Itaparica 5 Jahre nach der Flutung
KleinbäuerInnen kämpfen um Bewässerungsland
Der Pater hat zu einer Versammlung einberufen. Es soll ein Staudamm gebaut werden. Niemand weiß so recht, was das ist. Unser Land wollen sie überfluten? Unmöglich. Oder hat doch der alte Prophet recht, der vor langer Zeit weissagte: Der Sertao wird sich in ein Meer verwandeln?
Die Versammlung fand im Jahr 1973 in Rodelas statt, einer kleinen Stadt im Bundesstaat Bahia. Es ging um den Fluß Sao Francisco, der den heißen und trockenen “Sertao” im Nordosten Brasiliens wie eine Lebensader durchfließt. Bis Februar 1988, als der Staudamm Itaparica seine Pforten schloß, um den 840 Quadratkilometer großen Stausee aufzufüllen und Energie zu erzeugen, sind noch tausende von Versammlungen, Streiks und Demonstrationen durchgeführt worden. Wie ist der Streit weitergegangen, der auch das bundesdeutsche Parlament beschäftigt hat? Wie sieht es fünf Jahre nach der Flutung aus?
Eine Fahrkarte nach Sao Paulo
Was ein Staudamm für die Flußbevölkerung bedeutet, wurde den BäuerInnen klar, als sie in den 70er Jahren sahen, wie zehntausende von Menschen vom Sao Francisco vertrieben wurden, um dem größten Stausee der Welt Platz zu machen, dem 400 Kilometer flußaufwärts gelegenen Sobradinho. Viele hatten der verantwortlichen Energiebehörde CHESF keinen Glauben geschenkt und wurden von dem unaufhaltsam ansteigenden Flußwasser zur Flucht gedrängt. Als Entschädigung bot die CHESF vielfach eine Fahrkarte nach Sao Paulo – ohne Rückfahrt.
Hier in Itaparica sollte alles ganz anders kommen. Die LandarbeiterInnengewerkschaften in den betroffenen Kommunen wurden von kämpferisch orientierten ArbeiterInnen übernommen, schlossen sich zum Pólo Sindical zusammen, stellten Forderungen: Recht auf Umsiedlung, Land gegen Land. Entschädigung für jedes Haus, jeden gepflanzten Obstbaum. Bewässerungsland für alle, die am Fluß lebten und arbeiteten, auch für die, die kein eigenes Land besaßen.
Der große Sieg – vorläufig
Itaparica wurde mit Mitteln der Weltbank finanziert. Deren bundesdeutscher Vertreter befürwortete Mitte der 80er Jahre die Freigabe weiterer Mittel, obwohl bekannt war, daß die CHESF offensichtlich nichts tat, um einen akzeptablen und durchführbaren Umsiedlungsplan für die über 5000 betroffenen Familien vorzulegen. Im Dezember 1986 schließlich besetzten die BäuerInnen die Baustelle des Staudamms für mehrere Tage. Die CHESF rief die Polizei, das Militär rückte an. Doch die Diktatur war schon zu Ende. Die Hartnäckigkeit der Bauern hatte einen bis heute unerhörten Sieg davongetragen, nationale und internationale Solidaritätsbekundungen taten ihr übriges, um nach zähen Verhandlungen zu einer Vereinbarung zu kommen, an die die CHESF bis heute gebunden ist.
Rodelas ist heute genauso wie die Städte Petrolandía, Iticuraba und Barra do Tarrachil sowie tausende von Hektar fruchtbares Land vom Itaparica-Stausee begraben. Die Städte wurden anderswo wieder aufgebaut, doch fruchtbares Land war nicht hinreichend vorhanden, so daß etwa die Hälfte der betroffenen Bauern 250 km flußaufwärts ziehen mußten. Im Juli 1988 sollten die Bewässerungsprojekte funktionsfähig sein, aber erst 1993 begann mensch auf 200 ha zu beregnen – nicht einmal 2 Prozent der geplanten Fläche. Und wieder einmal rüsteten die Bauern und Bäuerinnen sich für die schwere Auseinandersetzung mit der CHESF. Die großen Bauunternehmen, deren Machenschaften in verschiedenen Korruptionsskandalen der letzten Monate aufgedeckt wurden, haben am Itaparica-Staudamm im Auftrag der CHESF gigantische und absurde Strukturen geschaffen – die nicht funktionieren:
– Es gibt kein Drainage-System, obwohl es so wichtig wäre wie das Wasser selbst, um die Gefahr der Versalzung der Böden und damit ihre Unbenutzbarkeit zu verhindern. Insbesondere im semi-ariden Klima des Sertao rechnet man mit schweren Versalzungserscheinungen in weniger als fünf Jahren ohne Entwässerungsanlagen.
– Bei einem großen Teil der Anlagen besteht der Abstand zwischen den Sprenklern 15 Meter, statt der gebotenen 12 Meter, mit der Folge, daß bis zu 50 Prozent der Fläche nicht ausreichend bewässert werden.
– Die Mehrheit der UmsiedlerInnen besitzen Felder von 3 ha. Unter den gegebenen Bedingungen (Bodenstruktur, Anzahl der Sprenkler, tägliche Bewässerungsdauer, Klima) ist es nicht möglich, mehr als 1,5 Hektar zu bewässern; die Hälfte ihrer Felder kann nicht bearbeitet werden.
– Allgemein bekannt ist, daß es sich nicht rentiert, eine Beregnungsanlage zu installieren, in der mehr als 80 Meter Höhenunterschied zu überwinden sind. Die Hälfte der Umsiedlungsprojekte liegt zwischen 130 und 152 Meter über dem Sao Francisco.
– Der Wirkungsgrad der Bewässerung sollte bei Sprenkleranlagen zwischen 70 und 75 Prozent liegen. In den bisher funktionierenden Flächen liegt er weit unter 50 Prozent, was die Kosten in die Höhe treibt, die Produktivität senkt und die Versalzungsgefahr erhöht.
Allianz gegen die Gewerkschaftsbewegung
Bedauerliche Berechnungsfehler der UnternehmerInnen? Lässigkeit im Umgang mit technischen Daten?
Sicherlich nicht. Die Antwort ist eine zynische Allianz zwischen CHESF, den Bauunternehmen und der regionalen Entwicklungsbehörde CODEVASF. Die letztere wird von einigen Familien aus dem rechten Parteienspektrum dominiert. Sie ist für tausende von Hektar nicht oder schlecht funktionierender Bewässerungsflächen verantwortlich. 80 Prozent Zahlungsunfähigkeit bei den NutzerInnen dieser Anlagen sind keine Seltenheit. Und wenn jetzt einfache Bauern und Bäuerinnen zeigten, daß sie ökologischer und gut organisiert bessere wirtschaftliche Ergebnisse erzielen, wäre das nicht schlecht für das Ansehen der CODEVASF?
Und die Bauunternehmen? Gigantische Anlagen sind für sie allemal interessanter als kostengünstige, aber dafür angepaßte Systeme.
Die CHESF hat ein Interesse an einem schnellen Niedergang der selbstorganisierten Bauernprojekte, um aller Welt zu zeigen, daß eben dieses Beispiel nicht funktioniert. Sie hätte dann in der Zukunft weniger Ärger, wenn wieder einmal Land überschwemmt werden soll und zum “Nutzen der Allgemeinheit” Menschen umgesiedelt werden müssen.
Ein Beispiel für Agrarreform
Auf der anderen Seite sind sich die entstehenden Produktions- und Vermarktungsgenossenschaften, die Gewerkschaften und der Polo Sindical eben dieser Verantwortung bewußt. “Wenn das Ding hier schiefgeht, können wir kaum noch von Agrarreform reden. Dann ist genau das Vorurteil bestätigt, daß unsere GegnerInnen so pflegen. Die ArbeiterInnen machen viel Krach, aber wenn es um die Verwaltung eines Bewässerungsprojektes geht, sind sie unfähig”, meinen viele GewerkschaftlerInnen grimmig.
Die CHESF will die Projekte so, wie sie sind, den UmsiedlerInnen übergeben. Allein die laufenden Kosten würden aufgrund der Konstruktionsmängel das drei- bis vierfache des regionalen Niveaus betragen, bei erhöhter Versalzungsgefahr, Degradation der Böden und schneller Verarmung und Abwanderung der Bevölkerung, die schon sechs Jahre darauf wartet, endlich wieder von der Landwirtschaft zu leben. “Die CHESF täuscht sich ganz folgenschwer, wenn sie wieder mal meint, uns aufs Kreuz legen zu müssen”, lacht die Präsidentin der Gewerkschaft von Rodelas, die zu jener denkwürdigen ersten Gewerkschaftsversammlung gerade mal sieben Jahre zählte.
P.S. Die deutsche Bundesregierung hat just in dieser Zeit der CHESF knapp 30 Millionen DM zugesagt, von denen ein Teil bereits abgeflossen ist. Ist sie möglicherweise dabei, einen peinlichen Fehler von 1986 zu wiederholen? Der Polo Sindical hat bereits protestiert und fordert eine Konditionalisierung: Keine Freigabe von Geldern, solange die Frage der Bewässerungsprojekte in den Umsiedlungen nicht befriedigend gelöst ist.
Kleines Glossar des Sao Francisco
CHESF
Companhia Hidrelétrica do Sao Francisco. Bundesorgan zur Energieerzeugung durch die Wasserkraft. Zimperlich ist sie nicht gewesen. Paulo Afonso war das erste Wasserkraftwerk, das am Sao Francisco Anfang der 50er Jahre ans Netz ging. Die Stadt Paulo Afonso und das Kraftwerk waren jahrzehntelang als “nationales Sicherheitsgebiet” deklariert. Der Bürgermeister wurde direkt vom Präsidenten eingesetzt. Nach Paulo Afonso folgten am Mittel- und Unterlauf des Sao Francisco, also im Nordosten Brasiliens, Moxotó, Sobradinho und Itaparica. Fast fertiggestellt ist am Unterlauf Xingó, und weitere sind in Planung. Nirgendwo wurden Umweltverträglichkeitsstudien angefertigt und beachtet. Für das Kraftwerk Sobradinho wurden mehr als 50.000 Menschen vertrieben, die vielfach in den Slums der großen Städte landeten; in Itaparica waren etwa 25.000 betroffen. Politisch und rechtlich ist sie verantwortlich für eklatante Fehler und Mängel der Bewässerungsstrukturen der Itaparica-BäuerInnen. Ihre Behebung bzw. ihr finanzieller Ausgleich muß erst noch erkämpft werden.
CODEVASF
Companhía de Desenvolvimento do Vale do Sao Francisco. Gesellschaft zur Entwicklung des Sao-Francisco-Tals. Bundesorgan. Gegründet 1974, Nachfolgerin zweier Vorläuferorganisationen, die ebenfalls das Ziel hatten, das Flußtal durch Bewässerungsprojekte zu “entwickeln”. Von den derzeit etwa 200.000 ha bewässertem Land werden 60.000 ha von der CODEVASF betreut. Ursprüngliche Planung von Ende der 40er Jahre war, KleinbäuerInnen in Bewässerunsprojekten anzusiedeln, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern und die Marktproduktion zu vergrößern. Hauptkritikpunkte an der CODEVASF sind, daß sie ihre Kolonialisierungpolitik nach den Interessen einiger weniger dominierender Familien richtet, daß AgrarunternehmerInnen bevorzugt werden und daß kaum ein Projekt es schafft, selbst nach 20 Jahren unabhängig zu sein. Es werden autoritär (Schein)Organisationen gegründet, denen Betrieb und Wartung der Bewässerungsanlagen übertragen wird. Die fortdauernde Abhängigkeit der Bauern ermöglicht die Fortsetzung der paternalistischen (und erpresserischen) Tradition im Nordosten: Gehorsam und Stimmabgabe für die Mächtigen. Im vergangenen Kommunalwahlkampf ist die CODEVASF offen für die rechte PFL eingetreten. In der Liste der wegen Unfähigkeit aufzulösenden Organisationen steht die CODEVASF ziemlich weit oben.
Polo Sindical do Submédio Sao Francisco
Zusammenschluß von derzeit zehn LandarbeiterInnengewerkschaften am unteren Mittellauf des Flusses. Wichtigste Organisation des “movimento popular” der Region und Wiege für eine Reihe von lokalen (und nationalen) PT-Karrieren. Gegründet 1979 aus der Notwendigkeit einer besseren Koordination, Mobilisierung, Vernetzung und Öffentlichkeitsarbeit gegenüber den Vorstellungen der CHESF, die vom Staudamm Itaparica betroffenen BäuerInnen willkürlich und entschädigungslos zu vertreiben. Bisher größter Erfolg: Vereinbarung mit der CHESF, die Umsiedlung, Bewässerungsprojekte, Häuserbau, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen in den Projekten zu garantieren. Nach der erfolgten Umsiedlung Anfang 1988 ermüdender Kleinkrieg um die Erfüllung der Vereinbarung und Vernachlässigung anderer Probleme in der Region: Rechte der LohnarbeiterInnen, Nachwuchsförderung, Beteiligung der Frauen, Bekämpfung der paternalistischen Ausnutzung der langanhaltenden Dürre (“Wirtschaftszweig-Dürre”). Auf dem I. Kongreß des Polo Sindical im Oktober 1993 diskutierten die Delegierten diese Mängel und beschlossen weitgehende inhaltliche und organisatorische Veränderungen, um die politische Verantwortung des Polo Sindical für die Entwicklung der Region besser wahrnehmen zu können.
Der Fluß Sao Francisco
Der “Alte Chico”, wie ihn die FlußanwohnerInnen zärtlich und ehrfurchtsvoll nennen, hat seine Quelle im Canastra-Gebirge im Bundesstaat Minas Gerais, fließt in nördliche Richtung durch Bahia, beschreibt einen großen Bogen nach Osten, markiert zunächst die Grenze zwischen den Bundesstaaten Sergipe und Alagoas, bevor er nach 2.700 km in den Atlantik mündet. Durchschnittlich passiert sein Flußbett jede Sekunde ein Wasservolumen von über 3.000 Kubikmeter. Hauptnutzung ist die Erzeugung von Energie und Bewässerung sowie die Versorgung mit Trink- und Brauchwasser. Die ersten beiden Nutzungsrichtungen stehen im Konflikt. Zusammen mit dem fast fertigen Kraftwerk “Xingó” am Unterlauf, den genannten Werken am Mittellauf und “Trés Marias” am Oberlauf wird eine Kapazität von 13.400 Megawatt erreicht sein. Die CHESF träumt jedoch von weiteren Kraftwerken um auf 17.500 Megawatt zu kommen, weil Energieverbrauch immer noch als ein zentraler Indikator für Entwicklung gesehen wird. Und die CODEVASF möchte insgesamt 1,5 Millionen ha bewässertes Land sehen. Allein das Projekt Jaiba jedoch, das auf 100.000 ha angelegt ist, (von denen 8.000 installiert sind), würde schon 2 bis 5 Prozent der Wassermenge des Flusses konsumieren. Absurde Gigantomanie. Verschärfend kommen zwei Faktoren hinzu:
1. Das kurzsichtige Modell der Bodennutzung, das die CODEVASF und das Agrarkapital anwenden, gefährdet den Fluß und alle Menschen, die an ihm und von ihm leben. Unkontrollierte Bewässerung, rasche Versalzung der Böden und Anreicherung des Flußwassers mit Nitraten und Giften durch Mineraldünger und Pestizide sind voraussehbare Folgen dieses Modells.
2. In Minas Gerais werden im weiteren Einzugbereich des Flusses jährlich zehntausende Hektar Wald zur Holzkohleverarbeitung für die Eisenverhüttung abgeholzt. Dies hat Klimaveränderungen größeren Ausmaßes zur Folge, u.a. die langsame Vertrocknung des Sao Francisco und seiner Zuflüsse. Darüber hinaus erodieren die Böden, und der Fluß trägt die Erdmassen zum Sobradinho, der in kurzer Zeit verlanden wird.
Die Bauern und Bäuerinnen von den Gewerkschaften und Genossenschaften des Polo Sindical sind sich dieser Zusammenhänge bewußt und beauftragten den Polo Sindical, Elemente einer alternativen, ökologisch und ökonomisch nachhaltigen Bodennutzung insbesondere in den Umsiedlungsprojekten zusammenzutragen und zu verbreiten. Weiterhin wird der Polo an einer überregionalen politischen Vernetzung teilnehmen, um dazu beizutragen, die Gefahr für den “Alten Chico” abzuwenden.