Chile | Nummer 596 - Februar 2024

Krise der Repräsentation

Was nach dem Nein zum rechten Entwurf von der Diskussion um eine neue Verfassung bleibt

Im Referendum am 17. Dezember 2023 haben 55 Prozent der wahlberechtigten Chilen*innen den rechten Verfassungsentwurf abgelehnt. Über vier Jahre nach der Revolte von 2019 und auch nach zwei sehr unterschiedlichen Verfassungsprozessen bleibt Pinochets Verfassung in Kraft. Wie sich das Wahlergebnis in die Verfassungsdebatte im Land einordnet, erklärt Natalie Sofía Rojas Vilches in dieser Analyse. Rojas forscht in der chilenischen Stiftung Nodo XXI, die als Think Tank für linke Politik verschiedene soziale Bewegungen mit politischen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen vernetzt.

Von Natalie Rojas Vilches, Santiago de Chile (Übersetzung: Susanne Brust)
Plebiszit am 17. Dezember 2023 Stimmabgabe in Santiago de Chile (Foto: Diego Reyes Vielma)

Die Forderung nach einer neuen Verfassung für unser Land gibt es schon seit Jahrzehnten: Seit dem Ende der Diktatur betonen linke Parteien, soziale Bewegungen und politische Organisationen, wie wichtig es ist, die Verfassung von 1980 abzuschaffen und damit die Militärdiktatur und ihr politisches Erbe ein für alle Mal zu beenden – sowohl materiell als auch symbolisch.

Mit der Demokratisierung der 90er Jahre wurden keine grundlegenden Veränderungen am Wirtschaftsmodell unternommen, das in der Verfassung festgeschrieben ist. Die gesellschaftliche Mobilisierung, die im Widerstand gegen die Diktatur in den 1980er Jahren noch tragende Kraft war, verschwand nach ihrem Ende oder fand nur noch in kleinen Zusammenhängen statt. Dies ebnete in den ersten Jahren des Übergangs zur Demokratie den Weg für eine Phase der Vereinnah­mung und des Verstummens sozialer Bewegungen.

Erst im Jahr 2006 waren es die Schüler*innen weiterführender Schulen, die lautstark wieder eine neue Verfassung forderten. Sie führten eine soziale Bewegung an, die sich explizit gegen das in der Verfassung verankerte Bildungsgesetz LOCE richtete. Daraus formierte sich im Jahr 2013 die Bewegung Marca tu voto AC, die sich von Studierenden der séptima papelera in Kolumbien hatte inspirieren lassen (im März 1990 hatten kolumbianische Studierende für die Parlamentswahlen dazu aufgerufen, eine siebte Wahlurne aufzustellen, um Stimmen für eine neue Verfassung zu sammeln. Dieser inofiziellen Wahl folgte im Mai 1990 eine offizielle Abstimmung, bei der die Kolumbianer*innen für die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung stimmten. Die séptima papelera-Bewegung markiert somit den Beginn der Entstehung der heutigen kolumbianischen Verfassung, Anm. d. Übers.). In Chile rief man nun dazu auf, den Stimmzettel mit „AC” für „Asamblea Constituyente” („verfassunggebende Versammlung”) zu markieren.

Im Regierungsprogramm für ihre zweite Amtszeit (2014-2018) schlug die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet tatsächlich einen Prozess für eine neue Verfassung vor. Obwohl dafür institutionelle Räume zur Partizipation zur Verfügung gestanden hätten, fehlte es aber an einer Ratifizierung des Vorschlags durch die Bevölkerung, sodass er von der Legislative nie aufgegriffen wurde.

Im Oktober 2019 dann gipfelten die vielfältigen Forderungen der sozialen Revolte zu Bildung, Renten, Umwelt, Geschlechtergerechtigkeit in einer einzigen: eine neue Verfassung, die gesellschaftliche Mehrheiten repräsentiert und die bislang durch Marktlogiken regulierten sozialen Rechte stärkt. Dass die progressiven Kräfte im Verfassungsplebiszit am 4. September 2022 (4S) eine Niederlage erlitten, markierte einen Wendepunkt. Die Wahlpflicht führte in den letzten Jahren dazu, dass sich Wahltendenzen veränderten und ganze 62 Prozent gegen den Entwurf des Verfassungskonvents stimmten.
Nach dem 4S einigten sich die politischen Parteien Chiles darauf, einen zweiten Verfassungsprozess anzugehen. Ein neuer Entwurf sollte sich inhaltlich innerhalb dessen bewegen, was man als „Verfassungsrahmen” in zwölf Punkten vordefinierte. In der Folge waren zwei Organe für die Ausarbeitung des Textes vorgesehen: eine Expert*innenkommission, deren Mitglieder vom Parlament vorgeschlagen wurden, sowie ein gewählter Verfassungsrat.

Die Wahlen zum Verfassungsrat am 7. Mai 2023 (7M) markierten einen wichtigen Moment: Da nur Kandidat*innen auf Parteilisten antreten konnten, handelte es sich um den ersten Moment seit Wiederienführung der Wahlpflicht, in dem sich die politischen Kräfte direkt miteinander messen konnten. Obwohl viele Analysen sich in der Folge darauf beschränkten, die Ergebnisse der Wahl mit jenen des Referendums vom 4S zu vergleichen, spricht aus beiden Ereignissen noch eine andere Tatsache: Beide Wahlen wiesen eine ähnliche Wahlbeteiligung auf: Am 7M waren es mit 84,9 Prozent der Wähler*innen nur 110.428 Wähler*innen weniger als beim Referendum zum 4S.

Bei einem Vergleich der Stimmen für das rechte Lager bei beiden Wahlen fällt auf: Die ultrarechte Republikanische Partei, das rechtskonservative Bündnis Chile Seguro und die Partido de la Gente (rechtsoffene populistische Partei) bekamen am 7M zusammen gut sechs Millionen Stimmen – fast zwei Millionen weniger als Stimmen für das Rechazo am 4S. Im Hinblick auf das Apruebo (Ja zur neuen Verfassung am 4S) zeigen die Ergebnisse ein ähnliches Phänomen. Am 4S stimmten über 4,8 Millionen Menschen für das Apruebo, am 7M kommen die Allianzen Todo por Chile (Mitte-links) und Unidad para Chile (links) auf über 3,6 Millionen Stimmen. Über eine Million Stimmen konnten also nicht von der vorherigen Wahl übertragen werden. Dazu kommen 2,1 Millionen ungültige (fast 17 Prozent der Stimmen) und über 500.000 leere Stimmzettel, mit denen Menschen ihrer Unzufriedenheit über den Verfassungsprozess Ausdruck verliehen.

Diese Zahlen offenbaren zwei entscheidende Aspekte des zweiten Verfassungsprozesses. Erstens: Unter jenen, die wählen gegangen sind, stimmte über die Hälfte mit ungültigen, leeren Stimmzetteln oder für die Republikanische Partei und Partido de la Gente – zwei Parteien, die die Vereinbarung für einen weiteren Verfassungsprozess nicht unterzeichnet hatten. Die meisten derer, die wählen gegangen sind, haben sich also für Optionen entschieden, die für eine offene Ablehnung des Verfassungsprozesses selbst standen. Zweitens: Wenn man ungültige und leere Stimmzettel sowie Nichtwähler*innen zusammenzählt, haben sich über ein Drittel der wahlberechtigten Personen von dem Prozess abgekapselt. Diese Tatsache deutet auf ein Problem der Repräsentation hin: eine Distanz zwischen jenen, die Gesetze machen und regieren und jenen, die sie repräsentieren.

Der rechte Verfassungsentwurf hätte zahlreiche Rückschritte bedeutet

Dieser zweite Verfassungsprozess war vor allem von Verfassungsrät*innen der Republikanischen Partei bestimmt. In Debatten, vorgestellten Verfassungsnormen und Abstimmungen dominierten sie die Ausarbeitung des Verfassungstextes, der auf Werteebene noch konservativer und auf Wirtschaftsebene noch neoliberaler ausfiel als die von der Diktatur vererbte Verfassung. Dass es sehr geringe oder keine Bereitschaft zum Dialog mit anderen gesellschaftlichen Bereichen gab, wurde zum Grundton jenes Prozesses, der es nicht schaffte, das Interesse der Bürger*innen an Verfassungsthemen zu wecken.

Mehrere Analysen des Verfassungstextes von unterschiedlichen Institutionen ließen schließlich die Alarmglocken klingeln. Wäre die neue Verfassung in Kraft getreten, hätte das Rückschritte in unterschiedlichen Bereichen bedeutet. Ein paar Beispiele dafür, was der Text in Gefahr gebracht hätte: das Recht auf Abtreibung in drei Fällen, den Verkauf der Pille danach, Kinder von alleinstehenden Müttern hätten Diskriminierung erlebt, die Wasserprivatisierung hätte sich noch weiter vertieft, der Extraktivismus wäre ohne Rücksicht auf Nachhaltigkeit und Umweltschutz in die Verfassung eingeschrieben worden. Durch die Verkleinerung des Kongresses hätte sich die Macht bei weniger Menschen konzentriert und schließlich wäre die Privatisierung sozialer Rechte in der Verfassung verankert worden.

Beim Wahlergebnis vom 17. Dezember handelt es sich um eine klare Ablehnung des Verfassungsentwurfes. Während 55,75 Prozent der Wähler*innen (6,8 Millionen Menschen) gegen den Entwurf stimmten, sprachen sich 44,24 Prozent (5,4 Millionen Menschen) dafür aus. Letztere konnten die Wahl zwar nicht für sich gewinnen, repräsentieren jedoch einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung. Der Sieg des Nein ist vor allem auf die Wahl von Frauen unter 34 Jahren zurückzuführen: 70 Prozent von ihnen stimmten gegen den Entwurf. Ähnlich fiel die Wahl unter älteren Menschen aus.

Mit einer Wahlbeteiligung von 84,4 Prozent und einem Anteil ungültiger bzw. leerer Stimmen von nur fünf Prozent hat die Bevölkerung dem politischen System einen Weckruf erteilt: Das Verfassungsprojekt bedeutete einen Rückschritt bei sozialen Rechten und vertrat oder begünstigte nicht die Mehrheiten im Land.

Dass die Chilen*innen in beiden Referenden gegen den jeweiligen Verfassungsentwurf gestimmt haben, macht eines deutlich: Wie dringend es ist, dass Gesetzgeber*innen weitreichende Kompromisse finden, die es möglich machen, die Nöte der Menschen anzugehen. Chile braucht soziale Transformationen, die das Wohlergehen der Bürger*innen in den Mittelpunkt stellen. Hier nehmen gesellschaftliche Organisationen und soziale Bewegungen eine Schlüsselrolle ein, wenn es darum geht, Druck auszuüben. Denn die Forderungen, die die Diskussion um eine neue Verfassung im Jahr 2019 ins Rollen brachten, sind noch immer von gemeinsamem Interesse. Der Weg über eine neue Verfassung hat sich dafür vorerst geschlossen. Die Forderungen nach einem Wandel richten sich nun an jene, die die Gesetze machen: Sie müssen in der Lage sein, strukturelle Reformen einzuleiten, die die Bedürfnisse der Bürger*innen erfüllen: Sicherheit, soziale Rechte und weniger Korruption.

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