Jenseits des Personenkultes
Helge Buttkereit gibt mit seinem Venezuela-Buch Wir haben keine Angst mehr Einblicke in die politischen Prozesse von unten
In der internationalen Wahrnehmung ist es um Venezuela ruhiger geworden. Doch im Laufe dieses Jahres wird sich dies ändern: Am 8. Oktober 2012 werden bei den Präsidentschaftswahlen in dem südamerikanischen Erdölland die politischen Weichen für die kommenden sechs Jahre gestellt. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich auszumalen, dass sich die meisten Medien auf eine personalisierte Berichterstattung beschränken werden. Dass es hinter dem Personenkult um Hugo Chávez in Venezuela viele interessante politische Entwicklungen, aber auch Widersprüche gibt, daran erinnert der Journalist Helge Buttkereit in seinem Buch Wir haben keine Angst mehr. Nachdem Buttkereit in seiner vorangegangenen Publikation Utopische Realpolitik mehrere linke Prozesse in Lateinamerika näher beleuchtet hat, wendet er sich nun ganz Venezuela zu. Nach einer mehrwöchigen Recherchereise hat er insgesamt sieben Interviews mit unterschiedlichen Protagonist_innen zusammengestellt, die sich innerhalb des bolivarischen Prozesses engagieren und ein heterogenes Bild der politischen Basis von Präsident Hugo Chávez zeichnen. Das Spektrum reicht von einem Verwaltungsbeamten über Sprecher_innen der basisdemokratischen kommunalen Räte bis hin zu einem Politiker der Kommunistischen Partei Venezuelas. Dabei wird nicht die „schöne Revolution” stilisiert, wie sie etwa im staatlichen Fernsehen als Kontrast zu der Berichterstattung der oppositionellen Privatsender zu sehen ist. In den von unten entstandenen, kommunitären Radios wird zum Beispiel deutlich, „dass es keine schöne, perfekte Revolution gibt”, wie es die Aktivistin Guadalupe Rodríguez aus dem seit jeher rebellischen Viertel 23 de Enero formuliert. Aber Rodríguez nennt auch viele Fortschritte, die ohne das Zusammenspiel von Regierung und Bewegungen nicht möglich gewesen wären.
Den spannenden, wenngleich teilweise etwas sperrig zu lesenden Interviews, lässt der Autor zwei Reportagen und kurze theoretische Einschübe aus antiautoritärer linker Tradition folgen. Anhand einer Zusammenfassung aktueller Texte der in Venezuela viel rezipierten Autor_innen Michael Lebowitz und Marta Harnecker gibt Buttkereit zudem Einblicke in die theoretische Reflexion der politischen Prozesse in Lateinamerika. Er selbst kritisiert, dass es in den Debatten und Vorstellungen vieler Aktivist_innen in Venezuela häufig nur darum gehe, den Erdölreichtum sinnvoll zu nutzen und den Konsum der marginalisierten Bevölkerung zu steigern. Dies habe mit Sozialismus wenig zu tun. Vielmehr sei es nötig, „dass Menschen gemeinschaftlich eine neue Form der Produktion beginnen, die die wirklichen Bedürfnisse der Menschen befriedigt”.
Durch die Mischung von Stimmen aus der Praxis, Reportagen und Theorie entsteht ein knapper, aber vielseitiger Einblick in Partizipation und Selbstorganisierung in Venezuela, der zu einer weiteren Beschäftigung mit den politischen Prozessen jenseits der Chávez-Regierung einlädt. Abgerundet wird das Buch durch ein Interview mit Aktivist_innen des Berliner Vereins Interbrigadas, der auch Kooperationspartner bei der Entstehung des Buches war. Seit einigen Jahren organisieren die Interbrigadas erfolgreiche Brigaden nach Venezuela, Bolivien sowie Kolumbien und reflektieren gleichzeitig kritisch ihr eigenes Wirken vor Ort. Beispielhaft wird dabei deutlich, wie engagierte junge Menschen hierzulande praktische Solidarität mit den Bewegungen in Lateinamerika leisten können.
Helge Buttkereit // Wir haben keine Angst mehr. Interviews, Reportagen und Analysen zum bolivarischen Venezuela // Pahl-Rugenstein-Verlag // Bonn 2011 // 167 Seiten // 14,90 Euro // www.pahl-rugenstein.de