Haiti geballt
Latin America Bureau: The Haiti Files – Entschlüsselung einer Krise
The Haiti Files – das ist ein Sammelung aus Berichten, Dokumenten, vertraulichen Memos, Niederschriften und Reportagen. Das Gerüst für die vielen, kurzen Kapitel bilden vier Hauptteile – die Schilderung der Ausgangslage, die Akteure und die Krise nach dem Militärputsch im September 1991 – komplettiert durch eine Chronologie der Ereignisse.
Eine Ikone des Internationalismus führt in die Tragik des Karibikstaates ein. Noam Chomsky versucht, den roten Faden von der Conquista bis zum heutigen Tag aufzunehmen – leider gleitet er ihm immer wieder aus den Händen. In der Tradition linker Analyse erscheint Haiti als Tummelplatz von Kolonialmächten und den strategischen Interessen der USA. Die Bevölkerung bleibt in Chomskys Beitrag – entgegen aller Erkenntnisse der Sozialgeschichte – nur in der Rolle des Opfers. Gelungener, weil authentischer, ist ein Beitrag über den Diktator Francois “Papa Doc” Duvalier. “Unser Doc, der Du bist lebenslang im Nationalpalast, geheiligt sei Dein Name jetzt und für alle Zukunft … gib uns heute unser neues Haiti und vergib niemals die Sünden der Anti-Patrioten, die täglich auf unser Land spucken.” Keine Parodie, sondern der Schluß einer von der Diktatur vertriebenen Broschüre mit dem Titel “Katechismus der Revolution”.
Haiti – mehr als Militär
und Aristide
Im zweiten Teil des Buches gelingt der Versuch ein Bild von den Kräften zu zeichnen, die in den vergangenen Jahren die Politik in Haiti bestimmt haben: mächtige Familienclans, das Militär, die haitianische Exilgemeinde in den USA, die Volksbewegungen und natürlich Jean Bertrand Aristide.
In der Weltöffentlichkeit erschien die Krise Haitis seit dem Militärputsch vor drei Jahren als ein Machtkampf zwischen reaktionären Militärs und einem ungewöhnlichen Präsidenten im Exil. Das wurde dem Einfluß der großbürgerlichen Clans auf Haiti nicht gerecht. Nicht nur, daß die Brandts, die Mevs, die Accras und einige andere den Militärputsch im September 1991 unterstützt hatten; sie haben auch bis zur Invasion der USA durch geschickte Lobby-Arbeit in Washington die Rückkehr von Aristide hintertrieben. Dabei stießen sie sogar in höchste Regierungskreise vor. Ron Brown, Handelsminister im Kabinett von Bill Clinton, wühlte lange Jahre als Lobbyist für “Baby Doc”, Sohn und Nachfolger von “Papa Doc” Duvalier, in der Machtzentrale Washington. Fast jede Familie hat eine solche Wühlmaus in Washington – Juristen, die mit vertraulichen Memos und sogenannten Hintergrundinformationen Einfluß auf die US-Administration und Kongreßabgeordnete nehmen. Detailliert und substantiell werfen die Haiti Files Licht auf diese dezent und im Dunklen arbeitenden Kräfte.
Die sauber recherchierte Information über Strukturen und Hierarchie ist auch die Stärke des Abschnitts über das haitianische Militär. Gerade auf dem Land, auf dem 75 Prozent der Bevölkerung leben, hatte die Junta durch ein feingesponnenes Netz sogenannter chefs de section eine feste Basis. Brutal und ohne Legitimation durch die Verfassung regierten sie im Stile kleiner Diktaturen ihre Bezirke. Die berüchtigten Attachés waren ihre Schergen, die sie durch ein ausgeklügeltes System von Korruption und Postenschieberei an sich banden. Besonders ein Bericht des in New York ansässigen Lawyers Committee for Human Rights veranschaulicht die Effizienz und Kaltschnäuzigkeit militärischer Hierarchie.
Die unter den Duvalier-Diktaturen berüchtigten Tonton Macoutes, eine Art Privatarmee der Duvaliers, waren den Militärs nach dem Sturz von “Baby-Doc” ein Dorn im Auge und wurden 1987 unter der Junta von General Namphy verboten. Wenn auch nicht mehr organisiert, blieben sie das Schreckgespenst der armen Bevölkerung, tauchten als Attachés wieder auf und erreichten unter dem Deckmäntelchen einer neuen Partei der Rechten, der FRAPH, beinahe wieder den alten Einfluß. Der Aufbau der Haiti Files erweist sich hier als Manko, die Informationen über Militär, Tonton Macoutes und FRAPH sind reich an Details, die Querverbindungen werden aber nur angerissen.
Portraits der Machtlosen
Nur wenig Raum bekommt die haitianische Exilgemeinde in den USA. Nahezu 1,5 Millionen HaitianerInnen leben in der Diaspora, die meisten davon in den USA. Ein erheblicher Anteil des Bruttosozialprodukts in Haiti kommt – ähnlich wie auf Kuba – aus den Geldbeuteln von Verwandten und FreundInnen aus den USA. Umso bedauerlicher, daß die HerausgeberInnen dem Phänomen der ExilhaitianerInnen nicht einmal zehn Seiten widmen. Die Darstellung bleibt in der Beschreibung von Polit-Machtkämpfen zwischen den unterschiedlichen Strömungen der Exilgemeinde stecken.
Auch der nächste Block über die Volksbewegungen Haitis kommt nicht über strukturelle Beschreibungen hinaus. Lavalas, die Sturzflut, das ist die heterogene Volksbewegung die den charismatischen Aristide fast über Nacht in den Präsidentenpalast geschwemmt hat. Der übrigens bereits in den LN 238 veröffentlichte Artikel von Marx V. Aristide und Laurie Richardson gibt zwar einen Überblick über die strukturelle Vielfalt von Lavalas, läßt die LeserInnen aber im Stich, wenn sie die Antwort auf die Frage suchen: Lebt die Lavalas-Bewegung oder existiert sie nur noch in den Diskussionspapieren der zerstrittenen Strömungen innerhalb der Bewegung?
Der Block über die AkteurInnen schließt mit Aristide selbst. Die HerausgeberInnen haben sich für die Übernahme eines im Reportagestil gehaltenen Portraits entschieden – eine glückliche Wahl. Das Charisma und die Ausstrahlung des Salesianerpriesters sind im Beitrag von Amy Wilentz greifbar, gleich einem Messias scheint er über allem zu schweben. Seine Stellung als Antipode zur Amtskirche wird jedoch nicht thematisiert. Hier hätte ein kleiner Ausflug in die zweifelhaften Aktivitäten der Amtskirche während der Zeit des Militärregimes das Bild bestimmt abgerundet.
Der Eiertanz der US-Politik
Die AkteurInnen sind vorgestellt und im dritten Teil steigen die Haiti Files in die Krise ein. Die Krise, das ist die Zeit der Militärdiktatur, das sind die verzweifelten Versuche von Aristide, dem Newcomer auf der politischen Weltbühne, nicht im diplomatischen Ränkespiel unterzugehen, das sind die permanenten Versuche des US-Geheimdienstes CIA, aber auch des Pentagons, Aristide als Psychopathen zu diffamieren. Der Block über die Methoden, Motive und Machenschaften der USA ist informativ und sauber gegliedert. Insbesondere der Beitrag des US-Journalisten John Canham-Clyne verdeutlicht, wie weit die USA in ihrem Handeln von den pathetisch formulierten Absichtserklärungen zu Freiheit und Demokratie entfernt waren.
Die wirtschaftlichen Interessen der USA, das Zusammenspiel zwischen US-amerikanischer Wirtschaftspolitik und den Empfehlungen der Weltbank nimmt der nächste Part unter die Lupe. Hier wagen die Haiti Files, was mensch sonst oft schmerzlich vermißt: Den Blick in die Zukunft, auf die Weichen, die unabänderlich gestellt scheinen. OptimistInnen redeten bereits vom “Taiwan der Karibik”. Doch da ist der Wunsch eindeutig Vater des Gedanken; Haiti ist zwar Billiglohnland, der US-Markt nahe, aber das gilt ebenso für jedes andere karibische Eiland. Warum sich ausgerechnet Haiti, das Armenhaus der westlichen Hemisphäre, zum Tiger der Karibik mausern sollte, bleibt ein Rätsel.
Auch wenn die unmittelbare Verknüpfung dieses Blocks mit der politischen Situation während der Militärdiktatur nicht unmittelbar einsichtig erscheint, erschließt sich den LeserInnen ein differenziertes Bild von den Zwängen, mit denen auch ein Jean Bertrand Aristide konfrontiert sein wird.
Die Haiti-Connection – Drogenhandel und Militär
Haiti ist zunehmend als Drehscheibe im internationalen Drogenhandel ins Gerede gekommen. Mehr als Vermutungen und Gerüchte sind der Öffentlichkeit dabei noch nicht untergekommen. Die Haiti Files schaffen hier Abhilfe. Nüchtern und ohne sich nur auf Verdächtigungen zu stützen, listen sie auf, was bekannt ist und was von Untersuchungsausschüssen des US-Kongresses zusammengetragen wurde – und das belegt, daß hochrangige Vertreter des abgedankten Militärregimes tief in den Drogenhandel verstrickt waren. Aus einem Memo des US-Justizministeriums etwa geht hervor, daß der verhaßte Polizeichef von Port-au-Prince, Michel François, im Drogengeschäft mitgemischt hat. Dabei hatte der CIA wahrscheinlich indirekt mitgeholfen: Mitte der 80er baute der US-Geheimdienst eine Anti-Drogen-Einheit im haitianischen Militär auf. Jetzt steht diese Einheit im Verdacht, eine der Schaltzentralen des Drogenhandels auf Haiti gewesen zu sein.
Der letzte Block des Krisenteils rollt die Scheinheiligkeit US-amerikanischer Menschenrechtspolitik auf. Anhand eines Memos der US-Botschaft in Port-au-Prince wird deutlich, daß den Behörden in den USA daran lag, die Menschenrechtssituation in Haiti zu verharmlosen. Die Glaubwürdigkeit selbst solch renommierter und anerkannter Organisationen wie amnesty international wurde angezweifelt. Das Problem waren nicht die Menschenrechte auf Haiti, sondern die Flüchtlinge vor der Küste der USA. Der Abschnitt verdeutlicht eindrucksvoll wie je nach politischer Großwetterlage in den USA, die Menschenrechte in Haiti entweder als garantiert oder als verletzt betrachtet wurden.
Ein Sammelband ist ein Sammelband ist ein…
Der vierte und letzte Teil des Buches, die Chronologie der Ereignisse, beginnt am 15. Oktober 1990, dem Tag als Aristide seine Kandidatur für das Amt des Präsidenten bekanntgab. Die Chronologie reißt am 11. Mai 1994, dem Redaktionsschluß für die Haiti Files ab. So sei hier der Lauf der Zeit vervollständigt. Am 15. Oktober 1994, vier Jahre nach seiner Erklärung, Präsident werden zu wollen, kehrt Aristide als solcher wieder nach Haiti zurück. Schade, daß die HerausgeberInnen nicht weiter in die Vergangenheit zurückgegangen sind – einige Eckdaten aus der Geschichte Haitis wären von großem Nutzen für die LeserInnen.
Als Nachschlagewerk für Hintergrundinformationen über die politische Entwikklungen der letzten Jahre hat der Sammelband eine schmerzliche Lücke geschlossen. Jedoch wäre ein Register eine große Hilfe gewesen, gerade weil sich den LeserInnen darüber die Querverbindungen zwischen den Beiträgen erschlossen hätten.
Die Haiti Files: 33 AutorInnen, 33 Beiträge, 33 Ansichten, Haiti geballt – weniger ist manchmal mehr.
Das Latin American Bureau hatte sich angesichts der Aktualität des Themas Haiti im Frühsommer entschieden, das Buch früher als geplant auf den Markt zu bringen – zu Lasten der Aufmachung. Die Bücher des Londoner Verlags bestechen im allgemeinen durch einfallsreiche Titelmontagen und sauberen, modernen Druck; nicht so die Haiti Files. James Ferguson, Autor mehrerer Latin America Bureau-Titel, erklärte gegenüber den LN auf der Frankfurter Buchmesse, dies sei der Preis für die Aktualität. Dem Verkauf des Buches hat sein Äußeres offenbar nicht geschadet. Nach Verlagsangabe geht der Sammelband sehr gut.
The Haiti Files: Decoding the Crisis, hrsg. v. James Ridgeway; Essential Books, Washington D.C., 1994. Latin America Bureau, London, 1994. Bezug: LN-Vertrieb, Gneisenaustraße 2, 10961 Berlin. 16,80 DM