Argentinien | Feminismus | Nummer 531/532 - September/Oktober 2018

GRÜNE WELLE SOLL ZUM TSUNAMI WERDEN

Interview mit Yanina Waldhorn von der nationalen Kampagne zum Recht auf legale, sichere und kostenfreie Abtreibung

Trotz der zwei Millionen Menschen, die am 8. August in strömendem Regen vor dem argentinischen Kongress ausharrten, stimmten die Senator*innen des Landes gegen das Recht auf sichere und kostenfreie Abtreibung. Seitdem hat sich die Präsenz der grünen Tücher auf den Straßen, die Symbole des Kampfes um dieses Recht sind, noch vervielfacht. LN sprachen mit Yanina Waldhorn von der nationalen Kampagne über Geschichte und Perspektiven des Kampfes um das Recht, über den eigenen Körper entscheiden zu dürfen.

Interview: Bettina Müller

Lautstarke Bewegung Millionen Menschen forderten am 8. August das Recht auf Abtreibung (Foto: lavaca.org)

Darf in Argentinien unter keinen Umständen abgetrieben werden?

Doch, 1921 wurde ein Gesetz zur teilweisen Strafbefreiung der Abtreibung beschlossen, das den Schwangerschaftsabbruch unter drei Umständen erlaubt: wenn die Schwangerschaft das Leben der Mutter gefährdet; wenn die körperliche, psychische oder emotionale Gesundheit der Mutter gefährdet ist; und wenn die Schwangerschaft das Ergebnis einer Vergewaltigung ist. 2012 ratifizierte das Oberste Gericht Argentiniens in der „F.A.L. Entscheidung“ das Recht auf Abtreibung, sollte sich eine Frau in einem der drei Umstände befinden. Es gibt also Gründe, die die Abtreibung in Argentinien legalisieren. Allerdings sind die Möglichkeiten dennoch sehr begrenzt, weshalb wir seit Jahren für eine komplette Legalisierung der Abtreibung kämpfen.

Wie ist die Kampagne entstanden?

Während des nationalen Frauentreffens in Rosario 2003 fand ein Workshop zum Recht auf Abtreibung statt, der von einem bereits seit über zehn Jahren existierenden Zusammenschluss organisiert wurde. Dort wurde ein Aktionsplan verabschiedet, der zum einen den 28. September. zum Aktionstag zur Legalisierung der Abtreibung in Lateinamerika erklärte und zum anderen die Gründung einer Kampagne zum Recht auf Abtreibung beschloss. Diese sollte drei Ziele verfolgen, die gleichzeitig ihr Motto sind: „Sexualunterricht zur Vorbeugung; Verhütungsmittel, um nicht abtreiben zu müssen, und legale Abtreibung, um nicht zu sterben.“ Zwei Jahre später wurde die Kampagne in Córdoba offiziell gestartet.

Wieso hast du dich der Kampagne angeschlossen?

2003 während des Frauentreffens in Rosario erhielt ich ein grünes Tuch, auf dem die Entkriminalisierung der Abtreibung gefordert wurde. Mit einem Textmarker fügte ich noch die Legalisierung hinzu, denn ich hatte das Gefühl, dass die Entkriminalisierung den Staat aus der Pflicht nahm, entsprechende Maßnahmen zur körperlichen Integrität der Schwangeren umzusetzen. Nach meiner Rückkehr nach Glew, wo ich damals lebte und politisch aktiv war, erfuhr ich dann, dass ein Mädchen bei dem Versuch, mit Stricknadeln abzutreiben, umgekommen war. Eine andere lag im Krankenhaus, weil sie versucht hatte, mit Petersilie abzutreiben. Das war 2003. Leider hat sich seitdem nichts geändert. Fast täglich hören wir von jungen Frauen, die beim Versuch abzutreiben, sterben, wie z.B. einen Tag nach dem 8. August 2018, als der Versuch mit Petersilie abzutreiben, einer Mutter von zwei kleinen Kindern das Leben kostete. Tatsächlich werden bei einer Mehrzahl der Frauen, die auf Grund des Versuches eine Abtreibung vorzunehmen, sterben, körperliche Verstümmlungen gefunden. Laut Schätzungen treiben in Argentinien jährlich etwa 500.000 Frauen heimlich ab.

Wie organisiert ihr euch?

Die Kampagne ist ein pluraler, heterogener, föderaler, basisdemokratischer Raum, der auf Konsensbildung ausgerichtet ist. Solange du das dreifache Motto unterstützt, kannst du mitmachen, unabhängig von deiner politisch-ideologischen Zugehörigkeit. Heute sind mehr als 500 Organisationen im ganzen Land Teil der Kampagne, die sich auch international vernetzt. Wir organisieren jährliche Treffen, bei denen Strategie­pläne für das Jahr ausgearbeitet werden. Zudem haben wir es geschafft, dass es inzwischen Vorlesungen zum Thema an fast jeder öffentlichen Universität gibt. Poesiekreise, Zirkusgruppen, Unternehmerinnenzirkel, unabhängige Verlagsgruppen und viele andere haben sich der Kampagne vor allem im vergangenen Jahr ange­schlossen. Zudem unterhalten wir ein Netzwerk von Ärzten, die legale Abtreibungen vornehmen und Lehrern, die Sexualunterricht an Schulen geben.

Wie habt ihr es geschafft, so enorm zu wachsen?

Die Kampagne hat über zehn Jahre Aufklärungsarbeit an der Basis betrieben. Zudem ist die Bewegung der Frauen und Feministinnen in Argentinien in den letzten Jahren exponentiell gewachsen, wobei sowohl die Bewegung zur Gewalt gegen Frauen (Ni una Menos), als auch die seit über 30 Jahren stattfindenden nationalen Frauentreffen Impulsgeber sind. Aus der Vielzahl von Aktionen und Debatten zu den unterschiedlichsten Themen, die unser Geschlecht betreffen, hat sich in den vergangenen Jahren eine mächtige Bewegung entwickelt, was bei den letzten Demonstrationen am 8. März und am 3. Juni, sowie zu den zwei Abstimmungstagen des Gesetzes am 13. Juni und am 8. August eindrucksvoll gezeigt wurde.

Stimmte das im Senat zur Abstimmung stehende Gesetz mit euren Forderungen überein?

Das am 13. Juni vom Abgeordnetenhaus beschlossene Gesetz basierte auf unserem Gesetzesvorschlag, wenn es auch einige Änderungen enthielt. Dennoch konnten wir viele unsere Forderungen durchsetzen, wie die Legalisierung der Abtreibung bis zur 14. Schwangerschaftswoche. Da die Senatoren es jedoch am 8. August ablehnten und sich auch nicht auf eine Debatte über mögliche Änderungen einlassen wollten, konnte es nicht in Kraft treten. Tatsächlich gab es sogar Senatoren, die offen zugaben, das Gesetz nicht einmal gelesen zu haben.

Aus welchen Gründen wurde das Gesetz abgelehnt?

Die Argumente kommen von jenen, die wir „Anti-Rechte (Anti-Derechos)“ nennen, wobei sie sich selbst als „pro Leben“ bezeichnen. Ihre Kampagne ist eng an die katholische und die evangelikalen Kirchen gebunden, die im Vorfeld der Abstimmung einen großen Einfluss auf die Senator*innen genommen haben. So meinten sie unter anderem, dass eine Frau ihr Kind nach der Geburt zur Adoption freigeben könnte, wenn sie es nicht wollte. Zudem ist das Gesetz laut ihnen verfassungswidrig und Abtreibung Mord.

Wie war und ist die Stimmung jetzt in der Bewegung?

Das Nein der Senator*innen war ein harter Rückschlag nach so vielen Monaten der ständigen Mobilisierung, mehreren Aktivitäten pro Woche, Podiumsdiskussionen, Gesprächskreisen usw., und all das neben der Arbeit, denn das Engagement bei der Kampagne wird nicht bezahlt. Dennoch sind wir sehr stolz auf das Erreichte, denn inzwischen hat sich in der Gesellschaft so etwas wie ein Konsens ausgebreitet, dass Abtreibung nicht länger kriminalisiert werden soll. Es gibt heute keinen Ort in Argentinien, wo nicht über das Thema geredet wird. Unser Symbol, das grüne Tuch, hängt an tausenden von Rucksäcken und Taschen im ganze Land.

Wann kann das Gesetz das nächste Mal zur Abstimmung kommen?

Wir können das Gesetz nächstes Jahr erneut zur Abstimmung vorschlagen. Allerdings ändert sich die Zusammensetzung des Parlaments und des Senates mit den Wahlen im Oktober 2019. Die neu gewählten Volksvertretern übernehmen ihre Posten dann im Dezember, wobei die Arbeit des Parlaments nach den Sommerferien im März 2020 beginnt. Daher stellt sich für uns die Frage, ob es Sinn macht, das Projekt denselben Repräsentanten vorzulegen, die sich bereits dagegen ausgesprochen haben, oder ob es nicht geschickter ist, die neue Zusammensetzung der gesetzgebenden Organe abzuwarten. Das werden wir jetzt als Kampagne diskutieren, allerdings besteht für uns kein Zweifel daran, dass wir das Gesetz erneut vorlegen werden. Bis dahin bleiben wir aktiv und präsent auf der Straße.

Wie geht es jetzt weiter?

Mitte September findet unser nächstes nationales Treffen statt, wo wir über unser weiteres Vorgehen beraten werden. Gleichzeitig werden wir weiter daran arbeiten, dass die Abgeordneten und Senatoren verstehen, dass ihr Nein sie für jede neue Abtreibungstote verantwortlich macht, und versuchen, Druck auf jene Provinzen auszuüben, wo Ärzt*innen juristisch belangt werden, die legale Abtreibungen durchführen. Derzeit bereiten wir außerdem die Demonstration zum 28.9. vor, damit die grüne Welle nicht nur unser Land, sondern den ganzen Kontinent erfasst. Tatsächlich hat sie sich bereits auf Chile, Brasilien, Mexiko, Peru, Kolumbien, Venezuela, die Dominikanische Republik und Costa Rica ausgebreitet, und wir sind uns sicher, dass sie solange wachsen wird, bis sie die Ausmaße eines Tsunamis angenommen hat – und dann zum Gesetz wird!


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