Brasilien | Nummer 452 - Februar 2012

Von der Presse entlassen

Korruptionsfälle in Brasilien stärken die Position von Präsidentin Dilma

Dilma Rousseff, die erste Präsidentin Brasiliens, kann auf ein erfolgreiches erstes Regierungsjahr zurückblicken. Ihre Umfragewerte waren Ende 2011 sehr gut, besser noch als die ihrer berühmten Vorgänger, dem ehemaligen Gewerkschafter Luis Inácio Lula da Silva und dem rechten Sozialdemokraten Fernando Henrique Cardoso. Sogar die Serie von Korruptionsfällen, die sechs ihrer Minister zum Rücktritt zwang, tat ihrer Beliebtheit keinen Abbruch, im Gegenteil. Die – wenn auch nur zögerliche – Absetzung der aus Koalitionsparteien stammenden Politiker brachte Dilma den Ruf ein, sich der in Brasilien chronischen Korruption entgegen zu stellen.

Andreas Behn

Brasilien arbeitet kräftig an seiner Rolle als Global Player. Unter der Führung der Präsidentin Dilma Rousseff und der Arbeiterpartei PT ist das größte Land Lateinamerikas dabei, seine Stellung in der Staatengemeinschaft auszubauen. Mit dem mittlerweile sechstgrößten Bruttoinlandsprodukt wurde Großbritannien überholt. Die Tendenz ist steigend: Trotz weltweiter Krise wird für 2012 ein weiterer Anstieg des Wirtschaftswachstums vorausgesagt, unter anderem wegen der Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns im Dezember 2011 um 14 Prozent. Brasilien ist zur Weltmacht aufgestiegen, setzt auf regionale Integration und erlaubt sich – mit einer gewissen Überheblichkeit –, den lang beneideten Industriestaaten Ratschläge zum Überwinden der Finanzkrise zu geben.
Innenpolitisch profitiert Dilma von einer gespaltenen und extrem schwachen Opposition. Der wichtigste Gegenspieler, die sozialdemokratisch-konservative PSDB von Fernando Henrique Cardoso, streitet schon jetzt über den nächsten Präsidentschaftskandidaten und findet keine Themen, mit denen sie die Regierung in die Enge treiben könnte. Zudem steht die traditionelle Rechtspartei DEM vor der Auflösung, seit São Paulos Bürgermeister Gilberto Kassab ausgetreten ist und die neue Partei PSD gegründet hat. Diese rekrutiert Mitglieder aus fast allen anderen Parteien und sucht den Schulterschluss mit der breiten Regierungskoalition. Ihr Kalkül ist offensichtlich: Solange Dilma souverän im Sattel sitzt, ist Opposition eine mühsame Angelegenheit und in Hinsicht auf die Geldverteilung des immensen Staatshaushaltes auch ein schlechtes Geschäft.
Fundierte Kritik und Opposition kommt heute zumeist von Seiten der organisierten Zivilgesellschaft. Soziale Bewegungen stellen das in Zahlen so erfolgreiche Entwicklungsmodell in Frage. Besonders in der Kritik sind Megaprojekte wie Staudämme im Amazonasgebiet oder die Vertreibung Tausender Menschen für den Bau neuer Stadien und Verkehrswege für die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016. Hinterfragt wird zudem die exportorientierte Landwirtschaft, ähnlich wie in Europa nimmt die Kritik an der globalisierten Agrarindustrie zu.
Doch auch diese Opposition spürt die Regierung Dilma kaum. Zu lange standen die sozialen Bewegungen unter dem Einfluss der PT, als dass sie sich neun Jahre nach der Regierungsübernahme schon von ihr emanzipiert hätten. Oft scheitert die Opposition an internen Streitigkeiten, die meist damit zu tun haben, dass parteinahe Aktivist_innen einen frontalen Angriff auf die PT-Regierung für kontraproduktiv halten. So wird oft nur darauf geachtet, nicht der rechten Opposition in die Hände zu spielen. Und wenn sich radikalere Optionen durchsetzen, greift der Staat zum beliebten wie effektiven Mittel der Kriminalisierung der sozialen Bewegungen.
Allerdings zahlt die Regierung einen hohen Preis für die Dominanz im Parteienspektrum. Dilma folgt der Lehre, die Lula aus seiner ersten Amtszeit zog. Damals konnte er sich nur mühsam den Vorwürfen einer breiten Palette von Oppositionsparteien erwehren, die mit allen Mitteln versuchten, die erste linke Regierung in Brasilia zu torpedieren. Der Korruptionsskandal mensalão, bei dem ein illegales Parteifinanzierungssystem aufgedeckt wurde, kostete ihn viele Stimmen bei der Wiederwahl und wird bis heute von der rechten Opposition und vor allem von der bürgerlichen Presse immer wieder zitiert. Für die Linke hingegen war der mensalão der Beginn eines bösen Erwachens, da ihnen klar wurde, dass „ihre“ Regierung in Sachen Ethik und Veränderungswillen nicht viel besser als ihre Vorgänger war.
Die Lehre Lulas aus seiner ersten Amtszeit war ganz einfach: Die Regierung muss auf eine breite Basis gestellt werden, möglichst viele Parteien müssen an der Macht und insbesondere an den Pfründen beteiligt werden. An erster Stelle die größte Partei, die PMDB, die schon während der Militärdiktatur entstand. Politisch kann sie kaum eingeordnet werden, da sie vor allem eine diffuse Ansammlung von Seilschaften, Lobbys und regionalen Potentat_innen ist, die mittels Regierungsbeteiligung auf allen Ebenen die hehren Ziele des Machterhalts und der Bereicherung verfolgt. Eingebunden werden darüber hinaus alle Parteien jedweder Couleur, die sich auf den Handel der politischen Unterstützung gegen die Kontrolle zumindest eines Ministeriums einlassen.
Diese in Lulas zweiter Amtszeit erfolgreiche Strategie ist auch ein zentrales Erfolgskonzept seiner Nachfolgerin Dilma. Der zu zahlende Preis entspricht dem Profil der Partner, sowohl politisch wie finanziell. Die Regierungslinie rückt in einigen Politikfeldern entsprechend nach rechts, zum Beispiel in den Bereichen Landwirtschaft oder Transportwesen. Wichtiger noch ist der Umstand, dass die Kontrolle eines – oft beliebigen – Ministeriums von der jeweiligen Partei dazu genutzt wird, die öffentlichen Gelder in erster Linie für die Bereicherung ihrer Günstlinge und für politische Einflussnahmen zu verwenden.
Diese Schwäche der Regierung Dilma nutzte die rechtsgerichtete Presse 2011, um gemeinsam mit den rechten Oppositionsparteien die Amtsinhaberin zu attackieren. Als erstes traf es im Juni den Staatsminister Antonio Palocci, der zu schnell durch zu viele Nebentätigkeiten reich geworden ist. Er trat wegen „persönlichen Verfehlungen“ zurück, aber nicht wegen Korruption im eigentlichen Sinne. Danach ging es Schlag auf Schlag: Im Juli fiel der Transportminister von der rechten, evangelikalen PR, im August der Landwirtschaftsminister und im September der Tourismusminister, beide von der PMDB. Im Oktober traf es den Sportminister von der kommunistischen Partei PCdoB und schließlich im Dezember den Arbeitsminister von der PDT.
Außer Palocci stolperten alle fünf Minister über klassische Korruptionsfälle. Allen Ministern wurde zudem vorgeworfen, sich auf Einladung von Unternehmer_innen privat vergnügt zu haben. Alfredo Nascimento hatte das Transportministerium genutzt, um mittels überteuerter Auftragsvergabe beim Straßenbau die Finanzen seiner Partei aufzubessern. Dies dürfte die Steuerzahler_innen umgerechnet 300 Millionen Euro gekostet haben. Rund 100 Millionen Euro veruntreute Ex-Landwirtschaftsminister Wagner Rossi, um Kolleg_innen und befreundete Unternehmen zu beschenken. Pedro Novais, Orlando Silva und Carlos Lupi sollen die Strukturen des Tourismus-, Sport- bzw. Arbeitsministeriums genutzt haben, um nahestehende Nicht-Regierungsorganisationen (NRO) zu sponsern. Nebeneffekt dieses Skandals war, dass die Regierung vorübergehend alle Zahlungen an Organisationen der Zivilgesellschaft einstellte und dass das Image der wirklich aktiven NRO durch die Medienpräsenz der Schein-NRO in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Präsidentin Dilma reagierte wie in der Politik allerorten üblich. Erst abwiegeln und dann, wenn größerer politischer Schaden droht, absetzen und das große Reinemachen ankündigen. Ihr Zögern wurde schnell vergessen. Innerhalb weniger Monate genoss sie das Image einer Frau, die bei Korruption – auch in den eigenen Reihen – kompromisslos durchgreift. Darüber hinaus stärkte sie ihre Position im koalitionsinternen Machtgefüge: Da alle fünf Fälle nicht die eigene PT, sondern Koalitionspartner betrafen, errang sie etwas mehr Spielraum bei der für Anfang 2012 vorgesehenen Ministerreform.
Korruption ist ohne Zweifel, in Brasilien wie anderswo, Teil der Parlamentarischen Demokratie. Genauso bekannt ist, dass die meisten groß angekündigten Feldzüge gegen Korruption, insbesondere in Zeiten des Wahlkampfs, nichts am Problem ändern, sondern nur von fehlenden politischen Konzepten ablenken sollen. Zumal passive Korruption bei Politiker-innen immer auch aktive Korruption voraussetzt. Und zwar von denen, die über die Mittel verfügen, in erster Linie Unternehmen, denen selten größere mediale Aufmerksamkeit zuteil wird.
In diesem Sinne analysiert der Ex-Minister und Vizepräsident der PSB, Roberto Amaral, die Serie von Korruptionsfällen als politischen Schachzug des in Brasilien allgegenwärtigen Medienmonopols, das es gewohnt ist, bis in höchste Ebenen Einfluss auf das politischen Geschehen im Land zu nehmen. „Es ist eine einzigartige Kampagne der Massenmedien, die – angesichts der Schwierigkeit, die Wirtschaftspolitik der Mitte-Links-Regierung zu kritisieren – sich gegen das gesamte politische Leben in Brasilien richtet. Den Bürger_innen wird suggeriert, dass unser Problem nicht die soziale Ungleichheit ist, sondern die Korruption, von der üblicherweise die Elite am meisten profitiert,“ schrieb Amaral in der links-liberalen Wochenzeitung Carta Capital.
Er vergleicht das Vorgehen der Presse heute mit einer ähnlichen Kampagne, die 1964 den Militärputsch vorbereitete. „Es wird die Idee verbreitet, dass der repräsentative Prozess die Probleme des Landes nicht löst, dass alle Politiker gleich sind, nämlich korrupt,“ führt Amaral aus. Es sei schon auffällig, so der Politiker Roberto Amaral, dass in den ersten elf Monaten der Regierung Dilma sechs Minister „durch die Presse entlassen wurden, aufgrund von nicht bewiesenen Korruptionsvorwürfen, die nicht weiter erwähnt werden, wenn das Ziel (der Rücktritt) erreicht wurde.“
Nach Ansicht des Juristen und politischen Beobachters Carlos Ferreira hat diese Pressekampagne zudem einen sozialpolitischen Hintergrund: „Zweifellos sind diese Minister korrupt gewesen, so wie viele andere auch. Aber die Summen, um die es sich handelt, sind eine Lappalie, verglichen mit großen Korruptionsfällen wie beispielsweise der Privatisierung des Bergbau-Konzerns Vale unter der Regierung Cardoso“, sagte er den Lateinamerika Nachrichten. Wenn es um die Interessen der wirklich Reichen oder Mächtigen gehe, schweige die Presse gerne. Es sei schon verdächtig, wenn jetzt gegen NRO eine so breite Kampagne losgetreten werde. „Die Elite und ihre Massenmedien haben nicht das geringste Interesse, Korruption im großen Stil zu bekämpfen“, sagt Ferreira. Was sie störe sei die Tatsache, dass unter der PT auch mal andere – seien es Gewerkschaften, NRO oder einfach nur weniger betuchte Menschen – Zugang zu öffentlichen Gelder bekämen. „Es geht also darum, die alten Hierarchien und die Umverteilung von unter nach oben wieder herzustellen,“ ist das Fazit von Carlos Ferreira.

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