Brasilien | Nummer 475 - Januar 2014

Auch mal zuhören

Showdown in Brüssel zwischen Brasiliens Gegner_innen und Befürworter_innen des Staudamms Belo Monte

In Brüssel fand am 14. November 2013 eine von den Europa-Grünen organisierte Konferenz zum Staudamm Belo Monte statt. Dort sprachen Aktivist_innen, Fachleute und ein brasilianischer Bundesstaatsanwalt, der seit Jahren mit Klagen gegen den Staudammbau auch für internationale Furore sorgt. Als Brasiliens Präsidentin davon erfuhr, entschied sie, eine handverlesene Delegation nach Brüssel zu entsenden und verlangte für diese Rederecht auf jedem Panel. Dabei war die Einladung an die Regierungs- und Unternehmensseite schon Monate vorher über die Botschaft zugestellt worden.

Christian Russau

„Mit den Betroffenen reden sie nie!“ Antonia Melo, eine der wichtigsten Persönlichkeiten des Widerstands gegen den Staudamm Belo Monte (siehe LN 467), deutet mit dem Kopf in Richtung der Delegation um den Präsidenten der staatlichen Energieforschungsagentur Brasiliens (EPE), Maurício Tolmasquim. Wie oft hätten sie um Termine „bei denen“ ersucht, sagt Antonia Melo, die seit Jahren die Bewegung Xingu Vivo para Sempre anführt. Nun auf einmal treffen sie doch aufeinander. In Brüssel, im Europaparlament.
Seit Monaten war die Regierung in Brasília über die Konferenz „Belo Monte Mega-Dam: The Amazon up for grabs?” informiert und ob einer Beteiligung angefragt worden. Doch es herrschte Sendepause seitens der diplomatischen Vertretung. Keine Antwort, keine weiteren Anzeichen dafür, dass Regierungs- oder Firmenvertreter_innen ihre Sicht der Dinge auf dem Podium darbieten wollten. So raunt es im Saal. Aber dann veröffentlichte eine brasilianische Journalistin einen Vorabbericht über die Konferenz. Der Text wurde auf fast allen Internetseiten von Menschenrechtsorganisationen in Brasilien veröffentlicht. Und Brasília wurde offenkundig ziemlich nervös. Anderthalb Tage vor der Konferenz teilte die brasilianische Botschaft mit, Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff persönlich habe eine mehrköpfige Delegation zusammengestellt, „handverlesen“. Und das Europaparlament sei ja eine demokratische Institution, das solch einer umfassenden Teilnahme sicher nicht im Wege stehen und die brasilianisch-europäischen Beziehungen nicht belasten wolle.
Die aus Brasília entsandten Vertreter_innen erhalten Redezeit: „Noch nie habe ich so viel Falschinformation erlebt, wie hier in den letzten Minuten“, erklärt Maurício Tolmasquim erhobenen Zeigefingers in die Mikrofone des Saales. „Ich bin schockiert!“ poltert er weiter. Da könnten noch so viele brasilianische Basis-Aktivist_innen eingeflogen werden, bezahlt über wen auch immer, es ändere nichts an den Fakten, so Tolmasquim. Der Staudamm Belo Monte sei nicht nur ein Leuchtturmprojekt erneuerbarer Energien, das der lokalen Bevölkerung zugutekomme und von den Betroffenen herbeigesehnt werde, sondern er stelle einen Gewinn für die Erde als Ganzes dar. Zudem sei es eben dem Staudammprojekt Belo Monte zu verdanken, dass „7.000 betroffene Familien in Altamira“, die umgesiedelt werden müssten, nun endlich „neue Häuser als Rohbauten mit Anschluss an die Trink- und Abwasserversorgung“ bekämen. Und Brasilien bezahle bei Belo Monte allein für den Bau des Kanals, der die Große Flussschleife Volta Grande abkürzt, 1,8 Milliarden Reais – umgerechnet 565 Millionen Euro –, „nur damit die 225 Indigenen an der Volta Grande nicht überflutet“ würden. „Ich wiederhole: Wir bauen einen Kanal für 1,8 Milliarden Reais, einen Kanal größer als den Panamakanal, nur damit 225 Indigene nicht betroffen, nicht überflutet werden.“
Im Saal raunt es. Denn Tolmasquim hat zwei der entscheidenden Stichwörter fallen lassen. „Betroffen“ und „nicht überflutet“. Denn dieses Detail hatte der Umweltingenieur und Wissenschaftler Francisco Del Moral Hernández in seinem Beitrag kurz zuvor verständlich erläutert: „Die brasilianische Gesetzgebung definiert, dass als betroffen nur der gilt, dessen Land überschwemmt wird“, so Hernández. So konnte bei den Indigenen der Arara und Paquiçamba bei der Volta Grande behauptet werden, sie seien nicht betroffen. Ihr Territorium wurde dann kurzerhand aus der Umweltfolgenstudie herausgestrichen: „Denn ihr Gebiet wird ja nicht überschwemmt, sondern bis zu 90 Prozent ausgetrocknet.“ Fehlt dann ihre Hauptnahrungsquelle, der Fisch, so ist das für die Logik der Umweltfolgenstudie irrelevant. Nicht überschwemmt, also auch nicht betroffen. Kollateralschäden also, die ein Tolmasquim gerne in Kauf nimmt.
Dann kommt die Abschlussrunde, in der Antonia Melo für ihre couragierte Rede Ovationen aus dem Saal erhält. Emotional, ja, wutgeladen, legt sie den Regierungsvertreter_innen die Sicht der Widerstandsbewegung dar. In Altamira seien 10.000 Familien wegen deren Zwangsumsiedlung Neubauten versprochen worden. Und Antonia Melo zeigt das Bild: Die Wände dieser Neubauten durchziehen dicke Risse, die bis ins Fundament reichen. „Die Häuser zerbröseln bereits vor dem Einzug!“, erklärt sie empört. Und denen, die sich weigern, die viel zu geringen Entschädigungszahlungen oder die baufälligen Häuser zu akzeptieren, denen bietet die zuständige Firma nur den Weg vor Gericht an. „Aber wer entscheidet da? Wer wird denn diese Leute vor Gericht verteidigen? Wer gewinnt diese Gerichtsprozesse wohl?“ Ihre Stimme bebt.
Die Gesetze und Rechte der Betroffenen würden systematisch verletzt, fährt sie fort. Was bedeute das für die Demokratie? „Es wurde hier gefragt: Wenn dort alles so demokratisch sei, warum müsse die Regierung dann die Nationalgarde entsenden? Ja, warum, Herr Tolmasquim?“, fragt sie in den Saal. Keine fünf Meter entfernt sitzt der Angesprochene, diesmal im Publikum – zum Zuhören verdammt, er hat seine Redezeit zuvor schon deutlich überschritten. Seine Laune, so ist ihm deutlich anzusehen, ist nicht die Beste.

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