Hart an der Grenze
Ein neues Buch des Latin America Bureau London durchstreift die US-mexikanische Grenzregion
Wieder einmal sorgt der Londoner Verlag Latin America Bureau dafür, daß ein vernachlässigtes Thema, gründlich und interessant geschrieben, einem breiten Publikum zugänglich gemacht wird. Die Rede ist von der US-mexikanischen Grenzregion im allgemeinen und den vielen MexikanerInnen, die dort leben, im besonderen. Augusta Dwyer durchstreift in “On the Line” eine Region, die sie prosaisch mit “verloren zwischen zwei Nationen” beschreibt.
Matamoros, Reynosa, Eagle Pass, Ciudad Juárez, Nogales, Douglas, Ciudad Acuna, Tijuana – klangvolle Namen, aber die Realität in diesen rasant wachsenden Städten in der Grenzregion ist hart. Der phänomenale Aufstieg der Maquiladoraindustrie hat sie genauso geprägt wie die daraus entstandenen negativen Folgeerscheinungen in der Umwelt: Flüsse voll mit Schwermetallen, miserable Luft und vergiftete Böden. In dieser Region war Dwyer unterwegs, auf der Suche nach Schicksalen hinter den eingezäunten Maquiladorafabriken, nach Schicksalen hinter den dünnen Wellblechen der Armensiedlungen, wo die Hoffnung immer die Himmelsrichtung Nord hat. Und es ist ihr gelungen. Dwyers Buch überzeugt immer dann, wenn sie das ausgiebig macht, was sie kann: journalistisch gut aufbereitet einzelne menschliche Schicksale als Folie für die Zwänge und Nöte zu benutzen, denen mehr oder weniger alle MexikanerInnen in dieser Region ausgesetzt sind. Etwa, wenn sie die Geschichte der schwangeren Petra erzählt, die wegen der aufgeblasenen Unnachgiebigkeit des Schichtleiters einer Maquiladorafabrik ihr Kind verliert. In diesem Sinn ist ihr Buch pathetisch und mitunter auch ein wenig missionarisch. Es versucht Verständnis für die Situation der MexikanerInnen zu wecken und ist auch eine Reaktion auf die antimexikanischen Polemiken in den USA im Zusammenhang mit den NAFTA-Verhandlungen. Und es proklamiert die internationale Gemeinschaft. Immer dann, wenn Dwyer die Mühsal bei der gewerkschaftlichen Organisierung der mexikanischen ArbeiterInnen beschreibt, spritzt die Tinte auch nach Norden. Ihre Hoffnung ist der Zusammenschluß über die Grenze hinweg. “Eine Grenze, vollgepackt mit Widersprüchen, geografisch und kulturell entfernt von ihren jeweiligen Machtzentren, trotzt einfachen Versuchen von Charakterzuweisungen. Feucht und subtropisch am einen Ende, wüstentrocken und gebirgig auf der anderen schneidet sie eine Linie quer durch zwei verschiedene Welten. Die eine ist das Zuhause. Die andere ist die ‘andere Seite’. Doch nach einer eingehenderen Untersuchung beginnen die Unterschiede zu verschwimmen, es entfaltet sich das Bild einer Region, die auf ihre Art einzigartig ist, sie ist weder USA noch Mexiko”, schreibt Dwyer über diese Region. Aber auch wenn die Grenze in den Köpfen nicht mehr da sein mag (was bezweifelt werden muß), so gibt es die Mauer am Rio Grande unbestritten immer noch. Diesen Aspekt hat Dwyer nicht außer Acht gelassen. Ihr Kapitel über die US-amerikanische Grenzpolizei, die Border Patrol ist einer der Höhepunkte ihres Buches.
Nur ein kleiner Wermutstropfen bleibt: Im Eifer der Recherche ist Dwyer mitunter der Sinn für das Ganze flöten gegangen. Anfangs beeindruckt die vorgelegte Datenmasse, aber mit voranschreitender Seitenzahl droht mensch in der Flut der eindrucksvoll vielen Zahlen den Überblick zu verlieren, was nicht weiter schlimm wäre, hätte ihn die Autorin nicht auch selbst ein wenig verloren. In bester Stimmung reiht sie ein Zahlenpaket ans nächste. Jede Episode wird, noch bevor sie zu Ende ist, abstrahiert, indem Dwyer sie mit eifrig zusammengestelltem Zahlenmaterial füttert; so lange, bis der Inhalt bricht. Das Ganze, so abgedroschen muß auch mal rezensiert werden, ist halt immer noch mehr als die Summe seiner Teile – auch wenn die Teile für sich doch alle wieder etwas Ganzes sind. Deshalb der LN-Serviervorschlag: Häppchenweise!
Martin Ziegele
Augusta Dwyer: On the Line. Life on the US-Mexican Border, London 1994, zu beziehen (wie übrigens alle Bücher des Latin America Bureau) über die Lateinamerika Nachrichten. Gneisenaustraße 2a. 10961 Berlin. 29,80 DM.