. Etliche Abgeordnete machten allerdings keinen Hehl daraus, dies nur in Hinblick auf ein Ende des Embargos zu tun. Dieses ließ dann erwartungsgemäß nicht lange auf sich warten: Nachdem die Vereinten Nationen am 26. August die Blockade aufgehoben hatten, lief bereits zwei Tage später der erste Öltanker in Port-au-Prince ein.
Sollte es also tatsächlich gelingen, eine Diktatur mit friedlichen Mitteln zur Abdankung zu zwingen -was in der Geschichte des amerikanischen Kontinents ein Novum wäre? Skeptische BeobachterInnen räumen ein, noch sei Aristide nicht nach Haiti zurückgekehrt. Es gibt sogar Stimmen, die meinen, durch die Aufhebung des Embargos sei ein wichtiger Trumpf zu früh aus der Hand gegeben worden. Entsprechend fordern Malval und Aristide, die internationalen Sanktionen sofort wieder in Kraft zu setzen, wenn sich abzeichnet, daß die Militärs den Demokratisierungsprozeß doch torpedieren wollen.
Der Druckereibesitzer Robert Malval ist für Aristide und seine AnhängerInnen ein Kompromißkandidat. Er entstammt der haitianischen Oberschicht, gilt politisch als moderat und ist auch im bürgerlichen Lager anerkannt. Malvals Hauptaufgabe wird darin bestehen, einen friedlichen Übergang zu gewährleisten und die Rückkehr des Präsidenten durch Verhandlungen mit allen Seiten abzusichern. Formale Schikanen bei seiner Bestätigung durch das Parlament haben bereits gezeigt, daß die Abgeordnetenmehrheit vorhat, Malvals Politik so weit wie möglich zu behindern. Im Senat verfügt er nur über die hauchdünne Mehrheit von einer Stimme. Weitere Stolpersteine wird sicher auch die mit Aristide-GegnerInnen durchsetzte staatliche Bürokratie für ihn bereithalten.

Amnestie für Putschisten

Dadurch, daß Aristide eine Amnestie für die Putschisten abgerungen wurde, bleiben diese als Macht- und Unsicherheitsfaktor präsent. Daran wird auch die vorgesehene Umstrukturierung der Armee kaum etwas ändern können. Daß die Militärs auf Haiti nicht daran denken, sich aus der Politik zu verabschieden, demonstriert besonders deutlich Juntachef Raoul Ckdras, der in letzter Zeit häufig in den Medien auftritt und nach seinem Rücktritt die Gründung einer Partei mit dem Namen “Sammlungsbewegung für ein neues Haiti (RPNH) plant.
Die Amnestie für die Putschisten erscheint besonders fatal angesichts der Tatsache, daß seit der Verabschiedung des Zehn-Punkte-Plans die Zahl der Menschenrechtsverletzungen durch Militärs und Todesschwadronen gestiegen ist -und dies trotz der Präsenz von mehr als 200 internationalen BeobachterInnen. Opfer sind in erster Linie BewohnerInnen der Armutsviertel, in denen Aristide besonderen Rückhalt hat. So wurden am 17. August in Pétionville der Pater Yvon Massac und zwei weitere Personen verhaftet, als sie in einer öffentlich angekündigten Aktion Fotos von Aristide und Transparente gegen die Repression plakatierten. Die Festnahmen fanden unter den Augen der internationalen BeobachterInnen statt. Deren Anwesenheit war allerdings sicher auch zu verdanken, daß die Fest-genommenen 72 Stunden später wieder freikamen.
Zur Zeit ist die Unterstützung der Bevölkerung für Aristide sehr stark: Laut BeobachterInnen könnte er, wenn auf Haiti zum jetzigen Zeitpunkt gewählt würde, mit einer überwältigenden Stimmenmehrheit rechnen. Gleichzeitig knüpfen seine AnhängerInnen an Aristides Rückkehr Erwartungen, die dieser in den verbleibenden zwei Jahren Amtszeit auf keinen Fall erfüllen kann. Die Zeit wird nicht reichen, um die Politik zu demokratisieren und die katastrophale Wirtschaftssituation entscheidend zu verbessern -von sozialen Umstrukturierungen ganz zu schweigen. Das, was durch den Zehn-Punkte Plan eingeleitet wurde, sind lediglich Übergangsmaßnahmen. Viel wird davon abhängen, ob die versprochene Hilfe aus dem Ausland tatsächlich fließt oder ob der Präsident, dessen soziale Reformbestrebungen vielen ein Dom im Auge sind, nach Abschluß der formalen Demokratisierung international hängengelassen wird.

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