Großunternehmen statt kleinbäuerlicher Betriebe
Die staatliche Förderung der Agrarindustrie in Kolumbien gefährdet das Kleinbauerntum
Bislang war die Altillanura, eine Tiefebene im Osten Kolumbiens, eine relativ verschlafene Ecke des Landes. Doch immer mehr Agrarinvestor_innen zieht es in die Region, was zu einem regelrechten Boom der Altillanura geführt hat:. Sie verfügt nicht nur über Erdölvorkommen, sondern auch über wertvolles Ackerland. Nahezu 70.000 km² Fläche (etwa die Größe Bayerns) stehen hier für die Landwirtschaft zur Verfügung. Und da das Land nicht bewaldet ist, muss man es nicht roden, freuen sich die Investor_innen.
Die kolumbianische Regierung hat es sich zum Ziel gemacht, die Tiefebene wirtschaftlich zu erschließen und so das nationale Wachstum anzukurbeln. Bereits im Dezember 2011 fand in Puerto Gaitan, einer Kleinstadt im Zentrum der Altillanura das „Forum für die Entwicklung der Altillanura“ statt. Staatspräsident Juan Manuel Santos nahm persönlich daran teil. Nicht nur der Lärm des Präsidentenhelikopters riss das Städtchen aus seinem Tiefschlaf, die ganze Regierungspolitik Kolumbiens ist darauf ausgerichtet, dass die Altillanura nicht so bleibt, wie sie ist.
Die wirtschaftliche Förderung durch die kolumbianische Regierung verdeutlicht auf anschauliche Weise wie umfassend die staatliche Unterstützung der Agrarindustrie in Kolumbien ist. Carlos Alberto Suescún, Wirtschaftswissenschaftler der Universidad Nacional de Colombia sowie Berater der oppositionellen Partei Pólo Democrático, sagt hierzu: „Für mich ist das ‚Business-Diplomatie‘. Die persönliche Teilnahme des Präsidenten an internationalen Konferenzen, auf welchen die Investition im Land gefördert werden, zeigt, wie stark die Politik der Regierung auf die Agrarindustrie ausgerichtet ist.“
Seit Langem gilt der kolumbianischen Regierung die brasilianische Cerrado-Region als Vorbild. Diese wird mittlerweile als Motor der brasilianischen Agrarindustrie bezeichnet. Beide Regionen, Altillanura und Cerrado, sind Savannenlandschaften mit ähnlichen Ausgangsbedingungen: Ihre Böden waren ursprünglich arm an Nährstoffen und somit ungeeignet zur landwirtschaftlichen Bestellung. Durch massive staatliche Förderung und durch technologische Entwicklungen des brasilianischen Agrarforschungsinstitut EMBRAPA ist es gelungen, der Cerrado-Region wirtschaftlichen Wert zu verleihen. Inzwischen ist die typische Feuchtsavanne des Cerrados nahezu völlig verschwunden und riesigen Soja-, Baumwoll- und Maisfeldern gewichen.
Diese Entwicklung würde Kolumbien gerne nachahmen. Hierbei nimmt die Regierung negative Folgen wie Vertreibung, Mord an Indigenen und Umweltzerstörung wie sie im Cerrado aufgetreten sind, in Kauf. Die landwirtschaftliche Nutzfläche Kolumbiens hat im Verlauf des bewaffneten Konfliktes und der damit verbundenen Vertreibung stark abgenommen. Die Aussicht, die derzeitige landwirtschaftliche Nutzfläche um vier Millionen Hektar auszudehnen und somit zu verdoppeln, hat die kolumbianische Regierung daher veranlasst eine Kooperation mit EMBRAPA einzugehen.
Dieses Regierungsvorhaben geht mit einer nationalen Agrar- und Landpolitik einher, welche nationalen und internationalen Investoren positiv gegenüber steht und die Gefahr einer zunehmenden Konzentration von Landbesitz in Kauf nimmt. Der Nationale Entwicklungsplan (2010 bis 2014) mit dem Titel „Wohlstand für alle“ bringt klar zum Ausdruck: Das übergeordnete Ziel des wirtschaftlichen Wachstums soll durch fünf so genannte „Lokomotiven“ erreicht werden (siehe LN 439). Neben Bergbau, Wohnungsbau, Infrastruktur und Innovation stellt die Landwirtschaft eine dieser „Lokomotiven“ dar. Damit die kolumbianische Landwirtschaft ihr Wachstumspotential vollständig entfalten kann, soll dem Entwicklungsplan nach ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessert werden. Die Regierung spricht selber von der „Kapitalisierung des ländlichen Sektors“.
„Diese so genannte ‚Unternehmisierung‘ des ländlichen Raumes bekräftigt, dass das Land an den produktiven Sektor übergeben werden soll, da die kleinbäuerliche Wirtschaft keinen Profit erwirtschaftet. Das Finanzkapital ist daher der zentrale Akteur im Agrarbusiness“, sagt Paula Álvarez von der kolumbianischen NRO Grupo Semillas. Seit der Präsidentschaft Álvaro Uribes (2002 bis 2010) beobachtet sie mit Besorgnis die zunehmende agrarindustrielle Ausrichtung der Regierung bei gleichzeitiger Schwächung des Kleinbauerntums. Dabei leisten gerade die kleinen landwirtschaftlichen Betriebe den wesentlichen Beitrag zur Ernährungssouveränität und produzieren bis heute den Großteil der in Kolumbien konsumierten Lebensmittel.
„Die Auffassung, dass man mit der Entwicklung des ländlichen Raumes wie mit einem Unternehmen umgehen muss, können wir an den umfassenden Anreizen für agrarindustrielle Projekte wie zum Beispiel der Zollderegulierung erkennen“, beschreibt Paula Álvarez die aktuelle Situation weiter und fügt hinzu: „Die industrielle Landwirtschaft wird auf diese Weise immer mehr zur einzigen Produktionsweise auf dem Land, was zur Auflösung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft führt.“
Hierzu wird auch das Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union beitragen, das bereits im Juni 2013 in Kraft treten könnte. Es sieht unter anderem vor, die Einfuhrzölle auf 90 Prozent aller landwirtschaftlichen Produkte aus der EU abzuschaffen. Vor allem die Milchbäuerinnen und -bauern werden hiervon betroffen sein, das Abkommen ermöglicht nämlich die zollfreie Einfuhr von 60 Millionen Litern Milch, zum Beispiel in Form von Milchpulver. Kolumbianische Kleinbäuerinnen und -bauern, die zumeist nur eine Handvoll Kühe besitzen, werden mit der subventionierten Milch aus Europa nicht konkurrieren können.
Um die Wettbewerbsfähigkeit der kolumbianischen Kleinbäuerinnen und -bauern zu verbessern, will die Regierung in Bogotá, dass sie mit großen Unternehmen kooperieren. Die Kleinproduzent_innen sollen sich in „Produktiven Allianzen“ den großen agrarindustriellen Unternehmen anschließen: „In diesen Allianzen sind es die Kleinbauern, die ihr Land und ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen. Die großen Unternehmer sichern sich so ein permanentes Angebot an Rohstoffen, ohne dabei ein Arbeitsverhältnis mit den Kleinbauern einzugehen“, erklärt Paula Álvarez. Für die Kleinbäuerinnen und -bauern bedeutet dies, dass sie ihre Unabhängigkeit verlieren: „Die Unternehmen sind es, die den gesamten Prozess der Produktion, Verarbeitung und der Vermarktung kontrollieren.“ Zwar sollen die Kleinbäuerinnen und -bauern einen Teil des erwirtschafteten Einkommens erhalten, doch bekommen sie keinerlei soziale Absicherung von Seiten der Großunternehmer_innen. Durch die direkte Abhängigkeit vom Weltmarkt sind Erstere dann oftmals schlechter gestellt als zuvor.
So besteht weiter die Gefahr, dass die kleinen Produzent_innen ihr Land verlieren: „Die Regierung fördert die Flexibilisierung des Bodenmarktes, so dass der Boden für die produktivsten Aktivitäten von den effizientesten Nutzern genutzt werden kann“, erklärt Paula Álvarez. Wenn die Kleinbäuerinnen und -bauern sich auf dem Markt nicht durchsetzen, müssen sie ihr Land aufgeben und in die Städte abwandern. Diese Problematik hat wiederum das Potential den bewaffneten Konflikt zwischen Guerrilla, Paramilitärs und Armee anzuheizen.
Präsident Santos hat zumindest die Existenz des Konflikts anerkannt, während frühere Präsidenten einfach geleugnet haben, dass es ihn gibt. Vordergründig scheint er sich auch mit den Folgen und Bedingungen des Konflikts zu beschäftigen. Im Jahr 2011 hat seine Regierung ein Opfer- und Landrückgabegesetz vorgelegt (siehe LN 454). Obgleich dies zunächst als historischer Schritt betrachtet wurde, zeigen sich die negativen Folgen immer mehr. Es wird deutlich, dass hiervon insbesondere die Agrarindustrie auf Kosten der Kleinproduzentinnen und -produzenten profitiert: Um Investoren anzuziehen, bedarf es einer gewissen Rechtssicherheit hinsichtlich des Besitzes von Land. Durch die millionenfache Vertreibung der Landbevölkerung im Zuge des bewaffneten Konfliktes wurden rund sechseineinhalb Millionen Hektar Land aufgegeben. Wenn auch das Opfergesetz dafür sorgen wird, dass ein Teil davon an die Opfer zurückgegeben wird, wird angenommen, dass dies nur ökonomisch weniger rentables Land betreffen wird. Angesichts der vielerorts angespannten Sicherheitssituation werden viele Familien außerdem nicht bereit sein, zu ihrem Besitz zurückzukehren. So hat sich in der Zwischenzeit eine paramilitärische Gruppe gegründet, die für die Ermordung einer Reihe von Führungspersonen auf Seiten der Landrückgabe-Befürworter_innen verantwortlich gemacht wird.
Klarer Nutznießer des Opfer- und Landrückgabegesetzes wird also die Agrarindustrie sein: Einerseits wird die Formalisierung von Landbesitz durch die Festschreibung von Landtiteln zur Ankurbelung des Bodenmarktes führen. Andererseits schützt das Opfergesetz agrarindustrielle Projekte auf „geraubtem“ Land. Die_der aktuelle Besitzer_in kann nur enteignet werden, wenn nachgewiesen wird, dass er_sie selbst in die gewaltsame Landaneignung involviert war.
Dennoch hat die agrarindustrielle Politik der Regierung im August 2012 einen Rückschlag erlitten, als das Verfassungsgericht einige Artikel des Entwicklungsplans für verfassungswidrig erklärt hat. Im Sinne einer sozialen Land-Umverteilung erlaubt es die Verfassung nicht, Staatsland an landwirtschaftliche Großunternehmen zu verkaufen. Da die Altillanura-Region größtenteils staatliches Land ist, ist das Projekt der agrarindustriellen Entwicklung der Altillanura ins Stocken geraten. Die Regierung ist dennoch entschlossen, dieses Projekt zu realisieren und entwickelt derzeit einen Plan B. So wird Puerto Gaitan als Zentrum der Altillanura wohl auch weiterhin an einigen Tagen im Jahr aus seinem Tiefschlaf gerissen werden. Ob ein nachhaltiger sozialer Frieden im Land auf Grundlage eines extraktivistischen Wirtschafts- und Agrarmodells möglich ist, scheint ungeachtet des Ausgangs der Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und der FARC dagegen eher fragwürdig.