Grenzen | Nummer 481/482 - Juli/August 2014

„Im Zentrum des Konflikts“

Interview über das Justizsystem und Migrant_innen in Texas

Texas ist der US-Bundesstaat mit den meisten undokumentierten Migrant_innen. Der Weg zu einem legalen Aufenthaltsstatus wird für viele von ihnen nach dem Überqueren der Grenze zur nächsten Hürde. Oft droht die Abschiebung – im Jahr 2012 waren davon circa 650.000 Menschen in den USA betroffen. LN sprachen mit Natalie Hansen und Stephanie Taylor, Anwältinnen bei der Non-Profit-Organisation American Gateways in Austin, über die Situation von Migrant_innen und das Solidaritätsnetzwerk in Texas.

Interview: Jan-Holger Hennies

Wie gründete sich American Gateways und welche Arbeit übernimmt die Organisation mit Migrant_innen?
Natalie Hansen: Die gemeinnützige Organisation American Gateways wurde 1987 als Projekt Politisches Asyl in Austin gegründet, als Reaktion auf die Migration und die Geflüchteten aus den zentralamerikanischen Diktaturen. Heute haben wir 14 feste Mitarbeiter. Stephanie und ich arbeiten als Anwältinnen und vertreten Migranten entweder umsonst oder gegen niedrige Bezahlung, abhängig vom Fall. Ich übernehme viele Fälle von Opfern von Kriminalität und Menschenhandel in den USA und das ist bei American Gateways eine kostenlose Dienstleistung. Die Organisation hat außerdem ein großes Netzwerk von ehrenamtlichen Anwälten, die derzeit neben ihrer hauptamtlichen Arbeit circa hundert Fälle betreuen. So können wir Asylsuchende in Texas oft mit Anwälten versorgen.

Stephanie Taylor: Ich übernehme Fälle von Menschen, die abgeschoben werden sollen und vertrete sie vor Gericht. Außerdem kläre ich die Migrantinnen in der privaten Internierungsanstalt T. Don Hutto, einem Migrationsgefängnis, über ihre Rechte auf.

Texas ist der US-Bundesstaat mit den meisten undokumentierten Migrant_innen. Wie werden diese von der Bevölkerung wahrgenommen?
S.T.: Ich bemerke zwei verschiedene Haltungen. Es gibt die Meinung von Migrationsbeamten und die öffentliche Meinung. Migrationsbeamte, vor allem in der Don Hutto Anstalt, sehen die Geschichte jeder Frau mit totaler Skepsis. Ihrer Ansicht nach stürmen die Frauen die Grenze, ohne gültige Ansprüche auf Asyl zu haben – selbst wenn das Asylbüro des Ministeriums für Innere Sicherheit deren Ansprüche für gültig erklärt hat.
Die öffentliche Meinung besteht aus kompletter Ignoranz und negativen Einstellung zu Migranten und undokumentierten Personen – sogar innerhalb der hispanischen Community, der zweiten und dritten Generation von Migranten. Aber sobald ich einmal über einen einzelnen Fall spreche, sagen alle: „Oh ja, die sind schon ok.” Und wir bekommen oft Anrufe: „Meine Babysitterin wurde von der Migrationsbehörde verhaftet und sie ist so eine nette Frau und illegal hier. Wie können die ihr so etwas antun?” Wissen Sie was? Das wurde während des gesamten letzten Jahrhunderts mit hunderttausenden Personen gemacht!

N.H.: Interessant ist, dass es hier in der Gegend so viele Internierungsanstalten gibt und die Menschen nicht wissen, dass sie überhaupt existieren. T. Don Hutto ist nur 40 Minuten außerhalb Austins, was die Hauptstadt und so etwas wie das liberales Zentrum von Texas ist.

S.T.: Aber die Migrationsbehörde tut dies mit Absicht. Sie errichten die Internierungsanstalten in ländliche Gegenden außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung. Sie sind normalerweise völlig ab vom Schuss, weit weg von allen Dienstleistern.

Asylsuchende haben in den USA, wie hier in Deutschland, keine gerichtlich bestimmten Pflichtverteidiger_innen. Arbeitet das Justizsystem in den USA gegen die Migrant_innen?
N.H.: Ja, sogar wenn man einen Anwalt hat, kann es sehr schwer werden.
S.T.: Aber ohne Anwalt… In der Internierungsanstalt T. Don Hutto sind 500 Frauen, circa 90 Prozent aus Zentralamerika, die meisten mit sehr geringer formaler Bildung. Viele von ihnen sind praktisch Analphabetinnen, vielleicht zwei von ihnen sprechen Englisch. Und dann wird ihnen ein Formular für das Asylgesuch gegeben – auf Englisch. Zwölf Seiten voller extrem detaillierter biographischer Angaben und es heißt: „Ihr habt zwei Wochen, die Formulare auszufüllen.” Alles, was wir tun können, ist, ihnen Formulare auf Spanisch zu geben, ihre Antworten zu übersetzen und in die englischen Papiere einzutragen. Ich frage mich allerdings, ob wir so nicht dafür sorgen, dass das System auch weiterhin ohne Pflichtanwälte funktioniert. Aber wenn wir versuchen einen Punkt zu machen und sagen: „Nein, diese Frauen brauchen Anwälte!”, werden die Menschen einfach abgeschoben. Abgeschoben – nur, weil sie ihre Formulare nicht ausfüllen konnten und obwohl sie gültige Asylgesuche hätten stellen können. Das ist keine Option für uns.

N.H.: Also helfen wir ihnen mit der Prozedur, aber nicht mit dem wirklichen Inhalt. Das ist frustrierend! Außerdem gibt es große Unterschiede zwischen den einzelnen Richtern. Ich arbeitete vor Stephanie für die Migrantinnen in T. Don Hutto und wir hatten eine andere Richterin, die vielen Frauen Asyl gewährte. Jetzt ist jemand anderes dort und plötzlich werden die exakt gleichen Fälle juristisch völlig anders bewertet.

S.T.: Und viele haben juristisch gut begründbare Asylgesuche. Wenn sie eine vollständige juristische Vertretung vor Gericht hätten, würden viele Fälle bewilligt. Wir ermutigen die Frauen deshalb, in Berufung zu gehen. Denn dann können wir ihnen oft Anwälte besorgen. Aber ich habe eine Frau als Mandantin, die bereits ein Jahr in Haft ist. Ein ganzes Jahr im Migrationsgefängnis!

Wie sind die Bedingungen in diesen Internierungszentren?
S.T.: Die Bedingungen variieren drastisch. T. Don Hutto war ein Gefängnis mittlerer Sicherheit und unterschrieb dann einen Vertrag mit der Migrationsbehörde. Anfangs wurden hier Familien untergebracht, also die Migranten, die mit Kindern aufgegriffen wurden. Die Zustände waren grauenhaft. Die Migranten mussten mit Licht schlafen; die Zellen hatten Gitter. Es gab deswegen ein Gerichtsverfahren und die Anstalt musste umgebaut werden. Somit war es für die Betreiber Corrections Corporation of America (CCA), einer der größten privaten Betreiber in den USA, nicht mehr profitabel, Familien unterzubringen. Denn sie hätten unter anderem den Zugang zu Bildung ermöglichen müssen. Deswegen werden dort seit 2009 nur noch Frauen untergebracht. Aber einige der Regelungen aus der „Familienzeit“ bestehen fort, wie das Recht, sich frei zu bewegen. Das ist in den meisten anderen Anstalten nicht so. Die Frauen in Hutto haben sogar Zugang zum Internet, es gibt Computer, sie können Mails senden.
Das Problem ist, dass die Betreiber mit Begeisterung diesen Kram erzählen, aber die meisten Frauen können nicht einmal lesen. Wem sollen sie E-Mails schreiben? Es ist frustrierend zu sehen, wie die Anstalt gelobt wird: „Wir haben eine Bibliothek mit Zugang zu den besten Recherchesammlungen zum Rechtssystem“, wird gesagt. Und ich sage immer: „Niemand benutzt das hier!” Die beschönigende Sprache ist ein wirkliches Problem. Es gibt keine „Zählungen” der Gefangenen, wie in normalen Gefängnissen, sie erheben einen „Zensus” und die Frauen sind keine Gefangenen sondern „Gäste”. Hutto ist kein „Gefängnis” sondern ein „Wohnheim”…

N.H.: Mit Stacheldraht drum herum!

Und in anderen Anstalten?
N.H.: Wir haben gerade erst eine Pressemitteilung für ein Internierungszentrum verfasst: die Jack Harwell Internierungsanstalt in Waco, etwa hundert Meilen von Austin. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Die Gefangenen waren dreckig, ihre Kleidung war dreckig, es gab keine wirklich funktionierenden Telefone. Es gab überhaupt keinen Zugang zu Anwälten. In anderen Anstalten sind Migrationsbeamte, die über den Status der Asylgesuche gefragt werden können. Hier gab es keine. Den Gefangenen war anfangs eine Plastikgabel gegeben worden, die sie zu allen Mahlzeiten mitbringen sollten. Die Anstalt erfüllte nicht einmal die texanischen Anforderungen an Haftanstalten. Und die Gefängnisstandards in Texas sind die absolut niedrigsten im ganzen Land!
Aber diese privaten Gefängnisse schießen überall aus dem Boden, seitdem es einen Anstieg bei den Festnahmen gab. Alle Gefängnisse, in denen wir arbeiten, sind privat geführt. Wir wissen nicht einmal, dass sie existieren, bevor wir einen Anruf oder eine Beschwerde erhalten. Und dann gehen wir hin und sehen 400 festgehaltene Menschen.

American Gateways arbeitet in Texas mit anderen Organisationen wie Casa Marianella zusammen. Wie groß ist das Solidaritätsnetzwerk für die Geflüchteten und Migrant_innen vor Ort?
N.H.: Wir haben in Texas Organisationen, die alle möglichen Dienste für die Migranten anbieten. Casa Marianella beispielsweise bietet Menschen ohne Wohnung eine Unterkunft. Wir selbst bieten juristische Unterstützung und es gibt weitere Organisationen wie uns. Das Zentrum für Überlebende von Folter bietet psychologische Betreuung an. Auch Englischkurse gibt es.
Die Stadt Austin hat zudem ein Programm, über das Menschen ohne gültige Dokumente, Zugang zu medizinischen Dienstleistungen erhalten, die ihnen ansonsten verwehrt blieben. Ich habe außerdem zuvor in einer Organisation in Mexiko-Stadt gearbeitet, welche die Arbeitsrechte von zurückgekehrten Migranten bearbeitet, wie Gehaltsforderungen oder Verletzungen des Rechts auf freie Bewegung.

S.T.: Es gibt auch Beziehungen zu Organisationen in Zentralamerika, zum Beispiel zum Zentrum für Migrantenrechte Beato Juan Bautista Scalabrini, einer Herberge für Migranten aus Zentralamerika in Nuevo Laredo im mexikanischen Bundesstaat Tamaulipas. Und wir haben verschiedene Austauschprogramme mit Anwälten aus Mexiko durchgeführt und ihnen gezeigt, was wir hier tun, sodass sie ihren Mandanten in Mexiko besser helfen können. Das Netzwerk ist also relativ groß, aber wir haben hier in Texas keine politischen Organisationen, die aktiv an Reformen für die Migrationsgesetzgebung arbeiten.

Warum gibt es bislang keine solche Organisation in Texas? Existieren Pläne für deren Gründung?
S.T.: Das ist ein wirkliches Problem. In Texas gibt es die meisten Festnahmen wegen undokumentierter Migration in den ganzen USA. Wir haben die höchsten Einwanderungsraten, die höchste Anzahl an Migranten, die höchste Anzahl von Staatsbürgern, die nicht hier geboren wurden. Wir sind eine Goldmine, wenn es um Statistiken und Forschung zum Thema geht. Trotzdem gibt es keine Lobbygruppe in unserem Sinne. Einerseits, weil der Bundesstaat extrem konservativ ist. Deswegen glauben viele, dass sie hier ohnehin nichts erreichen können, selbst wenn man versucht, Rechte für Migranten wie Führerscheine oder Zugang zu medizinischer Versorgung einzufordern. Andererseits ist auch der Bundesgerichtshof, der Texas kontrolliert, sehr konservativ. Lobbygruppen in San Francisco, Chicago und New York City glauben deshalb, dass sie hier nichts ausrichten können. Aber wir sind im Zentrum des Konflikts um Migration und bleiben ohne wirkliche Unterstützung. Ich habe heute noch drei andere Telefonate: Diesen Nachmittag mit Human Rights Watch und später mit der Amerikanischen Bürgerrechtsunion (ACLU) und sie alle fragen mich: „Was passiert gerade? Senden Sie uns bitte Fallbeispiele!” Wenn sie hier wären, könnten sie all das direkt finden. Das ist frustrierend.
2013 wurde im Kongress eine Migrationsreform debattiert. Sie sollte für Migrant_innen neue Möglichkeiten schaffen, einen legalen Aufenthaltsstatus und die Staatsbürgerschaft zu bekommen. Gleichzeitig war vorgesehen, die Grenze weiter zu militarisieren. Wie bewerten Sie die Reformpläne?

S.T.: Ich komme aus Brownsville, Texas und die Grenze geht direkt durch meine Heimatstadt. Überall sind Patrouillen – im Walmart, in Restaurants, am Strand. Wie können sie diese Grenze überhaupt noch weiter militarisieren? Es ist ein Witz zu denken, dass weitere Militarisierung die Migration stoppt. Es wird nur gefährlicher und teurer für die Migranten, aber sie werden Wege finden. Letztlich wird so die Organisierte Kriminalität gestärkt, die die Grenzübergänge kontrolliert, weil sie höhere Preise verlangen wird.

N.H.: Und der Weg bis zur Staatsbürgerschaft würde eine Art zweiter Klasse von Bürgern erschaffen, die auf eine permanente Aufenthaltsgenehmigung warten. Man würde eine verletzliche, marginalisierte, sexualisierte Bevölkerung in den direkten Fokus der Migrationsbehörde stellen und für Jahre der Überwachung aussetzen, bis sie alle Anforderungen erfüllt und hohe Geldsummen bezahlt haben.

S.T.: Ich bin deshalb wirklich skeptisch gegenüber der Reform. Das System ist auf so vielen Ebenen kaputt – auf der Vollzugsebene, auf der Gerichtsebene, bei der Vertretung vor Gericht. Wie soll das repariert werden? Eigentlich müsste man das gesamte System abschaffen und von Grund auf neu errichten.

N.H.: Ja, und es ist wichtig über diese Themen zu reden. Weil wir keine Politik betreiben, will nie jemand unsere Beschwerden hören. Aber trotz allem: Wir können vielen Menschen tatsächlich helfen und haben wunderbare Erfolgsgeschichten.

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