Chile | Nummer 324 - Juni 2001

Lied, wie schlecht klingst du …

Chiles Erinnerungspolitik steckt noch immer in den Kinderschuhen

Am 12. September 1973 wurde der populäre chilenische Sänger Víctor Jara zusammen mit anderen Gefangenen von den putschenden Militärs ins Estadio de Chile abtransportiert, wo er gefoltert und zum letzten Mal lebend gesehen wurde. Im Volksmund heißt das kleine Stadium im Zentrum Santiagos deshalb seit einigen Jahren Estadio Víctor Jara, um an das Schicksal des kulturellen Botschafters der Unidad Popular und Tausender weiterer Opfer der Diktatur zu erinnern. Ziel der Fundación Víctor Jara ist es nun, diesen Namen endlich offiziell zu machen und den ehemaligen Folterort in ein Kulturzentrum zu verwandeln. Ein Vorhaben, das jedoch auch heute in Chile noch auf große Schwierigkeiten stößt.

Roberto Guerra V.

Víctor Jaras Schicksal steht beispielhaft für das vieler ChilenInnen in den Jahren der Militärdiktatur, vor allem was die Tage nach dem Putsch am 11. September 1973 anbelangt. Der Sänger, Komponist, Theaterregisseur und Schauspieler wurde in der Technischen Universität Santiagos, wo er an diesem Tag zusammen mit Salvador Allende eine Ausstellung gegen den Bürgerkrieg eröffnen sollte, verhaftet und zusammen mit Professoren und StudentInnen ins nahe gelegene Estadio Chile gebracht.
Ebenso wie das Nationalstadion wurden in jenen Tagen viele öffentliche Einrichtungen als Gefangenenlager von den Militärs missbraucht. Das Estadio de Chile mit einer Kapazität für 10.000 BesucherInnen ist im zentralen Viertel Estación Central in Santiago gelegen und nur wenige Meter von der Hauptstraße Alameda entfernt. Dort wurde geprügelt, gefoltert und gemordet, und viele der GegnerInnen des Militärputsches wurden hier zum letzten Mal gesehen und sind heute Verhaftet-Verschwundene.
Im Gegensatz zu vielen anderen erlangte die Familie von Víctor Jara schon nach wenigen Tagen Gewissheit über seinen Tod. Denn seine Leiche – misshandelt und mit vierundvierzig Einschüssen – wurde in der Nähe des Regionalfriedhofs gefunden und im Leichenschauhaus zufällig identifiziert. Der Witwe, Joan Jara, wurde in jenen Tagen nur zugestanden, den Leichnam unverzüglich in einem Nischengrab am Ende des Zentralfriedhofs zu bestatten. Dort wird Víctor Jara bis heute von unzähligen AnhängerInnen besucht, und sein Grab ist niemals ohne frische Blumen.
Es ist in Chile der einzige Ort, seiner zu gedenken. Denn während es auf der ganzen Welt Straßen, Plätze, Schulen, ein Schiff und sogar einen Stern gibt, der seinen Namen trägt, gibt es in Chile, abgesehen von einem kleinen Platz in der Kommune Pudahuel, der auf lokale Initiative hin entstanden ist, keine öffentliche Anerkennung für einen der wichtigsten Sänger jener Zeit.
Bereits Mitglied des Priesterseminars von San Bernardo, entdeckt Víctor Jara seine wahre Berufung, den Gesang, und wird im Jahre 1957 Mitglied des Folklore-Ensembles Cuncumén, mit dem er in den Niederlanden, in Frankreich, in der Tschechoslowakei, in Bulgarien, Polen und der Sowjetunion auf Tournee geht. Auf Anraten von Violeta Parra verlässt Víctor Jara jedoch nach einigen Jahren das Ensemble, um eine Solokarriere als Sänger zu beginnen. Gleichzeitig entwickelt er eine weitere Leidenschaft: das Theater. Er studiert Theaterregie und führt Regie bei bedeutenden Aufführungen wie Anímas de día claro, La Remolienda, Madame de Sade, El círculo de tiza caucasiano (die spanische Fassung des Kaukasischen Kreidekreises von Brecht) und Vietrock (Megan Terry), sowie zahlreichen weiteren Werken, die von den KritikerInnen gelobt und ausgezeichnet wurden. Ab 1971 geht er zusammen mit anderen chilenischen KünstlerInnen auf Tournee, erst in Chile, später auch in Mexiko, Costa Rica, Kolumbien, Venezuela, Peru, Argentinien, den USA und Europa. Jara, der schon bald als der kulturelle Botschafter der Unidad Popular galt, war im In- und Ausland ein sehr populärer, mit der chilenischen Folklore und Politik verbundener Künstler und Sinnbild des „Neuen Chilenischen Liedes“.

Erinnerung mit Hindernissen

Mit einer 1998 gestarteten Kampagne, mit Unterschriftensammlungen, Großveranstaltungen und über das Internet versucht das Centro Artístico y Cultural Víctor Jara die Namensänderung des Stadions durchzusetzen. Zahlreiche Künstler und auch die Fundación Víctor Jara schlossen sich der Initiative an. Doch zunächst ohne Erfolg, da nach Ansicht des Direktors der DIGEDER, der für die Verwaltung des Stadions zuständigen staatlichen Einrichtung, „Víctor Jara nicht alle Chilenen repräsentiert“. Die DIGEDER (Staatliche Abteilung für Sport und Freizeit) wiederum ist dem Verteidigungsministerium unterstellt, wodurch das Ansinnen, das mit der Festnahme Pinochets in London zusammenfiel, nicht einfacher wurde.
Nach einem Ministerwechsel unternahmen das Centro Artístico y Cultural Víctor Jara, die Generalsekretärin der Kommunistischen Partei Gladys Marín und die Fundación Víctor Jara einen neuen Vorstoß, um die Namensänderung direkt beim neuen Verteidigungsminister Mario Fernández zu erreichen. Dieser versprach, sich der Sache anzunehmen und die Vorbereitung zur Umbennung des Stadions bis zum Geburtstag Víctor Jaras, dem 28. September 2000, in die Hand zu nehmen.
Bei all ihren Bemühungen geht es der Fundación Víctor Jara um mehr als die symbolische Namensänderung, „denn unserer Meinung nach macht die Namensänderung eines Stadions, in dem nur geboxt wird, wenig Sinn und hat wenig zu tun mit Víctor oder der Arbeit der Fundación“. Die Stiftung, die von der Witwe Víctor Jaras ins Leben gerufen wurde, plant deshalb, das Sportstadion in ein Kulturzentrum zu verwandeln. Schließlich hatte Víctor Jara zahlreiche Auftritte in diesem Stadion, und er erhielt im Rahmen des „Ersten Festivals des Neuen Chilenischen Liedes“ den ersten Preis für seinen Beitrag „Plegaria a un labrador“.
Doch der Druck der chilenischen Militärs und politischen Rechten in der Menschenrechtsdebatte auf die Regierung und der knappe Ausgang der Präsidentschaftswahlen waren nicht der beste Kontext für öffentlichen Symbolismus zu Gunsten der Opfer der Militärdiktatur. So passierte monatelang gar nichts und Víctor Jaras Geburtstag verstrich ohne die geplante Feier. Schließlich wurde die DIGEDER aufgelöst und durch die neue Institution Chile Deportes ersetzt. Damit „war alles, was bereits vereinbart worden war, umsonst“, erklärt Eugenia Arrieta im Namen der Fundación. „Dabei haben wir ein Jahr lang mit ArchitektInnen und SpezialistInnen gearbeitet, um die Umgestaltung des Stadions in ein Kulturzentrum voranzutreiben, einen Raum für Veranstaltungen zu schaffen, der für die chilenischen und ausländischen KünstlerInnen, die kommen möchten, da ist.“

Gelbes Licht für Umbenennung

Trotz der mangelnden Bereitschaft des chilenischen Staates, sich aktiv an der Aufarbeitung und Erinnerung zu beteiligen, haben die AnhängerInnen Víctor Jaras nicht locker gelassen und weiter Druck auf die staatlichen Behörden ausgeübt. Und nicht umsonst: Nach diversen Verhandlungen mit der Regierung scheint die Namensänderung nun endgültig gesichert zu sein. Doch noch fehlt das entsprechende, vom Präsidenten unterschriebene Dokument, das es der Fundación ermöglicht, mit dem Umbau zu beginnen. Bis dahin wird die Mund-zu-Mund-Propaganda die Erinnerung an den chilenischen Sänger und die Unterdrückung der populären Musik und Kultur in Chile weiter aufrecht erhalten. Unabhängig von Verhandlungstischen und Amnestiegesetzen ist die Welle der Gewalt, die im September 1973 über die ChilenInnen hereinbrach, durchaus in den Köpfen der Menschen präsent, die Menschenrechtsverletzungen und Morde durch die Militärs auch ohne eine öffentliche Aufarbeitung gegenwärtig.
So drückte es Víctor Jara in seinem letzten Gedicht aus, das er im Stadion angesichts der bis dahin unvorstellbaren Geschehnisse niedergeschrieben hat, das von Mitgefangenen von Hand zu Hand ging und schließlich herausgeschmuggelt wurde:
„Lied, wie schlecht klingst du, wenn ich mit Entsetzen singe. Entsetzen, wie das, das ich sehe, Entsetzen, an dem ich sterbe, Entsetzen … mich inmitten von so viel Entsetzen und so vielen Momenten des Unendlichen zu sehen, wo das Verstummen und der Schrei die Inhalte des Gesangs sind. Das, was ich sehe, habe ich noch niemals gesehen. Das, was ich gefühlt habe und das, was ich fühle, wird den Moment gebären.“

Übersetzung: Sandra Grüninger

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