K(Ein) Kinderspiel
Mario Vargas Llosa folgt dem utopischen Denken Paul Gaugins und seiner Großmutter
Bei lebendigem Leib verfaulend versucht Paul Gaugin noch kurz vor seinem Tod 1903 das wilde Geheimnis der Südsee mit dem Pinsel einzufangen. Rund 60 Jahre zuvor begibt sich Flora Tristán in die Elendsviertel europäischer Großstädte. Sie sieht die Auswüchse der Prostitution in London, die widrigen Lebensbedingungen der Arbeiter, ihrer Frauen und Kinder in Paris.
Mario Vargas Llosa hat für seinen jüngsten Roman erstmals EuropäerInnen zu ProtagonistInnen gemacht. Spannend dabei ist, dass die beiden Menschen einander nie begegnet sind, gleichwohl aber durch Verwandtschaft und die gleiche Leidenschaft im Kampf gegen die bürgerliche Zivilisation verbunden sind.
„Ist hier das Paradies? Nein, hier nicht. Das Paradies ist anderswo. Fragen Sie an der nächsten Ecke.“ Es ist ein altes peruanisches Kinderspiel, das dem Roman nach sowohl die Frauenrechtlerin Flora wie auch ihren Enkel zu Lebzeiten bewegte. Vargas Llosa macht dieses Spiel zum Titel seines Romans und verweist damit bereits auf ein für ihn typisches Thema: Utopien. Das Unmögliche muss gedacht werden, nicht um ins weltliche Paradies zu gelangen, sondern um das Mögliche zu erreichen.
Flora Tristán und Paul Gaugin sind solche UtopistInnen. Ihre Schicksale sind jedoch sehr vielschichtig. Und dazwischen liegt ein Datum, das sie nicht nur chronologisch trennt: 1848, die gescheiterte Revolution. Der Stoff bleibt damit selbst für einen rund 500-Seiten-Roman zu mächtig. Als Mensch und Maler sucht Gaugin nach dem Zustand der Vollkommenheit „wo ein Künstler wie Adam und Eva im Garten Eden nur die Hand auszustrecken und seine Nahrung von den fruchtbaren Bäumen zu pflücken brauchte“. Aber so weit er reiste, so weit er vor der Zivilisation flüchtete, so weit entfernte sich das Paradies von ihm.
Seine Großmutter Flora war nicht so naiv. Sie analysierte vielmehr erst die irdische Hölle von Armut und Ausbeutung, um dann den Entschluss zu fassen, gegen alle Widerstände eine Arbeiterunion zu gründen. Die Idealistin schrieb vier Jahre vor dem Erscheinen des kommunistischen Manifestes ein Pamphlet „L’Union ouvrière“ und kämpfte trotz körperlicher und seelischer Leiden für Frauen und Arbeiter. Ihr Enkel stand sich dagegen selbst am nächsten. Paul Gaugin, der bis zu seinem 35. Lebensjahr nie einen Pinsel in der Hand gehalten hatte und stattdessen als Börsenmakler arbeitete, setzte sich allein für die eigene Sache ein: seine künstlerische Selbstverwirklichung.
Mario Vargas Llosa erzählt abwechselnd in 22 Kapiteln mit einer bisweilen überladenen Sprache vom Scheitern der beiden RebellInnen. Er stellt Momente beider Reisen gegeneinander, füllt sie mit Rückblenden und Vorausschauen. Der Peruaner erzählt die Geschichte nicht als nüchternen Bericht, sondern immer wieder als inneren Monolog. Das wirkt jedoch oberlehrerhaft, wenn er seine Figuren direkt anspricht. „Du hattest es getan, Florita. Trotz der Kugel nahe an deinem Herzen, …“
Ein zweites Leitmotiv in Vargas Llosas Roman ist die Haltung zur Sexualität. Für Flora Tristán, die vergewaltigte Frau, ist sie die Hölle, die überwunden werden muss. Für Paul Gaugin ist sie ein Daseins-Quell, der ihm aber den Tod bringt: Syphilis. Hier zeigt sich die Schattenseite des berühmten Malers.
Vargas Llosa beschreibt rücksichtslos die sexuellen Akte Gaugins als Mittel der Selbstverwirklichung. In diesem Punkte ist kaum zu glauben, dass Flora Tristán seine Großmutter war. Denn für Gaugin war die Frau letztlich „nur ein Paar schweißnasse Schenkel, ein Paar feste Brüste, ein Geschlecht“.
Mario Vargas Llosa: Das Paradies ist anderswo. Aus dem Spanischen von Elke Wehr. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2004, 493 Seiten, 24,90 Euro.