Im Schlepptau der Regierung
Die Regierung Lula versucht die sozialen Bewegungen Amazoniens zu vereinnahmen
„Wir müssen den brasilianischen Staat dazu erziehen, den indigenen Völkern zuzuhören“, forderte Marcos Terena von der Indigenenorganisation Memorial dos Povos Indígenas. Zu hören war er Mitte September diesen Jahres in Brasília, wo sich die VertreterInnen des Bündnisses „Völker des Waldes” zu einer Großveranstaltung trafen, bei der sie allerdings nicht unter sich waren. Zahlreiche VertreterInnen der Regierung zeigten nicht nur Präsenz, sondern dominierten die Redezeiten der Veranstaltung.
Trotz der Erfolgsmeldungen der brasilianischen Regierung über den Rückgang der Abholzung im Amazonasgebiet ist die Bedrohung für den Regenwald und seine BewohnerInnen noch immer akut. Die Saison der Rodung hat gerade erst begonnen und erste Meldungen lassen befürchten, dass die Zahlen nach dem historischen Tiefstand von 2006 jetzt wieder ansteigen. Am meisten fürchten die traditionellen BewohnerInnen des Amazonasgebietes jedoch die im Zuge des Regierungsprogramms zur Wachstumsbeschleunigung (PAC) geplanten Megaprojekte der Regierung wie zum Beispiel die geplanten Staudämme zur Stromproduktion. Solche Projekte schneiden tief in die Ökosysteme ein und zerstören die Lebensgrundlage der dort ansässigen Bevölkerung. Die Menschen des Amazonasgebietes haben eigene Ansätze für eine nachhaltige Entwicklung, die sie dem Entwicklungsmodell der Regierung entgegenstellen. Die traditionellen Gemeinschaften fordern ein Mitspracherecht bei der territorialen Planung und Nutzung der Gebiete sowie Anerkennung für ihre nachhaltige Lebensweise, die den natürlichen Lebensraum schont. Sie wollen teilhaben an der Politik ihrer ehemaligen MitstreiterInnen, von denen heute viele in der Regierung sitzen. Doch das Verhältnis zwischen Regierung und sozialen Bewegungen ist komplexer geworden und die Grenzen verwischen.
Der zwanzigste Todestag von Chico Mendes (siehe Kasten) rückt näher und angesichts der neuen Gefahren und Herausforderungen besinnt man sich wieder auf den gemeinsamen Kampf. Die drei wichtigsten Netzwerke des Amazonasgebietes, die Arbeitsgruppe Amazonas GTA, die Koordination der Indigenenorganisationen des brasilianischen Amazonasgebiets COIAB und der Nationale Rat der Kautschukzapfer CNS, riefen die kulturell vielseitigen Gemeinschaften Brasiliens auf, sich dem „historischen“ Bündnis anzuschließen und so eine neue, gemeinsame Stärke zu gewinnen. Zur Kräftigung ihres Einflusses wollten sie in Brasília ein Bündnis der Völker Amazoniens erneuern, das nun auch traditionelle BewohnerInnen des Atlantischen Regenwaldes, der Savanne, der Mangrovenwälder, des Pantanal und der Pampa einschließt. Eine gemeinsame Handlungsperspektive ist das Ziel.
Viele MitstreiterInnen von damals sitzen heute in der Regierung. Umweltministerin Marina Silva, die selbst aus einer Familie von Kautschukzapfern stammt und gemeinsam mit Chico Mendes die sozialen Bewegungen im Bundesstaat Acre vorangetrieben hatte, wird als große Verbündete gesehen. Auch Präsident Luis Inácio Lula da Silva, der an der Eröffnungszeremonie des Treffens teilnahm, betonte, dass der gemeinsame Kampf von Regierung und Gesellschaft eine große Errungenschaft bedeutet. Viele OrganisatorInnen des neuen Bündnisses scheinen dessen Funktion eher als Regierungspartner und Berater zu sehen.
Diese Kooperation mit der Regierung spiegelte sich in der gesamten Aufmachung des Events. An den Redepulten dominierten RegierungsvertreterInnen, die ihre Projekte anpriesen. Für die lokalen VertreterInnen der „Völker der Wälder“ – welche Indigene, KautschukzapferInnen, Fischer, Uferbewohner und Quilombolas, also Nachfahren entflohener Sklaven, repräsentieren – war indessen keine Redezeit eingeplant: sie saßen lediglich im Publikum. Die kritischeren Nichtregierungsorganisationen fehlten gleich ganz auf der Einladungsliste. Dagegen war die Liste der Partner und Sponsoren mit Regierung, Weltbank, der Zentralbank Banco do Brasil und dem Erdölkonzern Petrobras hochrangig besetzt. Deren finanzielle Unterstützung ermöglichte ein klimatisiertes Ambiente und bequeme Sessel. Die companheiros und companheiras der Regierung betonten die Fortschritte und die neuen Projekte, die auch den Waldbewohnern zugute kommen sollen. Auch die eingeladenen VertreterInnen der Großkonzerne und Banken nutzten die Gelegenheit, ihre Unternehmen als Retter des Regenwaldes anzupreisen. Ihre professionellen Projektpräsentationen gingen aber an den Forderungen der WaldbewohnerInnen vorbei und erhitzten zunehmend die Gemüter des Publikums.
Ein lokales Mitglied des Netzwerks GTA aus dem Bundesstaat Mato Grosso berichtete, erst durch die Einladung von dem Event erfahren zu haben. Dieses glich dann auch eher einer Veranstaltung der Regierung. Die RegierungsvertreterInnen reisten nach ihrer Ansprache gleich wieder ab und nahmen sich keine Zeit die Sicht der Betroffenen zu hören. Entsprechend reagierten die TeilnehmerInnen empört darüber, dass sie tagelang angereist waren, um den Verantwortlichen der Regierung die Missstände in ihren jeweiligen Lebensräumen zu schildern. Der Propaganda der RegierungssprecherInnen stellten sie denn auch ihre vehementen Proteste und Forderungen entgegen und verlangten wenigstens eine Sitzung, bei der die Delegierten der sozialen Bewegungen sprechen und die RegierungsvertreterInnen im Publikum sitzen. Dass sie sich auf ihrem eigenen Treffen jede Minute ihrer Redezeit erkämpfen mussten, bezeichneten sie als Respektlosigkeit gegenüber den „wahren Beschützern des Waldes“. Das Konzept des Treffens verfehlte eindeutig die Erwartungen der Teilnehmer – in Acre vor fast 20 Jahren war alles noch anders: bei der Tagung in einer halboffenen Turnhalle redeten vor allem die Menschen der Basis.
Lediglich in kleineren Foren gab es diese Beteiligung und interessante, wichtige Debatten. Im Mittelpunkt steht der Kampf der traditionellen BewohnerInnen der Wälder und Savannen um die Anerkennung ihres Landes, insbesondere um sich und ihren Lebensraum gegen das Vorrücken des Soja- und Zuckerrohranbau und die Abholzung schützen zu können. Zentral war die Forderung, für ihren Umweltschutz auch finanziell Anerkennung zu erhalten. Schließlich sorgten sie durch ihre nachhaltige Lebensweise für den Erhalt des Waldes, was auch dem Schutz des Weltklimas diene. Präsident Lula wurde aufgefordert, die Vorschläge der traditionellen Wald- und SavannenbewohnerInnen für nachhaltige Nutzungsformen und für notwendige politische Maßnahmen in den Gebieten anzuhören. Den Gemeinschaften mangele es an Schulen, Gesundheitsversorgung, Infrastruktur, Krediten oder Sicherheit, wie TeilnehmerInnen des Treffens unter Schreien und Tränen kund taten. Viele der lokalen und regionalen Vertreter berichteten von Morddrohungen, die sie erhielten, und dass sie Angst hätten, wie Chico Mendes für den Wald sterben zu müssen. Um den Wald auf ihre Art schützen zu können, müssten sie in der Lage sein, ein würdiges Leben zu führen.
Zum Treffen kamen etwa 2.000 statt der angepeilten 10.000 TeilnehmerInnen, was wohl einem Mangel an Mobilisation vor Ort zuzuschreiben ist. Eine Schwierigkeit für das neue Bündnis stellte die kulturelle Vielfalt der Mitglieder dar. Aus ganz Brasilien waren Vertreter traditioneller Gemeinschaften angereist und alle wollten gebührend teilnehmen und beachtet werden, was bei etwa 70 verschiedenen indigenen Gruppen und einer Vielzahl weiterer traditioneller WaldbewohnerInnen kaum umfassend möglich war. Letztendlich schlossen sich die anwesenden Gruppen trotz der Schwierigkeiten dem Bündnis an und wollen sich in Zukunft regelmäßig treffen. In einer gemeinsamen Abschlusserklärung forderten die Gemeinschaften eine Audienz bei Präsident Lula und seinen MinisterInnen, bei der die Ergebnisse des Treffens als Richtlinien für die zukünftige Politik vorgebracht werden sollen. Diese soll einem neuen, ökologisch und sozial nachhaltigen Entwicklungsmodell folgen.
Auffallend war, dass wichtige soziale Bewegungen Brasiliens auf dem Treffen fehlten. Weder die Landlosenbewegung (MST) noch andere Gruppen, die zu Via Campesina gehören, wie die Anti-Staudammbewegung MAB, waren vertreten. Dies ist ein deutliches Indiz dafür, dass die sozialen Bewegungen Amazoniens (oder zumindest deren VorsprecherInnen) einen Sonderweg eingeschlagen haben. Sie sind inzwischen sehr stark an Projekte und Programme der brasilianischen Regierung und der internationalen Kooperation gebunden. Setzen andere auf gezielte Konfrontation mit der Regierung Lula –die im Falle des MST Kooperation keineswegs ausschließt –, überleben die sozialen Bewegungen Amazoniens nun vorwiegend als Projektpartner. Auf der Homepage der Völker des Waldes prangt dick das Symbol der Weltbank. Das Interesse, sich mit der Regierungspolitik kritisch auseinanderzusetzen oder sich in internationale Debatten einzubringen – etwa über den Vorschlag Ecuadors, die Nicht-Förderung von Öl in Schutzgebieten zu kompensieren –, tendiert gegen Null. Konsequenterweise lässt sich die gemeinsame Abschlusserklärung des Treffens in einem Satz resümieren: mehr Geld für die Völker des Waldes, Kompensation für die Erhaltung des Waldes.
Bleibt die Frage, wie erfolgreich eine Kooperation zwischen sozialen Bewegungen und Regierung sein wird, bei der die Rollenverteilung nicht ganz klar ist. Braulino Caetano vom Netzwerk Rede Cerrado wies in der Abschlusssitzung darauf hin, dass die heutige Regierung zwar eine Errungenschaft der sozialen Bewegungen sei, doch es weiterhin notwendig bleibe, Forderungen zu stellen, um sie daran zu erinnern, woher sie kommen.
KASTEN:
BÜNDNIS DER VÖLKER DES WALDES“
Die Aliança dos Povos da Floresta („Bündnis der Völker des Waldes“) versammelte sich erstmals 1989 beim zweiten Treffen des Nationalen Rats der Kautschukzapfer (CNS). Dessen Führer Chico Mendes war wenige Monate zuvor ermordet worden. Das Bündnis bestand damals aus den Mitgliedern der Vereinigung der Indigenen Völker (UNI) und dem CNS und diente dazu, die gemeinsamen Interessen gegen staatliche Projekte zu stärken, die schon damals das Leben der RegenwaldbewohnerInnen beeinträchtigten. Als Haupterrungenschaft des Bündnisses ist die Einrichtung und Sicherung von Sammelreservaten (Reservas Extrativistas) zu nennen, die traditionelle Nutzungsformen – wie Kautschukzapfen oder das Sammeln von Paranüssen – durch Einrichtung von Schutzgebieten absichern. Damit gelang es den sozialen Bewegungen Amazoniens, international in Erscheinung zu treten und zu einer ernstzunehmenden politischen Kraft zu werden. Da sich die einzelnen Organisationen in der Konsolidierungsphase befanden und sich daher auf ihre jeweils eigenen Handlungsfelder konzentrierten, war das Bündnis nur wenige Jahre aktiv.
KASTEN:
Chico Mendes – „Mann des Waldes“
Der Kautschukzapfer und Gewerkschaftsführer Francisco Alves Mendes Filho, besser bekannt als Chico Mendes, ist bis heute eine Ikone der brasilianischen Umweltschutzbewegung. Um die gemeinsamen Interessen von KautschukzapferInnen und Indigenen zu stärken, trat Chico Mendes für eine Vereinigung der BewohnerInnen des Regenwaldes ein. Als Mitbegründer des Nationalen Rats der Kautschukzapfer und Abgeordneter der Stadt Xapuri im Bundesstaat Acre kämpfte er gegen die Abholzung des Regenwaldes durch Großgrundbesitzer und für die Einrichtung von Sammelreservaten, die eine dauerhafte Nutzung des Lebensraums ermöglichen. Chico Mendes war Mitglied der Regierungspartei PT. Für seinen Einsatz erhielt Mendes nicht nur internationale Auszeichnungen, sondern auch Morddrohungen von Seiten der GroßgrundbesitzerInnen. Am 22. Dezember 1988 wurde er in ihrem Auftrag ermordet. Sein Tod erregte internationales Aufsehen und rückte die Amazonas-Problematik weltweit ins öffentliche Bewusstsein.