Jenseits des sozialistischen Staates
Betrachtungen einer Ethnologin zum Gegen-, Mit- und Ineinander verschiedener Weltbilder in der kubanischen Alltagskultur
Im Mai 1993 erreicht mich aus Havanna ein ungewöhnlicher Brief. Meine Cousine schreibt, daß sie dringend einen Fächer aus Pfauenfedern, Armreifen aus Meeresmuscheln, verschiedenfarbige Glasperlen, einen schneeweißen Pyjama und ein weiteres halbes Dutzend ähnlich wichtiger Dinge benötigt. Wenn irgend möglich, soll ich dies alles bei meinem nächsten Besuch nach Kuba mitbringen, denn ihr Mann, so schreibt meine Cousine, “muß seinen Heiligen machen” Es besteht kein Zwei_fel, daß er sich in die Santería ein_weihen lassen will, in die Re_ligion, die in Kuba aus den Glau_bensvorstellungen der afri_kanischen Skla_ven hervorgegangen ist.
Die Santería
Angesichts üppiger Meldungen in deutschen Medien über die wirtschaftliche Not auf der sozialistischen Insel überrascht mich diese Wunschliste. Schließlich erreichen mich seit Jahren Briefe aus Kuba, in denen Schreiberinnen voller Sinn fürs Profane um Nylonstrümpfe, Büstenhalter und Ausgehschuhe – und auch mal um eine Sonnenbrille von Dior oder ein drahtloses Telefon – bitten. Der Gedanke, daß meine Verwandten sich in den Zeiten des Niedergangs der sozialistischen Zentralwirtschaft mit dem “Opium fürs Volkesen”. Doch erst seit einigen Jahren bekennen sie sich immer mehr offen zu den bisher vielfach diskriminierten Glaubensvorstellungen, die so sehr ein Teil von ihnen sind, daß man Santería als die geheime und verkannte Volksreligion der Kubaner ansehen kann.
Bei meinem Besuch im August 1993 stelle ich fest, daß die Santería mittlerweile sogar in den früher ausschließlich Diplomaten und ausländischen Touristen vorbehaltenen diplotiendas präsent ist. Im Monat zuvor hatte die Regierung die Dollarisierung der kubanischen Wirtschaft legalisiert und allen Kubanern den Besitz der US-Währung erlaubt. An der Kasse der größten diplotienda von Havanna drängen sich nun neben wenigen Ausländern
gleichfalls mit Dollars gesegnete junge Kubanerinnen, die auch am hellichten Tag so etwas wie eine zweite schillernde Synthetikhaut tragen, und ein förmlich gekleideter Herr, der auffällt, weil er die begehrten und überteuerten Produkte – überwiegend US-amerikanischen Ursprungs – nicht mit Dollars, sondern mit Gutscheinen der sozialistischen Regierung bezahlt. Noch an der Kasse unterhält er sich angeregt mit zwei älteren Frauen über die vor einigen Tagen merklich angehobenen Preise für aguardiente de caña, einem Zuckerrohrschnaps, der für viele Rituale der Santería unentbehrlich ist. Die Frauen sind ganz in Weiß angezogen und mit Halsketten aus bunten Glasperlen geschmückt. Als Novizinnen der Santería müssen sie mehrere Monate lang auch in der Öffentlichkeit diese Kleidung tragen. Entspannt schieben sie ihr vor allem mit dem speziellen Schnaps beladenes Einkaufswägelchen als nächstes zur Kassiererin.
Die ungewöhnlich und willkürlich anmutende Zusammensetzung in der Warteschlange der diplotienda kann man als typisch kubanisch ansehen. Sie steht für die Gleichzeitigkeit uns widersprüchlich erscheinender Weltanschauungssysteme und Organisationsformen des Sozialismus, Kapitalismus und der Santería, die nicht erst seit jüngster Zeit gemeinsam die kubanische Gesellschaft prägen. Alle drei Systeme sind auch während des sozialistischen Staates für die Lebensorientierung vieler Kubaner wichtig geblieben, erfuhren aber im Laufe der Zeit unterschiedliche Gewichtungen. Dies wird besonders deutlich bei den sogenannten “kleinen Leuten”. Mit ihren Tradi_tionen, ihren Fertigkei_ten und ihrem Wissen ha_ben sie die heutige Situation Ku_bas und die Geschichte der letzten Jahrzehnte we_sentlich サvon untenFehler: Referenz nicht gefundeni liefen, anderenteils diesen aber auch entgegensteuerten. Um diese Mitbestimmung von unten zu veranschaulichen, will ich ein wenig von den Bewohnern eines Stadtviertels von Havanna, des barrio de los tabaqueros, erzählen.
Die eigenen Wurzeln
Zu den Bewohnern dieses Viertels verbindet mich von 1981 an ein besonderes Verhältnis. Etwa einmal im Jahr reise ich seither regelmäßig nach Kuba und besuche dort für einige Wochen auch meine Verwandten; denn meine Mutter war Kubanerin. An dieser Stelle meiner Familienbiographie angelangt, muß ich stets eine Erklärungerten, auf Dauer dort zu bleiben. Trotzdem wurde sie, wie viele nach der Revolution, in die Position einer Exilkubanerin gedrängt und durfte ihre Heimat nur in Ausnahmefällen besuchen. Dieses für sie schmerzhafte persönliche Schicksal hat auch meine Sichtweise von Kuba beeinflußt. Es hat sicherlich meine Zuneigung zu den kleinen LeutenFehler: Referenz nicht gefunden diese beiden Bevölkerungsgruppen nicht zu polarisieren, sondern zu zeigen, wie sie im Alltag eng zusammenwirken.
Das barrio de los tabaqueros war nie ein privilegiertes Viertel. Die Bewohner der Gründungszeit erzählen, daß es in den zwanziger Jahren von Tabakfabrikanten angelegt wurde, um ihre Arbeiter dort anzusiedeln. Die schmalen Grundstücke wurden aufgrund der großen Nachfrage unter denen, die sich den Kauf leisten konnten, verlost. Das sollte man wissen, wenn man den Ausspruch hört, der Großvater habe damals das Grundstück サin der Lotterie gewonnenォサFamiliengeschichte
Mein Großvater war chinesischer Abstammung und in Schuldknechtschaft geboren. Als Jugendlicher hatte er sich mit dem Gewinn aus einer Nebentätigkeit als Kleinhändler von seinem Patrón freikaufen können. Auch während seiner Arbeit in der Tabakfabrik bot er, unterstützt von seinen ältesten Kindern, an einem fahrbaren Stand Obst und Gemüse feil. In dieser Zeit gab er die Mitgliedschaft in einem Traditionsverein der Chinesen von Havanna auf. Er fühlte sich nach und nach in der Gemeinschaft der サrassischFehler: Referenz nicht gefundeneßen sich die Arbeiter beim eintönigen Zigarrendrehen aus den Werken von Marx, Engels und Lenin vorlesen. Die Oktoberrevolution beflügelte ihre Hoffnung auf eine gerechte, egalitäre Gesellschaft. So verwundert es nicht, daß mein Großvater seinem Anfang der dreißiger Jahre geborenen Sohn den Vornamen Lenin gab. Er selbst hatte bereits als Jugendlicher – mit prophetischer Weitsicht, so könnte man meinen – den Nachnamen Castro angenommen.
Auch meine Großmutter, die mit 14 Jahren heiratete, stammte aus bescheidenen Verhältnissen. Sie wuchs weniger bei ihrem gutsituierten baskischen Vater auf, auf den die Familienmitglieder heute noch mit Stolz hinweisen, als vielmehr bei ihrer früh verstorbenen Mutter, über deren Herkunft und Hautfarbe man sich in der Familie hartnäckig ausschweigt. Wie viele Kubaner versuchen die Familienmitglieder beharrlich, sich zu “verweßlichen” indem sie ihre afrikani_schen Vor_fahren verdrängen und notfalls ihre Haut_farbe auf eine als edler geltende Abstam_mung von Indianern zu_rückführen. Zu diesem サVerweißlichungsprozeßFehler: Referenz nicht gefundenulbildung karitativen Einrichtungen der katholischen Kirche, deren Vertreter großen Wert auf Distanz zum サAberglaubenFehler: Referenz nicht gefundenOchú: Einnehmend, kokett, lebenslustig, untreu
Diese als aufgeklärt geltende Haltung, die sich an den Vorstellungen der Oberschicht orientierte, verhinderte jedoch keineswegs, daß die Santería den Alltag meiner Großmutter und ihrer Kinder durchdrang. Alle fühlten sich jeweils einem bestimmten Heiligen besonders verbunden, dessen サTochterFehler: Referenz nicht gefundenSohnFehler: Referenz nicht gefundenrd, unter anderem als großzügig, einnehmend, kokett, lebenslustig und untreu.
Die Töchter der Caridad oder Ochúns trugen mit Vorliebe Gelb, die Farbe ihrer Heiligen. Da Ochún, wie alle Heiligen, ständig in die Angelegenheiten der Menschen eingreift, versucht man, sie durch Gaben und Gefälligkeiten wohlzustimmen und hofft, daß sie einem Wünsche – insbesondere in bezug auf Gesundheit – erfüllen werde. Einmal im Jahr brachte meine Großmutter ihrer Heiligen großzügige Essens- und Getränkegaben dar, die anschließend von den geladenen Gästen, Verwandten, Nachbarn und サKindernFehler: Referenz nicht gefundenänger wußten selbst nicht, daß sie ebensolche waren. So hielt auch ich lange Zeit die reinigenden Abreibungen mit Weihwasser und Kölnisch Wasser, die mir meine Mutter regelmäßig zukommen ließ, damit böse Mächte von mir abgehalten wurden, für einen festen Bestandteil orthodoxer katholischer Praktiken.
Vom Zentralmarkt zur Musik
Den Wunsch nach gesellschaftlichem Aufstieg und wirtschaftlicher Absicherung versuchte die Familie meiner Großeltern von Anfang an ganz pragmatisch über Kleinunternehmertum zu verwirklichen. Ihr gemauertes Haus inmitten der sonst im Viertel üblichen Holzhäuser weist noch heute auf die zwar ungewöhnliche, aber trotzdem nicht untypische Familiengeschichte hin. Unter gemeinsamer Anstrengung brachten meine Großeltern es Mitte der zwanziger Jahre zu einem eigenen Stand im Zentralmarkt von Havanna und damit zu einem bescheidenen Wohlstand. In der Folge des Schwarzen Freitags, der 1929 die Weltwirtschaftskrise einläutete, verloren sie jedoch ihre gesamten Ersparnisse. Danach konnte sich die Familie insbesondere durch den wirtschaftlichen Beitrag ihrer Töchter über Wasser halten. Die Eltern hatten großen Wert darauf gelegt, daß die elf Töchter ein Handwerk und auch Musik spielen lernten. Anfang der dreißiger Jahre traten die Schwestern zunächst als Son-Septett auf, später hatten sie als Jazz-Band auch international Erfolg. Die Musikerinnen verhalfen der Familie wieder zu wirtschaftlichem Aufstieg. An dessen Höhepunkt leistete sich mein Großvater eine Reise zur Weltausstellung nach New York und erfüllte einer seiner Töchter den Lebenstraum einer Audienz beim Papst.
Das Liedgut der Frauenband schöpfte, wie ein großer Teil der kubanischen Musik, von den Glaubensvorstellungen der Santería. Just als nach gut 30 Jahren das Musikgeschäft den Schwestern keine allzu großen Perspektiven mehr bot, übernahmen in Kuba die Revolutionäre die Macht. Der sozialistische Staat förderte die Musikszene breit und großzügig. Meinen Tanten gelang es, das Frauenorchester bis Ende der achtziger Jahre weiterzuführen. So erhielten sie bis ins hohe Alter bei einem festen, relativ hohen Einkommen Anerkennung und Beschäftigung als Musikerinnen.
Trotz ihrer Sympathien für den Sozialismus und für die Proteste der Studenten gegen den Diktator Machado engagierten sich die Familienmitglieder nicht in der Politik. In den Jahren, die von der wirtschaftlichen und politischen Krise bestimmt waren, verhielten sie sich abwartend und konzentrierten sich darauf, die alltäglichen Herausforderungen zu bewältigen. Wie die meisten in ihrem Viertel, ergriffen sie während des Guerilla-Kampfes nicht aktiv Partei für die Revolutionäre. Doch schon bald nach dem Machtwechsel wandelte sich bei vielen die Zurückhaltung in Begeisterung und Unterstützung für die ersten Veränderungen. Jene Tante, die zum Vatikan gereist war, konvertierte, so erzählt man sich, über Nacht vom Katholizismus zum Guevarismus und spendete – zum ungläubigen Erstaunen der Familienangehörigen – ihren Schmuck für den Aufbau des Sozialismus. Bis zu ihrem Tod verehrte sie Che und Fidel mit der gleichen Inbrunst wie die Jungfrau der Caridad und vormals den Papst. Sie wurde die Vorzeige-Sozialistin der Familie und somit die Spezialistin für Behördengänge und Kontakte mit Parteistellen.
Sozialisten, Kapitalisten und Santeros
Eine vergleichbare Konstellation ergab sich in den ersten Jahren nach der Revolution bei vielen Familien des Viertels der tabaqueros: Einige wenige Familienangehörige bekannten sich nun öffentlich unzweideutig zum Sozialismus und erhielten bevorzugten Zugang zu Wohnungen, einträglichen Arbeitsplätzen und Luxusgütern wie Fernsehern, Kühlschränken und Autos. Die Mehrheit der Bewohner des Viertels unterstützte Maßnahmen der Regierung jedoch eher sporadisch und hielt – in der für sie bewährten Art – Distanz zur Politik.
Bei der sozialistischen Staatspartei waren die Werte des individuellen Unternehmertums und des orthodoxen Katholizismus nicht mehr gefragt. Ganz im Stil der früheren Oberschicht wurde die Santería auch von den neuen Regierenden als rückschrittlich, primitiv und gewaltverherrlichend verpönt. Die öffentliche Haltung eines Individuums zum Staatssozialismus war fortan für seine sozioökonomische Stellung entscheidend. Dies bewirkte, daß die Bewohner des Viertels in ihren Diskursen zunehmend die drei für sie wichtigen Weltanschauungssysteme – den kubanischen Sozialismus, den US-amerikanischen Kapitalismus und die Santería – isolierten, einander gegenüberstellten und plakativ nur für ein System Partei ergriffen.
Der idealtypische Diskurs des Sozialistenuser. Er ist der einzige, dem es gelingt, schwerwiegende Mißstände durch persönliche Alleingänge zu beseitigen. In Kuba hungert niemand, alle haben die gleichen Bildungschancen und medizinische Versorgung; somit übertrifft Kuba sogar die auch von den Sozialisten im materiellen Bereich bewunderten USA. Die mißliche Versorgungssituation des Alltags ist auf die Unzulänglichkeiten der Menschen zurückzuführen, denn im Gegensatz zu Fidel (und Che, der eine Sonderrolle spielt) sind die normalen Menschen äußerst fehlbar.
Für den US-KapitalistenFehler: Referenz nicht gefundeneines jeden Kubaners führen muß – zu gutem Essen, makelloser Garderobe und einem Auto. Da die Kubaner als Unternehmer unübertrefflich sind, sind sie im Prinzip die idealen US-Bürger, wie sie bereits in Miami unter Beweis stellen konnten.
Der idealtypische Diskurs des Santero hat es nicht nötig, die obigen Weltanschauungssysteme groß gegeneinander abzuwägen, denn beide sind der Santería untergeordnet. So kreisen die Gedanken des Santero konkreter um die Personen, die ihn im Alltag umgeben, und um die Frage, wie man mit Hilfe der Heiligen durch überirdische Mächte Ehepartner, Verwandte, Glaubensgenossen und andere beeinflussen kann. Dies entspricht dem kubanischen Naturell, denn der Kubaner ist mandón, er kommandiert gern herum und zwar am liebsten Leute, die ihm nahestehen. Doch als ausgesprochener Pragmatiker behält der Santero zugleich die übergeordneten irdischen Kräfte im Auge und respektiert sie – solange sie auch von den Heiligen gestützt werden.
Pragmatische Allianzen
Wie die polarisierten Weltanschauungen im Alltag zusammenfließen, das zeigte sich beim Abschluß der Panamerikanischen Spiele im Sommer 1991. Alle im Viertel schwärmten vom großen Erfolg der kubanischen Sportler. Sogar der Ärger über die immer mehr mit Sojaschrot gestreckten Hackfleischrationen und die mit Süßkartoffelmehl versetzten Brötchen, die nach einem Tag zu backsteinähnlicher Härte mutierten, war kurzfristig vergessen. Auch die dem US-Kapitalismus zugetanen Leute, die sich Fidel zur Hauptfigur zahlloser bissiger Witze erkoren haben, führten den überragenden Erfolg der Sportler fast ausschließlich auf den Staatschef zurück. Eine für ihre freiwilligen Einsätze mehrfach ausgezeichnete Arbeiterin erklärte dies wie folgt: サHast du bemerkt, daß er unter der Armbanduhr die farbigen Bänder seines Heiligen trägt und vor jedem Sieg der Kubaner unmerklich die Hand gehoben hatte?Fehler: Referenz nicht gefundenTrotz der nach außen gekehrten Gegensätze zwischen den Verfechtern des Sozialismus und des Kapitalismus gibt es im Alltag des Viertels eine enge Zusammenarbeit zwischen erklärten Sozialisten und “Nicht-Sozialisten” Ihre Kum_panei ist so zentral für die Wirtschafts_weise, daß viele Bewohner der Meinung sind, Kuba sei nicht vom socialismo, son_dern von einem Sy_stem des sociolismo (von socio = Genosse, Freund) bestimmt. Die Nicht-Sozialisten sind auf die Koope_ratioサ der Parteigänger angewiesen, um lukrative Arbeitsplätze in Fleischfabriken, im Tourismusgewerbe oder im Diplomatenviertel einnehmen zu können. Als einträglich erweisen sich diese Stellen durch die Möglichkeit, an Devisen, Fleisch, Rum und andere Waren heranzukommen, um sie dann in den Schwarzmarkt einspeisen zu können. Außerdem brauchen sie für ihr illegales Kleinunternehmertum die Protektion durch die Parteigänger. Nur mit ihrer Hilfe können sie die Güter beschaffen und produzieren, die die Zentralwirtschaft entweder gar nicht oder nicht in ausreichender Menge zur Verfügung stellt. Die erklärten Sozialisten wiederum benötigen die Geschäftemacher, um in den Genuß von illegal beschafften Waren zu kommen, ohne sich selbst die Hände schmutzig machen zu müssen. Dabei sind die Macht und das soziale Prestige zwischen beiden Gruppen jedoch ungleich verteilt. Überspitzt könnte man sagen, daß, während die einen die Früchte ihres Bemühens stolz präsentieren können, die anderen permanent mit einem Bein im Knast stehen. Im Alltag aber ist das Zusammenwirken zwischen Sozial-isten und Nicht-Sozialisten meist durch die familiäre Solidarität und die Einsicht abgesichert, daß die staatliche Planwirt-schaft ohne die kleinen Geschäftemacher längst am Ende wäre.
Der Sozialismus und die “kleinen Leute”
Ob 1993, im Jahr der wirtschaftlichen Krise, oder 1981, dem Jahr meines ersten Besuches (rückblickend kann man es als ein Jahr des wirtschaftlichen Wohlstandes bezeichnen): die staatlich gelenkte Zentralwirtschaft mußte zu jeder Zeit von den privaten Initiativen der kleinen LeuteFehler: Referenz nicht gefundenDiesem Bereich widmeten die Revolutionäre schon bald nach ihrem Sieg große Aufmerksamkeit. Bezüglich den Zielvorstellungen wurden sie mit den サkleinen LeutenFehler: Referenz nicht gefunden Im Viertel der tabaqueros wurde zwar nie – wie im Zentrum und anderswo – ein Eispalast eingerichtet, doch tauchte bis 1989 mit geschätzter Regelmäßigkeit ein Kühlwagen auf, dessen Ladung von Pappkartons mit gefülltem Sahneeis reißenden Absatz fand. Die bis dahin selbstverständlichen monatlichen Rationen von Bier, Rum und Zigaretten waren während der Zeiten eines von der Sowjetunion mitgetragenen wirtschaftlichen Wohlstandes nicht unwesentlich für die breite Unterstützung, der sich die sozialistische Regierung erfreuen konnte.
Die Versorgung organisieren
Bezüglich der Organisation der wirtschaftlichen Versorgung gab es allerdings keine Einigkeit. So trieb die sozialistische Regierung von Anfang an die gleichwertige Integration von Männern und Frauen in die Staatsbetriebe voran und entmutigte eine Tätigkeit als “Nur-Hausfrau” Die soge_nannten サHausfrauenEin Grund dafür war, daß ein in die Arbeitswelt der Staatsbetriebe integriertes Ehepaar gar nicht in der Lage war, sich selbst zu versorgen. Die Betriebe garantierten zwar eine Grundversorgung mit Essen, jedoch nicht etwa mit Kleidung und Haushaltsgegenständen. Deren legale Beschaffung über die libreta, das Bezugsscheinheft, war normalen Werktätigen aus Zeitgründen ebensowenig möglich wie engagierten Parteimitgliedern. Neben ihrer サeigentlichenFehler: Referenz nicht gefundenfreiwilligerFehler: Referenz nicht gefundenDie Zeit vor der período especial genannten Wirtschaftskrise Anfang der neunziger Jahre läßt sich folgendermaßen beschreiben: Zwischen fünf und sechs Uhr morgens zwängen sich überwiegend Männer in die überladenen Busse oder steigen auf Lastwagen und entschwinden für den Rest des Tages in den dunklen Abgaswolken am Horizont. Dann übernehmen die Frauen das Viertel, das eher nach ihnen als nach den früheren Tabakarbeitern benannt sein müßte. Die Frühaufsteherinnen reihen sich mit den libretas mehrerer Familienmitglieder und Nachbarinnen gewappnet in die gefürchtete Brotschlange ein. In letzter Zeit versucht ein Polizist, den wachsenden Andrang auf eine sinkende Anzahl von Brötchen in geordneten Bahnen zu halten.
Zeitraubendes Schlangestehen gehört jedoch nicht zu den größeren Herausforderungen für die Hausfrauen. Aufgrund der unregelmäßigen Belieferung der bodegas, der Verteilerstellen, müssen sie zunächst einmal ausmachen, wo überhaupt eine Schlange ist. Dieses Problem, so könnte man meinen, kommt den Bewohnerinnen des Viertels nicht ganz ungelegen. Ihre Lebensart, ihre nie endende Gesprächsbereitschaft, sowie das Sozialleben, das sich in den meist offenstehenden Häusern und unter den Vordächern abspielt, fördern die Kommunikation, die wahrscheinlich sowieso als das vorherrschende Grundbedürfnis der Kubanerinnen und Kubaner bezeichnet werden müßte. Dieses Informationsnetz ist so engmaschig und reaktionsschnell, auch Dank des Gebrauchs des nicht zuletzt deswegen hoffnungslos überlasteten Telefonnetzes, daß oft schon die ersten in der Schlange stehen, bevor der Lieferwagen, behindert durch unzählige Schlaglöcher, den Weg durchs Viertel zur bodega gefunden hat.
In den letzten Jahren ist der Bereich der Nahrungsmittel- und Güterbeschaffung zur Vollzeitbeschäftigung der Hausfrauen herangewachsen und füllt ein Gutteil des Vormittags aus: Gegen zehn Uhr hallt ein Schrei durch die offene Haustür. Eine Nachbarin meldet aufgeregt, daß endlich die kubanische Malanga angekommen ist. Die Hausbewohnerinnen sind erleichtert, denn sie behaupten, daß die vor kurzem als Malanga-Ersatz verwendeten russischen Kartoffeln stechende Bauchschmerzen verursacht hätten, was in nicht wenigen Fällen zu chronischer Appetitlosigkeit geführt haben soll. Die Nachbarin bekommt einige der frühmorgens erstandenen Brötchen und übernimmt dafür einen Stapel libretas für den Malanga-Einkauf. Eine halbe Stunde später klingelt das Telefon. Eine Verwandte, die einige Häuserblocks entfernt wohnt, hat den Gaslastwagen erspäht. Da seit Tagen das Gas zum Kochen im Haus ausgegangen ist, wird eiligst jemand zum LKW geschickt, der versuchen muß, den Fahrer mit ein paar Geldscheinen zu einem kleinen Umweg zu bewegen. Wenig später steht ein Rentner in der Tür. Umständlich kramt er aus einer verdeckt gehaltenen Stofftasche selbstgebastelte Papierblumen heraus. Die Hausbewohnerinnen mustern sie kritisch. Zwar ist das Geld knapp und der Preis für die Blumen eigentlich zu hoch, aber ausgerechnet gestern nacht sind einer Freundin die verstorbenen Eltern im Traum erschienen. Besorgt hatte sie gleich am Morgen angerufen und berichtet, sie befürchte, die Eltern könnten eines ihrer Kinder krankmachen und zu sich holen, weil sie sich so sehr nach den Kleinen sehnten. Mit den farbenfrohen Papierblumen lassen sich die toten Eltern gewiß besänftigen. Also werden sie dem Rentner abgekauft. Kurz danach übertritt eine andere Nachbarin ohne große Formalitäten die Schwelle des Hauses. Sie holt wieder einmal die Dosenmilch ab, auf die die Kleinkinder ein Anrecht haben. Die meisten Mütter des Viertels sind sich sicher, ebenso wie inzwischen auch viele kubanische Ernährungswissenschaftler, daß die Milch für Kinder nicht bekömmlich ist. Für einen relativ hohen Preis verkaufen die Mütter die Dosenmilch lieber an Hausfrauen, die sie zu traditionellen Süßspeisen wie flan – einer Art Pudding – verarbeiten, die sie dann verkaufen.
Das Schlangestehen wird von den Hausfrauen arbeitsteilig organisiert. Dabei kooperieren an erster Stelle die Familienmitglieder. Am Rande dazu gehören die novios, die männlichen Heiratsanwärter, die von den Familienmitgliedern ihrer Künftigen in einer Art Vorbrautdienst beim Schlangestehen auf ihre Brauchbarkeit getestet werden. Manche Familien leisten sich professionelle Schlangesteher, wobei sich pensionierte Männer auf diese Dienstleistungssparte spezialisiert haben.
Rituelle Verwandschaft – gegenseitige Unterstützung
Bei der Beschaffung von Gütern besonders behilflich sind sich die Mitglieder von Santería-Gemeinschaften, die eine rituelle Verwandtschaft zueinander pflegen. Ähnlich wie Familien es gerne sehen, wenn ein künftiges Mitglied aus einem attraktiven Produktions- oder Dienstleistungszweig kommt, tun dies auch Gemeinschaften der Santería. Eine der am besten funktionierenden Gemeinschaften des Viertels ist bekannt dafür, daß sie mit Erfolg Vertreter der wichtigsten Berufssparten zur regelmäßigen Teilnahme an religiösen Treffen hat bewegen können: Angestellte von Fleisch- und Wurstfabriken, Großbäckereien, Hotels, Restaurants und Bars. In diesen schweren Zeiten, in denen die früher gerühmte Gastfreundschaft des Viertels zwangsweise suspendiert ist, finden die einzigen großen Einladungen zu einem Essen nur noch an den Festen zu Ehren der Heiligen im Lokal der Santería-Gemeinschaft statt. Lange Zeit gehörte ein im Viertel sehr beliebter bodeguero zu diesem Kreis. Dank seines Heiligen, so erzählen sich die Bewohner des Viertels, entging dieser risiko- und lebensfreudige Mann dem Schicksal zahlreicher bodegueros: Als bevorzugte Sündenböcke für den illegalen Kleinhandel wurden sie nach einigen Jahren abgesetzt und kurzerhand für einige Zeit ins Gefängnis gesteckt. Aus ständiger Angst vor diesem Schicksal starb der hilfreiche bodeguero allerdings vorher an einem Herzinfarkt. Doch auch im Jenseits ist er für viele ein wichtiger, einflußreicher Mann geblieben. Man ist sich einig, daß der Totengeist des bodeguero seinen ungewöhnlichen Organisations- und Geschäftssinn nun in den Beziehungen zu den Heiligen einsetzen und mit seiner Hilfe viel erreicht werden kann. So achtet man in vielen Häusern am Namenstag des bodeguero darauf, für ihn eine Kerze aufzustellen.
Habaneros und guajiros
Eine besondere Solidarität gibt es auch unter den älteren Gründungsmitgliedern des Viertels. Aufgrund der steten Zuwanderung nach Havanna seit den dreißiger Jahren beherbergt das Viertel heute, neben den Nachkommen der Zigarrendreher, zahlreiche ehemalige “Landbewohner” Dieje_nigen, die seit der zweiten Genera_tion in Havanna ansässig sind und sich deswegen ge_trost als Habaneros ausgeben dürfen, be_zeichnen praktisch al_les, was außerhalb ih_rer kosmopolitischen Stadt liegt, gering_schätzig als el campo. Die Landbewohner, die guajiros, betrachten sie im Gegensatz zu sich selbst als rückständig und mehr oder weniger unkultiviert. Doch in letzter Zeit müssen die Habaneros die früher herablassend behandelten guajiros umwerben, denn diese sind mit dem Vorteil ausgestattet, Verwandte auf dem Land zu haben, die allerlei nützliche Produkte besorgen können. Selbst die Sitte der guajiros, in den kleinen Patios und Gemüsegärten (und zur Not auch in den Häusern selbst) Hühner, Ziegen und Schweine zu halten, wird nun von den Habaneros geschätzt und zunehmend übernommen.
Im halblegalen und illegalen Bereich der Güterversorgung hat sich zwischen 1981 und 1993 ein dramatischer Wandel vollzogen: 1981 besorgte man sich bei spezialisierten Händlerinnen meist nur サLuxusgegenständeHändlerinnen die bevorzugten Anlaufpersonen. Mit der Schließung der Geschäfte, in denen man legal für ein Vielfaches der libreta-Preise solche Artikel einkaufen konnte, erlosch der サgraue Marktォ Nach und nach mußten sich die Leute von den il_legalen Spezialistin_nen selbst Grundnah_rungsmittel beschaffen lassen. Als 1990 die mit Kuba verbündeten Staaten des Ostblocks zusammenbrach, und die Re_gierung den período especial ausrufen mußte, wuchs dサr illegale Bereich zum eigentlichen Versorgungsträger heran. Nun war man selbst bezüglich der elementarsten Zutaten der kubanischen Küche auf den teuren Zukauf von Reis, Bohnen und Eiern angewiesen. Zwar standen diese Grundnahrungsmittel jedem nach wie vor in reduzierter Menge auf libreta zu, doch wurden die Lieferungen an die bodegas immer unvollständiger und seltener.
Frauenrollen und Männerrollen
Im Sommer 1993 muß man feststellen, daß die Hausfrauen für die wirtschaftliche Situation einer Familie bei weitem bedeutsamer sind als die werktätigen Männer und Frauen, die サnurFehler: Referenz nicht gefundenRestaurants werden mittlerweile im Viertel betrieben. Andere Unternehmen, die vornehmlich von Frauen geführt werden, sind Schneidereien, Maniküre- und Friseursalons. Welch wichtigen Teil der Versorgung die Privathaushalte übernehmen, wird an dem Umstand deutlich, daß dort mittlerweile selbst Seife und Schuhe hergestellt werden müssen. Jetzt betätigen sich zunehmend auch Männer, die wegen Rohstoffmangel in den Staatsbetrieben arbeitslos geworden sind, in den privaten Kleinmanufakturen.
In der Zeit vor der Revolution waren die Versorgung des Viertels und die Familien ähnlich organisiert: Die Hausfrauen der Unterschicht ernährten als Kleinproduzentinnen und -händlerinnen die matrifokalen Familien. Viele Männer traten nur in einer Art Satellitendasein in den Familien in Erscheinung. Ihr Beitrag zum Familienleben und zur häuslichen Wirtschaft war eher unregelmäßig. Die Männer der Mittel- und Oberschicht hielten sich neben der Familie mit ihrer offiziell angetrauten Frau oft noch weitere Familien mit Nebenfrauen aus der Unterschicht. Die Männer der Unterschicht hingegen durchliefen mehrere nicht legalisierte, monogame Beziehungen, die uniones libres. Bei Problemen fanden Frauen eher bei ihren Familienangehörigen als bei ihren Männern dauerhaften Rückhalt. Um sich und ihre Familie selbständig ernähren zu können, war es vor der Revolution üblich, daß Mädchen ein Handwerk lernten, etwa Friseuse, Näherin oder Stickerin. Diese Erwerbstätigkeit wurde als regelrechter Bestandteil der サHausfrauentätigkeitFehler: Referenz nicht gefundenDen familiären Beziehungen und der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern innerhalb der matrifokalen Familien entspricht ein spezifisches Selbstverständnis der Frauen: Sie empfinden sich als von Natur aus vernunftbegabter, berechnender und geschäftstüchtiger als die Männer. Diese gelten als von Natur aus triebhaft, unstet und eher künstlerisch begabt. In der Liebe kreisen daher die Diskurse der Frauen oft um die Taktiken, die anzuwenden seien, um einen Mann サfestzubindenォ Kurz vor ihrer ersten Hoch_zeit erhielt eine mei_ner Cousinen von ihren älteren Tanten folgen_den Rat: サDu mußt deinen Ehemann immer fest an der Leine halten. Laß ihn ab und zu ein bißchen los, zieh’ ihn aber immer wieder fest an dich heran!Fehler: Referenz nicht gefundenMacht euch keine Sorgen, ich habe ihn gut im Griff, er wird mir nicht entkommen. Dabei soll er aber den Eindruck haben, er wäre völlig frei.ォ
Tatsächlich hofieren die Männer mit Vorliebe in der Öffentlichkeit サfremdeeckt wird, auch von den Männern mit der angeborenen Triebhaftigkeit entschuldigt. Wenn möglich aber projizieren sie die eigene Untreue auf die Frauen. Besonders gern spielen sie die Gefahr hoch, ihre eigene Frau könne andere Männer in den Bann ziehen, geben sich rasend eifersüchtig und rechtfertigen damit Vorschriften ihrer Frau gegenüber, etwa in bezug auf die Kleidung und ihre abendlichen Ausgehzeiten.
Strategien gegen “Nur-Hausfrauen”
Die sozialistische Regierung setzte der matrifokalen Familienorganisation das Ideal einer monogamen Kleinfamilie im Stil des europäischen Bürgertums entgegen – mit dem Unterschied, daß Mann und Frau gleichermaßen in das Arbeitsleben integriert sein sollten. Sie steuerte der traditionellen Geschlechterbeziehung auf mehrere Weisen entgegen. So hat sie die Legalisierung der サfreienFehler: Referenz nicht gefundenich die Gegenmaßnahmen auf die Ebene des Parteidiskurses. Darin wurden die Lebensformen von サNur-HausfrauenFehler: Referenz nicht gefundenArbeiterinnenFehler: Referenz nicht gefundenNur-HausfrauenFehler: Referenz nicht gefundenProblemFehler: Referenz nicht gefundenanachronistische MentalitätFehler: Referenz nicht gefundenngst die wirtschaftliche Bedeutung dieser Struktur erkannt hatte.
Gesundheitsversorgung: Penecillin, Kräuter und Weihwasser
Auch im Bereich der Gesundheitsversorgung ging die Regierung auf die Vorstellungen und die Gewohnheiten der サkleinen LeuteFehler: Referenz nicht gefundenezialistinnen und Spezialisten gibt, die die Erkenntnisse der Volksmedizin, der Santería und der サwestlichen. Diese Art von Krankenbehandlung war auch in den Zeiten einer hervorragend funktionierenden staatlichen Gesundheitsversorgung unter den Bewohnern des Viertels üblich. Sie nahmen beide Systeme in Anspruch, ohne darin einen Widerspruch zu sehen. Sogar das Renommierkrankenhaus von Havanna, das Hermanos Almejeiras, welches nach dem Stand der orthodoxen medizinischen Wissenschaften der USA ausgerichtet und hervorragend ausgestattet ist, ordneten die Leute ihrem eigenen Gesundheitsverständnis unter. Bezeichnend ist der Fall einer Frau, die vor Jahren unmittelbar vor einer wichtigen Herzoperation dieses Krankenhaus wieder verließ. Ein Pfleger hatte sie in der Ansicht bestärkt, daß sie vor der Operation noch eine offene Rechnung mit ihrer Heiligen begleichen sollte. Der Pfleger war ein Novize der Santería und gehörte damals zu den wenigen Glücklichen, die sich ganz in weiß kleiden konnten, ohne Nachteile befürchten zu müssen.
Fast immer sind lebensbedrohende Krankheiten der Anlaß, einen religiösen Spezialisten aufzusuchen und sich in die Santería einweihen zu lassen. Jetzt, wo in den staatlichen Krankenhäusern Einwegspritzen fehlen und die Bettwäsche selbst mitgebracht werden muß, wächst der Stolz auf das santería-eigene サGesundheitssystemォ Immer mehr Leute, so auch der Mann meiner Cousine, scheuen sich nun nicht mehr davor, sich mit einer Weihe öffentlich zur Sante_ría zu bekennen.サDie Partei und die Religion
Lange Zeit wurde die Santería von der sozialistischen Regierung vehement bekämpft, wohl weil sie soziale Kräfte zu mobilisieren und als Weltanschauungssystem mit dem Sozialismus zu konkurrieren vermag. Sie wurde zwar offiziell nicht verboten, doch schloß man Partei- und Santería-Mitgliedschaft gegenseitig aus. Da die Ausübung der Santería mit Nachteilen verbunden sein konnte, insbesondere für Familienmitglieder, die in Regierungsinstitutionen arbeiteten, gingen die Santeros zwangsweise mit großer Diskretion vor. Die Porzellan- oder Terrakotta-Figuren, die Heilige repräsentieren, die Suppenterrinen, in denen die Essenzen der Heiligen aufbewahrt werden, die mit Wasser gefüllten Gläser für die Totengeister, das alles hatte – wie zur Zeiten vor der Revolution, als Santería von der Oberschicht und der katholischen Kirche diskriminiert wurde – den Charakter des Alltäglichen und war kaum vom üblichen Hausinventar zu unterscheiden.
In den achtziger Jahren änderte die Regierung ihre rigide Haltung gegenüber dieser Volksreligion. Ihre Strategie war, die Musik und die Rituale der Santería durch ihre Folklorisierung für den Tourismus zu nutzen und zugleich deren religiöse Bedeutungen auszuhöhlen. Diese Politik erwies sich jedoch als ein zweischneidiges Schwert. Immer mehr Ausländer und Einheimische erachteten jetzt Santería als wesentlichen Bestandteil der nationalen Identität der Kubaner. Auch überstand die religiöse Integrität der Santeros offenbar unbeschadet das Pendeln zwischen den Nachtclubs der Hotels und den Heiligenfesten in ihrem barrio. Scheinbar boten diese Musiker dem Nachtclubpublikum dieselben heiligen Rhythmen wie bei den サechtenFehler: Referenz nicht gefundenrichtigenォ je_doch – im Gegen_satz zu die_sen – nicht geweiht waren. Auch sind die Bewohner des Viertels überzeugt, daß die サrichtigenFehler: Referenz nicht gefunden} Besitz ergreifen und direkt zu ihnen sprechen.
Beim letzten Parteitag Ende 1991 hat nun die Kommunistische Partei auch die Mitgliedschaft von Angehörigen der Santería zugelassen. Im September 1993 öffnete die Regierung zahlreiche Wirtschaftsbereiche für die Privatinitiative der Kubaner und legalisierte somit die Aktivitäten vieler Kleinhändlerinnen und -produzentinnen im Viertel der tabaqueros. Dies sind späte Zugeständnisse an die サkleinen Leuteォ die nicht nur zwischen サSozialismus oder TodFehler: Referenz nicht gefundenueva bistec – hoffentlich regnet es Rindersteaks.
“Jenseits des Staates? Lateinamerika – Analysen und Berichte, Nr. 18 Jahrbuch 1994”, Bad Honnef: Horlemann Verlag, August 1994