Mexiko | Nummer 322 - April 2001

“Hier sind wir und Spiegel sind wir”

Reisebericht eines Protestmarsches

Der zapatistische „Marsch der indigenen Würde“ aus den Bergen des Südosten Mexikos bis in die Hauptstadtist geschafft. Für die Teilnehmenden steht weiterhin auf dem Spiel, ob sie an dem Ort, den sie für sich innerhalb der Gesellschaft fordern, anerkannt werden oder nicht.

Miguel Orduña Carson

Das zapatistische Befreiungsheer EZLN hat Mexiko-Stadt mit friedlichen Mitteln eingenommen. Unbewaffnet gelangen die 23 Comandantes an ihr Ziel. 3000 Kilometer haben sie auf ihrem Marsch, den sie den „Marsch der Würde“ tauften, zurückgelegt. Zwei Wochen haben sie dafür benötigt. Sie selbst sagen, es seien sieben Jahre gewesen, und dass sie keine Eile gehabt hätten, weil sie diese nicht kennen würden. Sie sagen, sie hätten gelernt zu warten und Widerstand zu leisten, denn dieser dauere nun schon 500 Jahre.
Ein wenig mehr als sieben Jahre ist der Aufstand der Zapatisten her, sieben Jahre auch, dass Zehntausende von Menschen den Zócalo füllten, um für einen Waffenstillstand und eine politische Lösung des Konflikts zu demonstrieren. Fast 200 000 Personen finden sich an diesem 11. März auf dem Hauptplatz der Stadt ein, um den Guerilleros zuzuhören und mit ihnen eine Verfassungsreform auf Grundlage der Beschlüsse von San Andrés zu fordern. Für ein Mexiko, in dem viele Mexikos Platz haben.

Die Reise beginnt

An jedem Ort, an dem die Zapatisten auf ihrer Reise halt machen, sind die Reaktionen unterschiedlich. Zum Teil begleitet ein Fanatismus wie bei den Backstreetboys die Rundreise. Subcomandante Marcos war es selbst, der vor kurzem sagte, er entwickele sich unfreiwillig zu einem „Ricky Martin der Armen“. Auf dieser Reise versucht er, dem ein wenig Abhilfe zu schaffen. In seinen Reden hält er sich kurz, seine Sprache ist meist konkret und schlicht.
Auf der anderen Seite ist die Unterstützung zahlreicher indigener Gemeinden und Organisationen immens. So zum Beispiel in Oaxaca, dem Nachbarstaat von Chiapas und der ersten Etappe der Reise. In der dort verlesenen Stellungnahme danken sie bewundernd der großen Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wurde und dem Kampfgeist der Compañeros. Der Öffentlichkeit erklären sie: „Wir wollen nicht in die Vergangenheit zurück. Aber wir wollen auch nicht in ihr weiterleben und weitersterben. Wir wollen die Wissenschaft und die Technik, aber nicht um die Erde und das gute Denken zu zerstören, sondern um beide besser und reicher zu machen. Wir wollen aus der Sklaverei heraus, in die uns der Mächtige zwingt, aber nicht, um ihm gleich zu werden, dumm also und pervers. Wir wollen in der Gegenwart leben und uns allen gemeinsam eine Zukunft aufbauen. Was wir aber nicht wollen, ist aufhören Indígenas zu sein…“

Das große Treffen der Indígena-Organisationen

Nach einer Woche treffen die Guerilleros in Michoacán ein, um am Nationalen Indígena Kongress (CNI) teilzunehmen und gemeinsam über die Anerkennung ihrer Rechte zu debattieren.
Zur selben Zeit übertragen fünf Fernsehkanäle ohne Werbepausen das vierstündige Megakonzert „für den Frieden“ in Mexiko-Stadt. Seit Wochen sammeln die Sender zusammen mit einigen Supermarktketten Unterschriften „für den Frieden“ und vertreiben grüne Schleifen zum Anstecken als „Erkennungszeichen für den Frieden“. Das Konzert ist der wichtigste Moment in der Medienkampagne, um den „Marsch der Würde“ für die Öffentlichkeit in einen „Marsch für den Frieden“ umzudeuten.
„Heute wollen sie uns zur Mode machen. Heute wollen sie aus uns ein Spektakel machen. Eine vorübergehende Nachricht. Heute wollen sie uns vergänglich, flüchtig, verwerflich vorhersehbar, entbehrlich machen“, so die Zapatisten zeitgleich auf dem CNI jenseits der Scheinwerfer.
Während die eine Seite des Konfliktes die öffentliche Meinung als den Ort der Politik versteht, begreift die Andere ihn als einen Ort des politischen Kampfes, aber als Einen unter vielen.
Die Abschlussrede des EZLN auf dem Kongress ertönt wie eine Legende: „Und so ist es, dass uns unsere ältesten Häuptlinge sagten: Es ist die Zeit des Wortes. Verwahre also die Machete, und schärfe die Hoffnung… Lerne mit dem Herzen zu sprechen, das in dem Anderen pocht. Sei klein gegenüber dem Schwachen und mach dich groß mit ihm. Sei groß gegenüber dem Mächtigen und willige nicht stumm ein in die Erniedrigung, die uns widerfährt.“

Weiter nach Guerrero

Einen Tag später, am vierten März setzen die Zapatisten den Marsch fort, der ab jetzt auch der Marsch des CNI ist. Und sie gelangen nach Guerrero, einem der ärmsten Bundesstaaten, wo in den siebziger Jahren bedeutende Guerillagruppen agierten, die samt ganzer Dörfer ausgelöscht wurden. Die Bauern haben Tagesreisen zu Fuß zurückgelegt, um den Zapatisten zuzuhören, ohne Verherrlichung, aber mit ernsthafter Aufmerksamkeit. Hier, wo die politische und militärische Repression mit am schlimmsten war und ist, formierten sich seit 1994 zwei neue Guerillagruppen. Die Erfüllung der drei Forderungen für die Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen (Räumung von Militärstützpunkten, Freilassung aller zapatistischen Gefangenen, Verfassungsreform auf Grundlage der Beschlüsse von San Andrés) sei die Möglichkeit, eine weitere Unterdrückung und Radikalisierung dieser bewaffneten Gruppen zu verhindern. Sie sei “die Tür für einen wahrhaftigen Dialog, ohne Militarisierung und politische Gefangene“, so die Zapatisten in Guerrero.
„Vicente Fox steht vor einer Herausforderung“, spricht der Subcomandante Marcos, „einer Herausforderung für die er eine Vision für den Staat braucht.” Aber nicht nur er, sondern auch die Legislative stehe vor dieser weitsichtigen Herausforderung, die beinhalte, „mit den Abgeordneten des Kongresses ernsthaft zu diskutieren und die höchste Bühne der Republik zur Verfügung zu stellen, damit sie alle miteinander reden und sich gegenseitig zuhören könnten.“

Einzug in die Hauptstadt

11. März: Der CNI und das EZLN erreichen den Zócalo der Hauptstadt. Die Versammlung wird bezeichnender Weise nicht im Fernsehen übertragen. Die Anwesenden hören die Namen der 52 indigenen Ethnien des Landes. In absoluter Stille lauschen sie den Guerilleros: „Hier sind wir und Spiegel sind wir. Nicht das Licht, sondern gerade einmal der Funken. Nicht der Weg, sondern gerade einmal ein paar Schritte. Nicht der Wegweiser, sondern lediglich ein paar Richtungen, die ins Morgen führen. Wir sind nicht gekommen, um dir zu sagen, was du machen sollst, auch nicht, um dir den Weg zu weisen. Wir sind gekommen, um dich bescheiden und respektvoll zu bitten, dass du uns hilfst. Dass du nicht zulässt, dass es Tag wird, ohne dass diese Fahne (die Nationalflagge) auch für uns einen würdigen Platz hat.“

Übersetzung: Anne Becker

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