Chile | Nummer 332 - Februar 2002

Große Überraschung im Minister-Roulette

Nach den Wahlen strebt der Senat nun endlich eine Verfassungsreform an

Die chilenischen Parlamentswahlen vom Dezember haben mehr bewegt als die Zahlen auf den ersten Blick vermuten lassen. Zwar hat die Concertación noch immer die Mehrheit im Parlament, doch die Rechte konnte kräftig aufholen. Folge waren diverse Umbesetzungen im Kabinett Lagos. Die größte Überraschung ist die Ernennung einer Frau als Verteidigungsministerin. Das nächste große Projekt ist nun eine Reform der maßgeblich von Militärs geschriebenen Verfassung von 1980.

Sandra Grüninger

Der Demokratisierungs-Bonus für die Mitte-Links-Parteien ist aufgebraucht. Nach den Parlamentswahlen vom 16. Dezember 2001 stehen sich die zwei großen chilenischen Parteiblöcke, die regierende Concertación aus Christdemokraten (DC), Sozialisten (PS), Demokraten (PPD) und Radikalen sowie die aus den rechten Parteien Unión Democratica Independiente (UDI) und Renovación Nacional (RN) gebildete Allianz für Chile (Alianza por Chile) praktisch gleichberechtigt gegenüber. Der Vorsprung der Concertación ist um 3,6 Prozent auf 44,3 Prozent geschrumpft, wobei vor allem die Christdemokraten als stärkster Partner im Regierungsbündnis herbe Verluste hinnehmen mussten. Sie verloren 4 Prozent und 14 Abgeordnete.
Die pinochetnahe UDI hat sich als stärkste Partei etabliert, indem sie mit 25 Prozent ihr Ergebnis bei den letzten Parlamentswahlen von 1997 fast verdoppelt hat. Unter der Führung ihres Präsidentschaftskandidaten Joaquín Lavín hat sie einen neuen Politikstil eingeführt: medienwirksamer und populistischer Aktionismus, vertreten durch junge und unverbrauchte Amtsträger und Volksvertreter.
Ein Trend, den der chilenische Präsident und Sozialist Ricardo Lagos nach den Wahlen durch Kabinettumwandlung und landesweite Erneuerung der lokalen Autoritäten auch für das Regierungsbündnis Concertación einführen möchte. Noch während sich der christdemokratische Koalitionspartner mühsam von seiner Niederlage erholte, erneuerte Lagos überraschend und im Alleingang zehn der 13 Provinz- und Regions-Regierungen. Während dabei der Repräsentationsanteil der verschiedenen Parteien des Regierungsbündnisses weitgehend gleich blieb, wurde das Durchschnittsalter der Regierungsvertreter um durchschnittlich 14 Jahre gesenkt. Ein Schlag ins Gesicht für die Christdemokraten, die erst im letzten Moment informiert worden waren. Vor allem die Führungsposition des Parteichefs und ehemaligen Präsidenten Patricio Aylwin wurde wenige Wochen vor dem Parteikongress der Christdemokraten empfindlich geschwächt.

Machtkämpfe in der Koalition

Mit dem Ende des Wahlkampfes sind in beiden Parteiblöcken alte Machtkämpfe wieder aufgebrochen, die bis zum Wahltag mehr oder weniger erfolgreich unterdrückt worden waren.
Die Christdemokraten befinden sich nach der Wahlniederlage, die wichtige Partei-Figuren geschwächt hat, in einem Umstrukturierungsprozess. Parteichef Patricio Aylwin hat bereits angekündigt, sein Amt abzugeben, ebenso wie der ehemalige Präsident Eduardo Frei. Im Rahmen des Führungswechsels wird auch die Loyalität zum Regierungsbündnis neu definiert. Beste Chancen, den Parteivorsitz zu übernehmen, hat der Senator Adolfo Zaldivar, der als konsequenter Kritiker der Lagos-Politik am besten die allgemeine Unzufriedenheit seiner Partei innerhalb des Regierungsbündnisses auszudrücken vermag.
Interner Gegenkandidat ist der Senator Jorge Pizarro, der – im Gegensatz zu Zaldivar – enge Freundschaften mit PPD- und PS- Ministern pflegt. Kurzfristig hat sich nun auch noch der in den Parlamentswahlen gescheiterte Kongress-Abgeordnete Ignacio Walker ins Rennen gebracht, um einen „Generationswechsel“ innerhalb der Partei zu erreichen. Walker wird unter anderem von Frei unterstützt.
In den Händen dieser neuen Führungsrige wird es liegen, die geschwächte Partei in Richtung Präsidentschaftswahlen im Jahr 2005 zu führen. Die Concertación muss dem ungeschwächten Oppositions-Kandidaten Joaquín Lavín einen Kandidaten entgegen setzen, der das Vertrauen der Wähler, aber auch des Viel-Parteien-Bündnisses genießt. Nach der Präsidentschaft des Sozialisten Ricardo Lagos schien es klar, dass der nächste Präsidentschaftskandidat wieder aus den Reihen der Christdemokraten, als stärkster Partei innerhalb des Bündnisses, stammen wird. Doch die jüngsten Wahlergebnisse haben dieses Kräfteverhältnis in Frage gestellt.
Sozialisten und Radikale haben sich zu einer Fraktion zusammengetan und schließen auch eine gemeinsame Parteigründung nicht aus, um einen Schulterschluss gegen die unter Guido Girardi erstarkte PPD zu bilden. Diese konnte die Zahl ihrer Abgeordneten in den letzten 12 Jahren auf 21 verdreifachen und bildet nach der Niederlage der Christdemokraten zusammen mit Sozialisten und Radikalen die progressiv ausgerichtet Hauptachse der Concertación.
Macht- und Verteilungskämpfe spiegelt auch die Umgestaltung des Kabinetts nach den Parlamentswahlen wider, bei der Innenminister Miguel Insulza (PS) und Finanzminister Nicolás Eyzaguirre (PPD) ihre Position stärken konnten. Die dem Präsidenten Lagos nahe stehenden Präsidentensprecher Álvaro García (PPD) und Regierungssprecher Claudio Huepe (DC) fielen den parteipolitischen Verhandlungen zum Opfer. Der Staatssekretär im Außenministerium, Heraldo Muñoz (PPD), bisher Verantwortlicher für die erfolgreich verlaufenden Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten über ein Freihandelsabkommen, wurde zum neuen Regierungssprecher ernannt, nachdem er eigentlich das Verteidigungsministerium hätte übernehmen sollen. Damit wäre die PPD aber nicht im engeren politischen Team vertreten gewesen und hatte deshalb mit Austritt aus der Regierungskoalition gedroht. Der PPD ist es also gelungen, ihre Partei in der engen Ministerrunde zu halten, ebenso wie die Christdemokraten.
Präsidentensprecher wurde der Christdemokrat Mario Fernandez. Er war bisher Verteidigungsminister. Seine neue Aufgabe wird es vor allem sein, die Beziehungen zwischen dem Präsidenten und dem Koalitionspartner der Christdemokraten zu verbessern.
Die größte Überraschung in diesem Minister-Roulette ist die Neubesetzung des Amts des Verteidigungsministers mit der bisherigen Gesundheitsministerin Michelle Bachelet (PS). Bachelet hat sich nicht nur durch eine effiziente Handhabe der Gesundheitspolitik ausgezeichnet, sie hat auch die Reform des öffentlichen Gesundheitswesen vorangetrieben. Nun ist die 48-jährige Kinderärztin mit Zusatzausbildung in Verteidigungsangelegenheiten die erste Verteidigungsministerin in ganz Südamerika. Und in Chile ist damit zum ersten Mal seit 30 Jahren die sozialistische Partei an der Spitze des Verteidigungsministeriums. Der Amtsantritt von Bachelet ist auch besonders symbolträchtig, weil ihr Vater, General Alberto Bachelet, nach dem Pinochet-Putsch von seinen uniformierten Kameraden wegen Vaterlandsverrat verhaftet und 1974 an den Folgen der Folter im Gefängnis gestorben ist. „Mein Vater wäre stolz auf mich gewesen”, kommentierte die Ministerin ihre Ernennung.
An der Spitze des Gesundheitsministeriums steht nun der medienerfahrene Arzt und Sozialist Osvaldo Artaza, der mit der Gesundheitsrefom die Modernisierung des Gesundheitswesen vorantreiben soll.

Die Nachdiktatursgeneration im Vormarsch

Klar definiert sind die Machtverhältnisse nach den Wahlen innerhalb der rechten Alianza por Chile. Unbestrittener Präsidentschaftskandidat ist Joaquín Lavín (UDI), der 2000 in einer Stichwahl nur knapp gegen Ricardo Lagos die Präsidentschaftswahlen verloren hat. Vor seiner Kandidatur erfolgreicher Bürgermeister des reichen santiagoer Bezirkes Las Condes, wurde er im Jahr 2000 mit Zweidrittelmehrheit zum Bürgermeister Santiagos, der wichtigsten Stadtverwaltung des Landes, gewählt. Aus dieser Stellung heraus poliert er sein Image des pragmatischen Populisten und hält sich, so gut es geht, aus jeglichem parteipolitischen Zwist heraus. Seine kommunalpolitischen Neuerungen reichen von der Umwandlung öffentlicher Zierbrunnen in Kinderplanschbecken über die Einrichtung von Zelten zur Notversorgung von Smogopfern mit schweren Atemwegserkrankungen im Winter bis hin zur Finanzierung des verschuldeten Stadttheaters mit öffentlichen Geldern. Parteipolitisches Gesicht der UDI ist Parteichef Pablo Longueira, der die parteiinternen Verhandlungen und Auseinandersetzungen regelt, während der Präsidentschaftskandidat lächelnd Einheit und Fortschritt predigt. Der 47-jährige Longueira gehört der neuen UDI-Nachdiktatursgeneration an, die in den 80er Jahren von Jaime Guzmán, dem wichtigsten Ideologen der Pinochet-Diktatur instruiert worden waren. Guzmán, der 1991 ermordet wurde, hatte über die Verfassung von 1980 den Machterhalt pinochetistischer Politik über das Ende der Diktatur hinaus gesichert. Zu dieser Strategie gehörte die Festschreibung von Ex-Diktator Augusto Pinochet als oberster Befehlshaber der Streitkräfte für zehn Jahre ebenso wie die Gründung der UDI 1988, als „demokratische Verlängerung” der Diktatur im Rahmen der künftigen Wahlen.
Viele der heutigen Abgeordneten und Bürgermeister stammen aus dieser Generation, sind um die 30 Jahre alt und damit faktisch frei von jeglicher Komplizenschaft mit Diktatur und Repression. Diese Nachdiktaturs-Generation repräsentiert auch Lavín, der die Gräueltaten der Vergangenheit nicht leugnet, aber auch nicht bestraft, sondern ein optimistisches In-die-Zukunft-Blicken predigt.
Koalitionspartner der UDI und notwendiger Stimmenbeschaffer für Joaquín Lavín ist die Renovación Nacional (RN), die es nach Jahren der Krise auch in diesen Parlamentswahlen nicht geschafft hat, neben der politisch weiter rechts stehenden UDI ein eigenes Profil aufzubauen, und Stimmenverluste von 3 Prozent hinnehmen musste.

Das große Projekt: die Reform der Verfassung

Eine der ersten Amtshandlungen des neuen Senats wird es sein, über die überfällige Reform zur Demokratisierung der Verfassung von 1980 abzustimmen. Da Verfassungsänderungen nur über eine Fünfsiebtelmehrheit im Senat möglich sind und bereits drei Änderungsversuche (1992, 1995 und 1997) gescheitert sind, wird das Reformpaket seit zwei Jahren in einer Senatskommission verhandelt. Hauptsächlich geht es dabei um die Abschaffung oder zumindest Modifizierung des binominalen Wahlsystems, die Eliminierung der auf Lebenszeit ernannten Senatoren, die ein Drittel des Senats ausmachen, mehr Macht für den Präsidenten bei der Ernennung und Absetzung des Obersten Befehlshabers der Streitkräfte und die Rolle des Nationalen Sicherheitsrats. Modifizierung des binominalen Wahlsystems bedeutet, dass sich der landesweite prozentuale Stimmenanteil für eine Partei besser in der Vertretung im Parlament widerspiegeln soll. Das bisherige Wahlrecht ist wenig proportional, so dass ein starker Kandidat sogar seinen Listenkollegen mit ins Parlament „nachziehen“ kann, wenn die Liste, also beide Kandidaten zusammen, mehr als doppelt so viele Stimmen zusammenbekommen wie die gegnerische Liste. Das heisst, der „nachgezogene“ Kandidat kommt häufig mit sehr viel weniger Stimmen ins Parlament als der beste Kandidat der Gegenpartei, der auf Grund der „Verdopplungs-Regelung“ außen vor bleibt.
Die Rolle der Streitkräfte soll insofern modifiziert werden, als sie nicht mehr „Garanten der Verfassung” sein sollen. Die Polizei soll dem Innenministerium und nicht mehr dem Verteidigungsministerium unterstellt sein. Der Staatspräsident soll weiterhin die Kommandanten von Armee, Luftwaffe und Marine sowie den Polizeichef unter den fünf Ranghöchsten ernennen, allerdings soll der Präsident diese künftig auch ohne Zustimmung des Nationalen Sicherheitsrates absetzen können, was bisher jedoch zwischen Regierung und Oppostion umstritten ist. Die Rolle des Nationalen Sicherheitsrats soll sich auf eine Beraterfunktion des Präsidenten beschränken und den Parlamentspräsidenten als zusätzliches Mitglied aufnehmen, damit künftig Zivile in dem bisher militärisch dominierten Gremium die Mehrheit haben werden.
Weitgehende Einigkeit besteht zwischen Opposition und Regierung auch über die Abschaffung der auf Lebenszeit ernannten Senatoren, sowie über die Verkürzung der Amtszeit des Staatspräsidenten von sechs auf vier Jahre, die momentan im Kongress unabhängig vom Reformpaket diskutiert wird. Der Senat in seiner bisherigen Zusammensetzung hat in einem ersten Schritt die Debatte und Abstimmung über die Verfassungsreformen beschlossen. Dies wird nach den Sommerferien im neuen Senat stattfinden. Ein genauer Termin steht noch nicht fest und hängt vom Fortschritt der Verhandlungen ab.

KASTEN

Fakten und Zahlen

Am 16. Dezember 2001 wurden in Chile die 120 Sitze des Abgeordnetenhaus und Teile des Senates neu gewählt. Zwar stellte die regierende Koalition (Concertación) aus Christdemokraten, Sozialisten, Demokraten und Radikalen mit einem Stimmenanteil von gut 48 Prozent nach wie vor den größten Block bei der Abgeordnetenhauswahl, aber die rechte Alianza por Chile konnte ihren Anteil von 36 Prozent auf knapp über 44 Prozent steigern. Ebenso wie bei den Kommunalwahlen ist es der Alianza por Chile bei den Parlamentswahlen gelungen, durch geschickte Strategie das binominale Wahlsystem (siehe Artikel) für ihre Zwecke auszunutzen. So konnten sie die absolute Mehrheit der Concertación in sieben Bezirken aufbrechen. Sie ist jetzt mit 57 Abgeordneten (vorher 46) im Parlament vertreten. Die Concertación stellt 62 Abgeordnete. Dabei haben vor allem die Christdemokraten herausragende Figuren wie Enrique Krauss, Maria Rozas, Andres Palma und Tomas Jocely-Holt verloren.
Das Abgeordnetenhaus setzt sich folgendermaßen zusammen: 24 christdemokratische Abgeordnete, 22 aus der PPD, 11 Sozialisten und 5 Radikale für die Concertación. Für die Alianza por Chile stellt die Renovación Nacional 22 Abgeordnete und die UDI 35. Die Kommunisten verloren gegenüber 1997 zwei Prozent und sind mit 5,2 Prozent nicht im Kongress vertreten, konnten aber dank der Überschreitung der 5 Prozent-Hürde ihre Legalität bewahren. Wer bei Wahlen weniger als 5 Prozent erreicht, verliert seinen Status als anerkannte Partei. Dieser kann nur durch eine Sammlung von mehreren Zehntausend Unterschriften wiederhergestellt werden. Der Partei-Status für die Kommunisten ist in diesem Jahr besonders wichtig, da die Entschädigungszahlen für die Enteignungen während der Dikatur anstehen, und diese nur anerkannten Parteien zustehen.
Die Wahlenthaltung lag mit über 13 Prozent so hoch wie noch nie nach dem Ende der Diktatur 1989. Im Senat ist das Mehrheitsverhältnis 20 zu 18, dazu kommen die ernannten und die lebenslangen Ehren-Senatoren.


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