Indígenas legen das Land lahm
Indígenas legen das Land lahm
Der Streik, der am 12. Juni begonnen hatte, nahm rasch an Intensität zu und hatte schließlich die vollkommene Isolierung von neun der 21 Provinzen des Landes zur Folge, in den Bergregionen der Sierra ebenso wie im Amazonasgebiet. Einige regionale Hauptstädte waren vollständig von der Versorgung mit Treibstoff und Grundnahrungsmitteln abgeschnitten. Autostraßen und Brücken wurden gesperrt, öffentliche Gebäude besetzt und Nahrungsmittel, deren HaupterzeugerInnen die Indígenas sind, zurückgehalten. Damit gelang es ihnen, Schritt für Schritt eine chaotische Situation herbeizuführen und die ecuatorianische Gesellschaft auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen.
Die mangelnde Kenntnis und die wenig fortschrittliche Auffassung der Regierung vom Gewicht und der Bedeutung der Indígena-Bewegung, die diese spätestens seit dem Aufstand im Jahre 1990 gewonnen hat, traten offen zu Tage, als der Landwirtschaftsminister, Mariano González, von “Manipulationen gegen die Regierung” sprach, denen die “Indios” erlegen seien. Derartige Aussagen bestätigen nach der Auffassung eines Kommentators “ein in Vorurteilen und obsoleten Wertvorstellungen wurzelndes Bewußtsein, das nicht einmal in der Lage ist, den Indígenas selbstverantwortliches Handeln und eigenständigen Protest zuzugestehen”.
In der Tat war die sogenannte “verlorene Dekade” im Lateinamerika der achtziger Jahre für die Indígena-Bewegung Ecuadors ein “gewonnenes Jahrzehnt”. Wer ihren Organisierungsprozeß mitverfolgt hat, muß anerkennen, daß die Indígenas an Selbstbewußtsein gewonnen haben und auch in der Öffentlichkeit stärker präsent sind. Die heutige Bewegung hat politische Bedeutung auf nationaler Ebene erlangt. Sie nimmt Stellung, erarbeitet Vorschläge, sie ist nicht von den politischen Parteien abhängig und befindet sich auf dem besten Wege, ihr Selbstbild auf der Grundlage indigener Kultur, Sprache und eines eigenständigen Weltbildes neu zu definieren.
Selbstbewußt und offensiv
Die Regierung sah sich schließlich aus zweierlei Gründen genötigt, den Dialog mit den leitenden Persönlichkeiten der CONAIE aufzunehmen: einerseits die Wucht der Proteste, zu denen die Indígenas unter der Bezeichnung “Mobilmachung für das Leben” aufriefen; andererseits die Kritik von weiten Kreisen der politischen Mitte und der Linken am Vorgehen der Regierung, einen unnötigen Konflikt heraufbeschworen und die Kritik im Vorfeld der Gesetzesverabschiedung nicht ernst genommen zu haben. Dennoch: bislang haben die Gespräche keine erkennbaren Erfolge erzielt.
Der tiefsitzende Rassismus der mestizischen Bevölkerungsmehrheit trat offen zu Tage, als EinwohnerInnen der Stadt Canar Gewalt gegen Indígenas anwandten, das Gebäude einer Landwirtschaftskooperative und Fahrzeuge dieser Organisation in Brand setzten. Die Polizei begnügte sich damit, die Ereignisse zu beobachten, ohne einzugreifen, während die zuständigen Militäreinheiten des nächstgelegenen Stützpunktes sich “zu Fuß” zum Tatort begaben. Zur gleichen Zeit fand in Riobamba, der Hauptstadt der Provinz mit dem höchsten Indígena-Anteil, ein Protestmarsch statt, an dem über 40.000 Bauern und Bäuerinnen teilnahmen. Ihr Anliegen war ebenfalls die Aufhebung des neuen Agrargesetzes; die Proteste sollten so lange anhalten, bis auf ihre Forderungen eingegangen werde.
Bis zum 22. Juni waren alle Verständigungsversuche zwischen Indígenas und Regierung gescheitert. An diesem Tag ordnete die Regierung die militärische Mobilmachung als Radikalmaßnahme an, die Zeugnis von ihrer Unnachgiebigkeit ablegen sollte.
Angesichts der klaren Übermacht der Truppen, die in einigen Orten sogar mit Panzern ausrückten, begannen die Bauern und Bäuerinnen, sich friedlich in ihre Gemeinden zurückzuziehen. Wenig später wurde bekannt, daß maskierte Sondereinheiten Razzien in drei Radiosendern durchgeführt hatten, die dem Netzwerk der “Radio Popular Educativa” angeschlossen sind. Sie wurden beschuldigt, “das gewalttätige und hetzerische Klima im Land anzuheizen”, Aufzeichnungen und Informationsmaterial wurden konfisziert und mehrere Personen festgenommen, darunter die Leiterin von “Radio Latacunga”, die Ordensschwester Alma Montoya.
Immerhin nahm die Regierung einige Tage später, unter dem anhaltenden Druck von Seiten der CONAIE, den Vorschlag an, eine Vermittlungskommission einzurichten, die über Reformen am Agrarentwicklungsgesetz beraten soll. Dieser Kommission werden der Präsident von Ecuador, der Vorsitzende des Kongresses, ein Vertreter der katholischen Kirche, VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen und Mitglieder der wichtigsten Indígena-Organisationen angehören.
Knackpunkte des “Agrarentwicklungsgesetzes”
Die Verabschiedung des “Agrarentwicklungsgesetzes” ist kein isoliertes Phänomen, sondern reiht sich in eine Serie von Reformen ein, die die gegenwärtige Regierung vorantreibt. Diese haben unter anderem zum Ziel, den größten Teil der staatlichen Betriebe zu privatisieren, um so in- und ausländische Investoren anzulocken.
Die Landwirtschaftskammer bemängelte schon seit geraumer Zeit die “ineffiziente Bodenausnutzung in Ecuador” und forderte eine Aufhebung des seit 1974 geltenden Agrarreformgesetzes, das den heutigen Ansprüchen nicht gerecht werde. Auch die Indígenas wiesen wiederholt auf die Reformbedürftigkeit dieses Gesetzes hin.
Am 17. Mai diesen Jahres lehnte der Kongreß eine erste Gesetzesvorlage der Regierung zur Agrar-Neuordnung ab, vor allem auf den Druck hin, den die Bauern-, bzw. Indígena-Organisationen auf den Gesetzgeber ausübten. Das Parlament einigte sich darauf, einen neuen Gesetzesentwurf zu erarbeiten, der sowohl die Vorschläge der Regierung, als auch die der oppositionellen Partido Social Cristiano und der die Indígena-Interessen vertretenden Coordinadora Nacional Agraria aufnehmen sollte.
Dennoch verabschiedete der Kongreß zwei Wochen später überraschend ein Gesetz, das zwar Regierungs- und Oppositionsentwürfe, nicht jedoch die Position der Indígenas in sich vereinigt. Mehr noch: es unterscheidet sich nur in Details von dem vorher gekippten Gesetzesentwurf.
Ein wichtiger Punkt des neuen Gesetzes stellt die verstärkte Eigentumsgarantie für LandbesitzerInnen dar. Durch diese Verfügung werden die bisher meist stillschweigend geduldeten Landbesetzungen ausdrücklich kriminalisiert. Diese stellten für die Indígenas eine der wenigen Möglichkeiten dar, an Grund und Boden zu gelangen. Polizei- und Militäreinsätze sind vorgesehen, um LandbesetzerInnen zu vertreiben.
Gleichzeitig schränkt das Gesetz die Möglichkeit für Enteignungen ein. Konnte nach dem ursprünglichen Agrargesetz eine Bodennutzung von weniger als 80 Prozent der jeweiligen Fläche mit Enteignung und öffentlicher Vergabe des Landes geahndet werden, so sieht das neue Gesetz – von Wiederholungsfällen abgesehen – nur noch eine Geldstrafe vor. Enteignungen durch den Druck der Bevölkerung, der bislang von den Indígenas am meisten zum Erhalt von Land geltend gemacht werden konnte, verschwinden vollständig in der neuen Regelung.
Zerstörung indigener Wirtschaftsformen
Weiterhin wird die Liberalisierung des Marktes für Agrarland vorangetrieben, indem es jedem Eigentümer freisteht, sein Grundstück ohne jedwede Genehmigung zu verkaufen. Auch wird die Teilung der gemeinschaftlichen Grundstücke von Kooperativen und comunas ermöglicht. Die comunas waren aus Zusammenschlüssen von Indígena-Familien entstanden, die gemeinsam Grundstücke für die landwirtschaftliche Nutzung kauften. Wenn auch jeder comunero über ein eigenes Stück Land verfügt, gibt es auch Gemeinschaftsland, das traditionell an einem Tag in der Woche von allen Mitgliedern der comuna zusammen bestellt wird (“la minga”). Bis jetzt konnte kein comunero seinen Anteil an diesem Land verkaufen. Das neue Agrargesetz könnte für die in comunas lebenden Indígenas eine Auflösung ihrer Gemeinschaften bedeuten, die in der Vergangenheit nicht nur Gebietskörperschaften, sondern auch Zentren einer politischen, sozialen und kulturellen Selbstorganisation waren.
Vom Standpunkt einiger SozialwissenschaftlerInnen aus betrachtet, zielt das nun verabschiedete Gesetz auf eine “Zersetzung der physischen und territorialen Grundlagen der indigenen Gemeinschaften und Wirtschaftsformen” ab. Auch sei die Nahrungsmittelversorgung des Landes gefährdet, da die Indígenas die hauptsächlichen Hersteller der im Land konsumierten Produkte seien. Die Ländereien der Indígena-Gemeinschaften stünden im Visier internationaler Investoren, versichern diese BeobachterInnen; vor allem am Holzexport interessierte Forstunternehmen hätten ein Auge darauf geworfen.
Darüberhinaus verfügt das Gesetz die Wasserversorgung durch private Anbieter. Für die Indígena-Bevölkerung vor allem in den trockenen Regionen der ecuatorianischen Sierra stellt das Ende der öffentlich garantierten Wasserverteilung ein ernstes Problem dar.
Außerdem geht das neue Regelwerk nicht auf die Realität der indigenen Bevölkerung des Amazonas-Gebietes ein, die schon seit Jahren auf eine gebietsrechtliche Anerkennung der von ihnen seit Jahrhunderten bewohnten und bewirtschafteten Territorien drängen. Auch die schwerwiegenden ökologischen Probleme dieser Zone fanden keine Berücksichtigung. Das alte “Kolonisierungs- und Agrarreformgesetz” hatte hier die spezifischen Bedürfnisse einer westlichen Produktionsweise ermöglicht, deren Form der extensiven Rohstoffausbeutung keine Rücksicht auf die Empfindlichkeit dieses Ökosystems nimmt.