Literatur | Nummer 249 - März 1995

Hart an der Grenze

Ein neues Buch des Latin America Bureau London durchstreift die US-mexikanische Grenzregion

Über dem Arbeitsplatz wartet eine einsame Glühbirne auf die Implosion in die Unend­lichkeit. Ihr mattes Licht legt sich wie ein Schleier über Augusta, die gedankenverlo­ren, das Kinn in die Handinnenflächen gestützt, auf den Bildschirm des Laptops starrt und mit den Geschichten kämpft. Augusta, das ist die kanadische Journalistin Augusta Dwyer und Augusta Dwyer erzählt gerne Geschichten, prosaisch und authentisch. In ihrem Buch “On the Line” macht sie dies ausgiebig, meist durchaus geglückt. Den­noch: “On the Line” ist nicht süße Prosa, sondern politisches Sachbuch.

Martin Ziegele

Wieder einmal sorgt der Londoner Ver­lag Latin America Bureau dafür, daß ein ver­nachlässigtes Thema, gründlich und in­teressant geschrieben, einem breiten Pub­likum zugänglich gemacht wird. Die Rede ist von der US-mexikanischen Grenz­re­gi­on im allgemeinen und den vielen Mexi­kanerInnen, die dort leben, im besonderen. Augusta Dwyer durchstreift in “On the Line” eine Region, die sie pro­saisch mit “verloren zwischen zwei Natio­nen” be­schreibt.
Matamoros, Reynosa, Eagle Pass, Ciu­dad Juárez, Nogales, Douglas, Ciudad Acu­na, Tijuana – klangvolle Namen, aber die Realität in diesen rasant wachsenden Städten in der Grenzregion ist hart. Der phänomenale Aufstieg der Maquiladora­indu­strie hat sie genauso geprägt wie die daraus entstandenen negativen Folgeer­schei­nungen in der Umwelt: Flüsse voll mit Schwermetallen, miserable Luft und ver­giftete Böden. In dieser Region war Dwyer unterwegs, auf der Suche nach Schick­salen hinter den eingezäunten Ma­quiladorafabriken, nach Schicksalen hinter den dünnen Wellblechen der Armensied­lung­en, wo die Hoffnung immer die Him­melsrichtung Nord hat. Und es ist ihr ge­lungen. Dwyers Buch überzeugt immer dann, wenn sie das ausgiebig macht, was sie kann: journalistisch gut aufbereitet einzelne menschliche Schicksale als Folie für die Zwänge und Nöte zu benutzen, denen mehr oder weniger alle Me­xi­ka­ner­In­nen in dieser Region ausge­setzt sind. Et­wa, wenn sie die Geschichte der schwan­ge­ren Petra erzählt, die wegen der auf­ge­bla­senen Unnachgiebigkeit des Schicht­lei­ters einer Maquiladorafabrik ihr Kind ver­liert. In diesem Sinn ist ihr Buch pathe­tisch und mitunter auch ein wenig mis­sio­na­risch. Es versucht Verständnis für die Si­tuation der MexikanerInnen zu wecken und ist auch eine Reaktion auf die an­ti­me­xi­kanischen Polemiken in den USA im Zu­sammenhang mit den NAFTA-Ver­hand­lungen. Und es proklamiert die inter­na­tionale Gemeinschaft. Immer dann, wenn Dwyer die Mühsal bei der gewerk­schaft­lichen Organisierung der mexikani­schen ArbeiterInnen beschreibt, spritzt die Tinte auch nach Norden. Ihre Hoffnung ist der Zusammenschluß über die Grenze hin­weg. “Eine Grenze, vollgepackt mit Wi­der­sprüchen, geografisch und kulturell ent­fernt von ihren jeweiligen Macht­zen­tren, trotzt einfachen Versuchen von Cha­rak­terzuweisungen. Feucht und sub­tro­pisch am einen Ende, wüstentroc­ken und ge­birgig auf der anderen schnei­det sie eine Linie quer durch zwei ver­schiedene Wel­ten. Die eine ist das Zu­hause. Die andere ist die ‘andere Seite’. Doch nach einer eingehenderen Untersu­chung beginnen die Un­terschiede zu ver­schwim­men, es ent­fal­tet sich das Bild ei­ner Region, die auf ihre Art einzigartig ist, sie ist weder USA noch Mex­iko”, schreibt Dwyer über diese Re­gion. Aber auch wenn die Grenze in den Köpfen nicht mehr da sein mag (was be­zwei­felt werden muß), so gibt es die Mauer am Rio Grande un­bestritten immer noch. Diesen Aspekt hat Dwyer nicht außer Acht gelassen. Ihr Ka­pitel über die US-amerikanische Grenz­polizei, die Bor­der Patrol ist einer der Höhe­punkte ihres Bu­ches.
Nur ein kleiner Wermutstropfen bleibt: Im Eifer der Recherche ist Dwyer mitun­ter der Sinn für das Ganze flöten gegan­gen. Anfangs beeindruckt die vorgelegte Da­tenmasse, aber mit voranschreitender Sei­tenzahl droht mensch in der Flut der ein­drucksvoll vielen Zahlen den Überblick zu verlieren, was nicht weiter schlimm wäre, hätte ihn die Autorin nicht auch selbst ein wenig verloren. In bester Stim­mung reiht sie ein Zahlenpaket ans näch­ste. Jede Episode wird, noch bevor sie zu En­de ist, abstrahiert, indem Dwyer sie mit eifrig zusammengestelltem Zahlenmaterial füttert; so lange, bis der Inhalt bricht. Das Ga­nze, so abgedroschen muß auch mal re­zen­siert werden, ist halt immer noch mehr als die Summe seiner Teile – auch wenn die Teile für sich doch alle wieder etwas Ganzes sind. Deshalb der LN-Serviervor­schlag: Häppchenweise!
Martin Ziegele
Augusta Dwyer: On the Line. Life on the US-Mexi­can Border, London 1994, zu beziehen (wie übri­gens alle Bücher des Latin America Bureau) über die Latein­amerika Nachrichten. Gneisenaustraße 2a. 10961 Berlin. 29,80 DM.


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