Literatur | Nummer 315/316 - Sept./Okt. 2000

Im Diesseits und Jenseits zugleich

Abilio Estévez spielt mit den Erwartungen an kubanische Literatur

Ein Erstlingswerk von solchen Dimensionen ist selten. Abilio Estévez fordert nicht nur diverse Klischees heraus, auf deren Bugwelle die jüngste kubanische Literatur derzeit schwimmt, sondern stellt auch die Geduld des Lesers auf die Probe. Hoch gepokert, und doch gewonnen: In den labyrinthischen Handlungs- Gedanken- und Phantasiesträngen des Romans entfaltet sich eine literarische Hoffnung.

Ann-Catherine Geuder

Im Mittelpunkt des Debütromans des Kubaners Abilio Estévez (Tuyo es el reino, 1997) steht eine Insel. Diese ist jedoch nicht Kuba, wie man vermuten dürfte, sondern ein relativ verlassener Außenbezirk Havannas, der sich zusammensetzt aus dem „Jenseits“, einem Stück Wald und dem „Diesseits“, einer Ansiedlung maroder Häuser und einem verwilderten Garten.
Das „Diesseits“ wird bevölkert von etwas exzentrischen Menschen wie zum Beispiel der barfüßigen Gräfin, die hoheitlich durch den Garten stolziert und das Ende der Welt ankündigt, der verkappten Sängerin Casta Diva und ihrem verstummten Mann, Onkel Rolo, einem alternden Buchhändler, der auf dem Bahnhof Kontakt zu jungen Männern sucht, von der an Gedächtnisschwund leidenden Irene und nicht zuletzt von dem Erzähler selbst, der sich mehr und mehr zum Schöpfer der Figuren stilisiert, in die Handlungen eingreift, dem Leser Vorschläge macht und über die Rolle des Schriftstellers philosophiert.
Doch die Insel ist natürlich auch Kuba. Durch die wiederkehrende Verwirrung, welche Insel jeweils gemeint ist, spielt Estévez mit den Erwartungen, die an die jüngere kubanische Literatur gestellt werden: ein Abbild der heutigen Verhältnisse zu sein. Die Frage, inwieweit Literatur auf Kuba immer politisch sein muss, wirft die Gegenfrage auf, inwieweit kubanische Literatur immer politisch gelesen werden muss. Estévez’ Roman ist an erster Stelle ein ästhetischer Genuss; er eignet sich weder als politisches Pamphlet noch als unterhaltsame Urlaubslektüre.

Im Reich der Albträume

So ist z.B. die Handlung eher karg und kommt nur schleppend voran; der Roman gleicht dem verwilderten Garten, einem Gestrüpp aus Mythen, Legenden und vor allem aus den Gedanken der Figuren, ihren Gesprächen und Träumen – Albträumen wohlgemerkt. Denn die Inselbewohner leiden Tag und Nacht an ihren Sehnsüchten und Ängsten; an ihrem Leben. Der Leser muss sich durch dieses Dickicht durchschlagen, um aus dem Albtraum, zu dem der Roman mehr und mehr wird, erst im Epilog zu erwachen.
Was einen zum Durchhalten veranlasst, ist Estévez’ Ausdrucksvermögen und sein Witz. Mit präzisen Beschreibungen verfolgt er seine Figuren bis in kleinste Details und einzelne Bewegungen. Zudem lockert er die zähe Textur der verschiedenen Stränge, die ausufern, sich verzweigen, ohne ein erkennbares Muster zu ergeben, durch das Spiel mit der Fiktion und dem Leser immer wieder auf.
Ohne dieses Aufbrechen wäre das Dickicht wohl kaum zu ertragen. Doch Estévez gelingt immer wieder diese Balance von Leichtigkeit und Schwere, die Susanne Lange wunderbar in die deutsche Sprache übertragen hat. Dieser Debütroman ist sicherlich keine leichte, aber reizvolle Lektüre, und vor allem die Ankündigung eines großen Talents.

Abilio Estévez: Dein ist das Reich. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Luchterhand Literaturverlag, München 1999, 475 S., 48,- DM (ca. 25 Euro)

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