Karibische Gentrifizierung
In Cartagena kämpfen die Anwohner_innen Getsemanís gegen den Verlust ihres eigenen Viertels und ihrer Kultur
Samstag, 22 Uhr. Die Straßen von Getsemaní, einem traditionellen Stadtteil der touristischen Stadt Cartagena, sind voll. Es ist warm, die Stimmung ist ausgelassen. „Explore Getsemaní, the coolest barrio in Colombia and possibly…the world!“ So schreibt das Reisemagazin This is Cartagena mit Sitz in Getsemaní. Auch die New York Times spricht positiv über das Viertel: „The Once Dangerous Getsemaní District Comes Into Its Own“.
Auf dem Platz La Trinidad sitzen Besucher_innen und Einheimische zusammen auf dem Boden, einige trinken Bier, andere genießen die Musik und die typischen Speisen der Straßenverkäufer_innen. In einer Ecke des Platzes steht das Denkmal Pedro Romeros, des bedeutendsten Unabhängigkeitskämpfers der Stadt. In den letzten fünf Jahren haben rund um den Platz neue luxuriöse Hotels und Restaurants ihre Türen geöffnet. Der Preis eines Bieres in einem dieser Pubs kann viermal so hoch sein wie einem der kleinen Läden, die seit jeher das traditionelle Stadtbild von Getsemaní prägen. Der Bezirk findet jetzt die Beachtung von Luxustourist_innen, aber auch von jenen, die die einheimische und alltägliche Kultur fühlen und miterleben möchten.
Viele Anwohner_innen sehen die Entwicklungen aber kritisch. „Getsemaní verschwindet“, so Eric Iriarte, der aus dem Stadtteil stammt und in den letzten Jahren erfahren musste, wie mehr als die Hälfte seiner Freunde weggezogen sind. Mit nur 22 Jahren ist er der Leiter der Tourismusabteilung des Quartiersmanagements Getsemanís. Die Wiederbelebung des Stadtviertels bedeutet für ihn etwas ganz anderes als das Bild, das in den Medien präsentiert wird. „Jetzt gibt es mehr Sicherheit, die Häuser sehen schöner aus. Das ist gut. Aber ein Stadtviertel ohne eigene Kultur, das ist nicht richtig“, glaubt Iriarte.
Laut einer aktuellen Studie der Bezirksverwaltung in Getsemaní leben in dem einst traditionellen Viertel, das von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt wurde, nur noch etwa 25 Prozent der lokalen Bevölkerung. 2005 waren es, gemäß den Erhebungen des kolumbianischen Statistikamtes DANE, noch ca. 71 Prozent. Iriarte wiederum schätzt, dass es 2013 bereits weniger als 15 Prozent Einheimische in Getsemaní gibt, von denen nur 5 Prozent Haus- oder Wohnungseigentümer_innen sind.
Eine Deutsche, die dort das Café Gato Negro eröffnet hat, beschreibt auf ihrer Webseite den Konflikt zwischen Wiederbelebung und Gentrifizierung: „Kolumbianer aus anderen großen Städten und Fremde von außerhalb kommen, um entweder ein Geschäft zu eröffnen, oder um ihre Ferien hier zu verbringen. In ein paar Jahren wird es für die einheimische Bevölkerung Getsemanís unmöglich sein, sich das Leben hier zu leisten.“ Sie fragt sich weiter, wie die kolonialistische Architektur als Weltkulturerbe erhalten bleiben kann, wenn niemand bereit oder in der Lage ist, die notwendigen Gelder zu investieren.
Als Folge von Preisspekulationen bewegen sich die Preise für Wohnimmobilien zwischen zwei- und vierhunderttausend Euro, mit einigen Extrembeispielen von bis zu zwei Millionen Euro. Solche Angebote sind für die meisten Familien Getsemanís unwiderstehlich. Rund die Hälfte lebt von der informellen Wirtschlaft – der Verkauf ihrer Immobilien bietet einen Weg aus der Armut.
Gentrifizierung geschieht durch den Austausch einer statusniedrigeren durch eine statushöhere Bevölkerung. Die lokale Nichtregierungsorganisation Tu Cultura („Deine Kultur“) stellt die Wiederbelebung Getsemanís in Frage. Sie bieten Workshops für die Anwohner_innen an und organisieren Pressekonferenzen, um das Thema Gentrifizierung und nachhaltigen Tourismus in die Öffentlichkeit zu bringen.
Merly Beltrán, Leiterin von Tu Cultura, betrachtet das Viertel als einen Notfall: „Obwohl die Regierung Getsemaní als ein kulturtouristisches Produkt vorstellt, macht sie nichts, um die Gentrifizierung aufzuhalten. Die wirtschaftlichen und politischen Interessen dahinter sind zu groß.“
Kolumbien ist ein Land, das wegen des jahrzehntelangen inneren Konfliktes weniger häufig besucht wird, als seine Nachbarn. Dennoch boomt die Tourismusindustrie in Cartagena. Laut offizieller Zahlen der Behörden sind 2012 rund 200.000 Besucher_innen in die Stadt gekommen, 16 Prozent mehr als im Vorjahr. Und 16 Prozent aller Unterkünfte befinden sich in Getsemaní. Für Eric Iriarte findet der Tourismus hinter dem Rücken der Anwohner_innen statt. „Von 80 Hotels, die es in Getsemaní gibt, hat nur eines einen einheimischen Mitarbeiter eingestellt“. Die Geschichte des Viertels gibt viele Aufschlüsse über den Widerstand der Anwohner_innen gegen die Gentrifizierung ihres Viertels. Getsemaní spielte eine zentrale Rolle im Kampf um die Unabhängigkeit Cartagenas und wurde häufig als die letzte Bastion der Afrokultur in der Altstadt gesehen. „Die Menschen sind die lebenden Bibliotheken der Geschichte und Kultur dieses historischen und besonderen Bezirkes“, sagt die deutsch-tansanische Ethnologin Salma Claussnitzer, Projektleiterin bei Tu Cultura.
Claussnitzer selbst hat in ihrem Bezirk in Berlin Kreuzberg die Gentrifizierung zu spüren bekommen. Deswegen versteht sie die Problematik als globale Herausforderung, die uns alle angeht: „Die Lösung für Gentrifizierung ist nicht kultureller Protektionismus, Abschottung und territoriales Gehabe. Aber wir stehen jetzt im Zeitalter der Hyperurbanisierung, Globalisierung und Supergentrifizierung vor der großen Herausforderung solidarische Räume und dominanzfreie Verhältnisse zwischen den Menschen zu kreieren. Das heißt Platz zu schaffen für alle, nicht nur für die obere Mittelschicht, die es sich leisten kann“.
Tu Cultura schlägt einen nachhaltigen Tourismus vor, bei dem die Anwohner_innen Getsemanís nicht von den neuen Entwicklungen ausgeschlossen werden, sondern davon profitieren können. Für Merly Beltrán ist klar: Das angestrebte europäische Cartagena arbeitet gegen die neue Tendenz des Tourismus, wo die Einzigartigkeit der Kulturen ein Attraktivitätsmerkmal ist. Und gleichzeitig Motor der kreativen Industrie.
Jeden Tag am frühen Morgen pilgern viele der früheren Einwohner_innen Getsemanís in ihr ehemaliges Viertel. Einige haben noch ihre Jobs hier, andere besuchen Freund_innen und Familie. Eric Iriarte berichtet, dass viele in die unmittelbare Nähe gezogen seien, um den Kontakt mit ihrem alten Leben aufrechtzuerhalten. Sie wohnen nicht mehr hier, aber sie sind auch nicht wirklich fort.
Als einer der Wenigen hat er den Sprung vom alten ins neue Getsemaní geschafft. Iriarte möchte in seinem Viertel bleiben und die Vorteile des neuen Getsemaní genießen. Vor zwei Jahren hat er seine eigene Kneipe eröffnet. „Ich habe hart gearbeitet, Geld gespart, einen Kredit bei einer Bank aufgenommen, und am Ende konnte ich den Pedregal Bar Club eröffnen“. Bei ihm ist alles sehr ursprünglich. Es wird lokale Musik gespielt, Champeta und Salsa. Darauf ist er sehr stolz. „Es ist typisch Getsemaní, es ist typischer als ich selbst“.