Argentinien | Nummer 408 - Juni 2008

Kirchnerismo ohne Konzept

Was steht hinter den Protesten im Agrarsektor?

Die jüngsten Proteste in Argentinien haben die wirtschaftspolitischen Defizite der Regierung Kirchner deutlich werden lassen. Zwar kann sich das Land seit der schweren Krise 2001 über hohe Wachstumszahlen freuen, eine konsistente und zukunftsgerichtete Wirtschaftspolitik fehlt jedoch nach wie vor. Auch unter Cristina Fernández scheint sich daran nichts zu ändern. Statt eine ernst zu nehmende wirtschafts- und innenpolitische Agenda anzubieten, führt sie den informellen und dirigistischen Politikstil des Ex-Präsidenten, ihres Ehemanns Néstor Kirchner, fort.

Verena Schüren

Im März dieses Jahres kam es in Argentinien zu den bisher heftigsten Protesten im Landwirtschaftssektor. Auslöser dafür war die erneute Anhebung der Exportabgaben für Soja sowie andere Agrarprodukte und deren Kopplung an den Weltmarktpreis. Innerhalb von wenigen Tagen hatten sich breite Teile der Gesellschaft mit den Bäuerinnen und Bauern solidarisiert und deren Protestforderungen mitgetragen (siehe LN 407). Am 4. April verständigten sich die führenden AgrarvertreterInnen mit der Regierung auf ein Streikmoratorium von 30 Tagen, um in Verhandlungen über grundsätzliche Fragen der Landwirtschaftspolitik eintreten zu können.
Tatsächlich ist die Bilanz nach Ablauf der Frist mehr als mau. Von einem konstruktiven Verhandlungsprozess war in der Öffentlichkeit nichts zu spüren. Für Aufregung sorgten indes Fälle von Brandstiftung in der Provinz Buenos Aires. 70.000 Hektar brennende Ackerfläche hüllten die Hauptstadt zeitweise in eine Rauchwolke. Regierungs- kritikerInnen interpretierten die Vorfälle sinnbildlich als so genannten cortina de humo, einen Vorhang aus Rauch, der das Unvermögen der angeschlagenen Regierung zumindest kurzzeitig zu verschleiern vermochte. Und in der Tat nutzte die Präsidentin die Vorfälle dazu, die Landbevölkerung unter Generalverdacht zu stellen und sie für den Preisanstieg bei Lebensmitteln verantwortlich zu machen. Einige der TäterInnen waren zu diesem Zeitpunkt bereits identifiziert. Vermutlich hatten sie den Brand gelegt, um die Böden anschließend für den lukrativen Sojaanbau zu nutzen
Die Regierung steht mächtig unter Druck. Nach wie vor wehren sich die Bauernverbände gegen das System von gleitenden Steuersätzen, welches die Abgabenlast an die Entwicklung ihrer Exporterlöse binden soll und drohen mit neuen Streiks, sollte sich die Regierungsseite nicht kompromissbereit zeigen. Eine mögliche Option ist nun, die progressive Steuerlast bei einem maximalen Satz von 50 Prozent zu deckeln. Für die ProduzentInnen von Soja hieße das, dass sich der Steuersatz ab einem Tonnenpreis von 610 US-Dollar nicht weiter erhöhen würde (derzeit liegt er bei rund 450 US-Dollar). Alternativ dazu könnte man die Stufen der Progression verringern, um zu vermeiden, dass bereits ab einem Tonnenpreis für Soja von 600 US-Dollar 95 Prozent Steuern auf jeden zusätzlichen Dollar Verkaufserlös erhoben werden.
Spätestens mit dem Rücktritt des Wirtschaftsministers Martín Lousteau wurde von Regierungsseite eingestanden, dass ihr Politikvorstoß eher als investitionshemmend denn als Stärkung für den produktiven Sektor zu werten ist. Zuletzt hatte sich Lousteau indirekt von den eigenen Maßnahmen distanziert: „Argentinien braucht ein nachhaltiges Wachstum aber auch eine klare Kontrolle der Inflation. Das Wachstum dürfte nicht über sechs Prozent liegen“. Eine deutliche Kritik am aktuellen regierungspolitischen Wirtschaftskurs, der ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum auf hohem Niveau zum obersten Ziel hat und im Gegenzug wachsende Staatsausgaben (Anstieg im letzten Jahr um rund 40 Prozent), Emissionen von Schuldverschreibungen gegenüber dem Ausland (Hauptkäufer war Hugo Chávez) und eine rasante Inflationsentwicklung in Kauf nimmt. Die Nachfolge Lousteaus trat der 54-jährige Ökonom Carlos Rafael Fernández an. Er gilt als linientreuer Verfechter des kirchnerischen Wirtschaftsmodells. Doch worauf gründet sich dieses Modell?
Die in den 1990er Jahren abgeschafften Exportsteuern (retenciones) wurden nach der drastischen Abwertung des Argentinischen Peso im Jahr 2002 wieder eingeführt und haben sich seitdem sukzessive zu einem tragenden wirtschaftspolitischen Instrument entwickelt. Die Einnahmen aus den Exportsteuern sind für den Staatshaushalt inzwischen unverzichtbar: 2007 machten die Einkünfte aus den Exporterlösen bereits 13 Prozent des gesamten Staatshaushaltes aus. ÖkonomInnen zufolge könnte dieser Anteil in diesem Jahr auf bis zu 17 Prozent ansteigen. Exportbeschränkungen und Exportbesteuerung sind außerdem zwei wesentliche makroökonomische Instrumente die der Staat hat, um dem globalen Preisdruck entgegenzuwirken.
Argentinien sieht sich derzeit, wie alle anderen lebensmittelexportierenden Länder, deren Binnenpreise für Lebensmittel unter dem Weltmarktpreis liegen, zwei Alternativen gegenüber: Entweder es hält die Inlandspreise weiterhin künstlich niedrig, schöpft Exporterlöse zu Umverteilungszwecken ab und widersteht den Aufständen der exportierenden ProduzentInnen. Oder aber es liberalisiert den Außenhandel und konfrontiert seine BürgerInnen mit Preisanstiegen für Nahrungsmittel bis das Weltmarktniveau erreicht ist. Das Phänomen der Agflation beschreibt eine Inflationsentwicklung im Nahrungsmittelsektor, die von Entwicklungen der globalen Agrarwirtschaft ausgeht.
In der Tat steht Argentinien unter starkem Inflationsdruck. Die offiziellen Zahlen werden durch das staatlichte Statistik-Institut INDEC erhoben und sehen die Inflation bei unter zehn Prozent. Diese Zahlen sind aber nur wenig glaubhaft. Anfang 2007 musste die Vorsitzende des INDEC abtreten, weil sie sich geweigert hatte, die Indizes zu manipulieren. Seitdem ist das Vertrauen in die amtlichen Daten auf Seiten der in- und ausländischen InvestorInnen weiter gesunken. Die Beratungsgesellschaft Ecolatina prognostiziert für 2008 eine Teuerungsrate von 25 Prozent.
Die Gründe für die Inflation sind nicht allein auf dem Weltmarkt zu suchen. So ist die Politik des schwachen Peso gegenüber dem US-Dollar zwar ein Segen für die Exportwirtschaft, für die inländischen KonsumentInnen werden Importgüter indes relativ teurer. Dem Kirchnerismo ist es außerdem nicht gelungen, InvestorInnen anzulocken und die Kapazitäten der Produktionsseite zu steigern. Stattdessen bedient sich die Regierung seit Jahren einer expansiven Geldpolitik, die den Konsum ankurbelt und die Inflation weiter anheizt.
Vor dem aktuellen Hintergrund können – je nach politisch-ideologischer Ausrichtung – sowohl für eine liberale wie auch für eine protektionistische Wirtschaftsstrategie gute Gründe angeführt werden. Problematisch wird es nur, wenn die Regierungspolitik, wie in Argentinien, von VertreterInnen beider Lager kritisiert wird. Während die BefürworterInnen einer interventionistischen Wirtschaftspolitik die strukturelle Benachteiligung der ViehzüchterInnen sowie Obst- und Gemüse produzierender KleinbäuerInnen und -bauern anprangern, betonen deren GegnerInnen die Kosten, die der argentinischen Volkswirtschaft durch das unübersichtliche System von Außenhandelsquoten, -abgaben und selektiver Rücksubventionierung entstehen. Hohe Inflationsraten und Erwartungsunsicherheit erzeugen außerdem ein investitionsfeindliches Klima, was sich langfristig so negativ auf die Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit der argentinischen Produktion auswirken werde, dass auch der künstlich niedrig gehaltene Peso das Exportvolumen nicht mehr sicher stellen könne, so die KritikerInnen weiter.
In Haiti, Mosambik, Kamerun, Senegal, Usbekistan, Bolivien und Indonesien (um nur einige Länder zu nennen) gingen in den letzten Monaten massenhaft Menschen auf die Straße, um ihre Regierungen dazu zu bewegen, die inländischen Nahrungsmittelpreise zu verbilligen. Argentinien stellt da eine etwas paradoxe Ausnahme dar. Die ArgentinierInnen solidarisierten sich mit den LandwirtInnen und scheinen sich nicht weiter daran zu stören, dass sie selbst die Leidtragenden von zukünftigen Preiserhöhungen sein werden. Tatsächlich ist die Proteststruktur ziemlich diffus. Es handelt sich um eine Gemengelage von Aussperrungen durch Agrarunternehmen, Streiks und Blockaden der Kleinbauern und -bäuerinnen sowie einer klientelistischen Lagerbildungspolitik seitens der Regierung, die darauf abzielt, die Protestbewegung zu spalten und zu marginalisieren. Hinzu kommen der Unmut der Mittelschicht über das arrogante Auftreten der Präsidentin und Proteste aus der Peripherie, die sich gegen die fortschreitende Machtzentrierung in der Hauptstadt wehren. In der Tat ist es so, dass die Staatseinnahmen aus den Exportgeschäften zunächst vollständig der nationalen Regierung zufließen und von dieser in die Provinzen rück- und umverteilt werden. Dieses System der coparticipación hält die Provinzen in wirtschaftlicher und politischer Abhängigkeit gegenüber der Zentralregierung und macht eine lokal eigenständige Wirtschaftsentwicklung schwer bis unmöglich. Der Protest der argentinischen Bevölkerung ist also nicht rein ökonomisch motiviert, sondern richtet sich auch gegen den autoritären Stil der Präsidentin.
Diese kündigte zwar an, die zusätzlichen Einnahmen aus den Exporterlösen in soziale Projekte zu investieren, in der Bevölkerung treffen diese Versprechen aber auf Skepsis. Zu oft schon sind große Geldsummen in irgendwelchen Kanälen versickert, ohne dass sie jemals wieder auftauchten. Dass es diesmal tatsächlich zu den dringend erforderlichen Investitionen in den Straßenbau, das Transportwesen, den Energiesektor, das Bildungs- und Gesundheitssystem oder in Maßnahmen für öffentliche Sicherheit kommen wird, glaubt kaum jemand. So musste der Kabinettschef Alberto Fernández kürzlich vor dem Senat zugeben, dass 54 Millionen Peso (ca. 10 Mio. Euro), die ursprünglich für soziale Projekte vorgesehen waren, in das Generalsekretariat der Präsidentin für die Anschaffung neuer Computer floss. Zu den Vermutungen, das Geld solle gar für den Kauf des neuen Präsidentinnenflugzeuges benutzt werden, verweigerte er schlicht jeden Kommentar.
Die Unzufriedenheit und das Misstrauen in die Regierung wachsen. Die Zeiten, da die amtierende Präsidentin mit der Devise „Alles bleibt beim Alten“ eine Wahl gewinnen konnte, scheinen passé. Ganz gleich wie ein künftiger Kompromiss in der Landwirtschaft aussehen wird, die Regierung Cristina Fernández hat eine deutliche Schlappe erlitten und wird zunehmend als regierungsschwach wahrgenommen. Währenddessen baut ihr Amtsvorgänger und Gatte Néstor Kirchner seine Machtposition im Gefüge der Justizialistischen Partei des Peronismus PJ kontinuierlich aus. Es gilt als relativ sicher, dass er im Jahr 2011 wieder zur Wahl antreten wird.
Fest steht, dass künstlich niedrig gehaltene Preise allein nicht ausreichen werden, um die argentinischen WählerInnen bei der Stange zu halten. Wenn der Kirchnerismo bis über 2011 hinaus Bestand haben will, muss er den ArgentinierInnen eine ernst zu nehmende wirtschafts- und innenpolitische Agenda anbieten und wieder auf gesellschaftliche Konsolidierung setzen. Eine Fortführung des informellen und spaltenden Politikstils, wird die gesellschaftlichen Gegensätze jedenfalls nicht lösen können.


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