Nummer 373/374 - Juli/August 2005 | Regionale Integration

Lula goes South

Brasilien als Vorreiter zu einer neuen Welthandelsgeografie?

Die Regierung Lula galt einst als großer Hoffnungsträger für politische Veränderungen in Brasilien. Aufgrund konservativer Wirtschaftspolitik, einer äußerst trägen Umsetzung der Agrarreform und Korruptionsskandalen begruben viele ihre Hoffnungen. Doch in einem Punkt hat die Regierung interessante Neuerungen durchgesetzt: Neben Fortschritten bei der regionalen Integration in Lateinamerika gelang es, außenpolitische Bündnisse mit anderen Ländern des Südens, etwa mit China, Südafrika oder Indien zu schmieden. Nach einer langen Durststrecke könnte so ein Revival globaler Süd-Süd-Zusammenarbeit erfolgen.

Stefan Schmalz

Eigenständige Süd-Süd-Kooperationen galten spätestens seit der Schuldenkrise 1982 und dem Zusammenbruch des Realsozialismus 1989/90 als gescheitert. Die Gründe: Mit der Verschuldungskrise wurde die Möglichkeit zur Süd-Süd-Zusammenarbeit stark eingeschränkt, weil die Devisenbasis erodierte. Zudem ermöglichte das sprunghafte Wachstum der Auslandsschulden den Industriestaaten, den Regierungen der Dritten Welt Strukturanpassungsprogramme aufzuzwingen.
Die neoliberale Dekade der 90er wurde zu einem Jahrzehnt tiefer Veränderungen. Die Integrationsbestrebungen im Süden bestanden meist darin, einen für ausländische Anleger attraktiven gemeinsamen Markt zu schaffen, der sich durch niedrige Außenzölle, die Beseitigung von Kapitalverkehrskontrollen und eine feste Koppelung an den Dollar auszeichnete. Diese als „offene Regionalismen“ bezeichneten Abkommen sollten als Sprungbrett auf den Weltmarkt dienen. Sie waren durch eine hohe Außenorientierung und interne Liberalisierungen gekennzeichnet, die die Abhängigkeit der Entwicklungsländer vom Norden vertiefte.
Auch Brasilien sah sich durch das neue weltwirtschaftliche Regime tiefgreifenden Veränderungen ausgesetzt. So leitete Brasiliens Präsident Collor de Mello bei seinem Amtsantritt 1991 das Ende des alten Entwicklungsmodells der staatszentrierten Industrialisierung ein.

Das Jahrzehnt des
Ausverkaufs

Es folgten radikale Zollsenkungen. Die Privatisierung des Staatssektors wurde initiiert. Die Außenpolitik orientierte sich nun wieder stärker an den Vorgaben der USA und der EU. Auch die Amtsübernahme des ehemaligen Dependenztheoretikers Cardoso 1995 sollte hieran wenig ändern. Durch das Inflationsbekämpfungsprogramm Plano Real schuf die Regierung Rahmenbedingungen, die den Ausverkauf der heimischen Industrie und das Wachstum des Schuldenbergs begünstigten. Es kam zu über 1200 Übernahmen brasilianischer Firmen durch ausländische Multis und die Auslandsschulden stiegen von rund 145 Milliarden US-Dollar im Jahr 1993 auf 241 Milliarden im Jahr 1999 an. Obwohl die Regierung Cardoso (1995-2002) die Integrationsbestrebungen in Südamerika förderte, verhandelte sie zeitgleich über die von der US-Regierung initierte panamerikanische Freihandelszone ALCA und das ebenfalls neoliberale EU-MERCOSUR-Assoziierungsabkommen und trug zum Fortschritt der WTO-Verhandlungen bei. Erst gegen Ende der zweiten Legislaturperiode bemühte sich die Administration stärker um eine außenpolitische Umorientierung.

Brasilien in der Zwickmühle

Die Regierung Lula übernahm 2003 demzufolge die Macht in einer schwierigen außenpolitischen Situation. Brasilien befand sich in einer Zwickmühle aus verschiedenen Verhandlungsprozessen. Mit der ALCA und dem EU-MERCOSUR-Assoziierungsabkommen stand auf (inter)regionaler Ebene die wirtschaftspolitische Souveränität Brasiliens auf der Kippe.
Die Mitte-Links-Regierung entschied sich daher für eine Verhandlungsstrategie, mit der die nationale Souveränität verteidigt werden sollte, ohne jedoch einen direkten Abbruch der Beziehungen mit den USA oder der EU zu riskieren. Die ALCA wurde im November 2003 auf dem Gipfeltreffen in Miami von einer Allianz aus Brasilien, Venezuela und Argentinien torpediert und liegt seitdem auf Eis. Auch der Verhandlungsprozess für das EU-MERCOSUR-Abkommen geriet im Herbst 2004 nach einem langen Hin und Her ins Stocken.

Vor Cancún ist
nach Cancún

Das Scheitern des WTO-Gipfels im mexikanischen Cancún 2003 war wohl der deutlichste Ausdruck eines gestiegenen Selbstbewusstseins im Süden. Im Vorfeld der Konferenz hatten sich mit der G20 ein Zusammenschluss von Schwellen- und Entwicklungsländern gebildet, der sich um politische Schwergewichte wie China, Indien, Brasilien und Indonesien gruppierte. Die brasilianische Regierung fungierte als Organisator dieser Gruppe und trug ihren Teil dazu bei, den WTO-Gipfel platzen zu lassen.
Doch die Südallianz ruderte zurück: In der WTO wurde zum 1. August 2004 ein Rahmenpaket verabschiedet, das einige heikle Themen außen vor lässt, aber die Verhandlungen neu anschiebt. Es ist zu befürchten, dass bei den neuen Verhandlungen Vertreter der Dritte-Welt-Länder in Bereichen wie Zollsenkungen für Industrie- und Agrarprodukte wieder einmal über den Tisch gezogen werden könnten.
Die brasilianische Rolle in diesem Prozess war äußerst ambivalent. Die Brasilianer waren zusammen mit der indischen Regierung in einen selektiven Dialog mit den USA, der EU und Australien getreten und hatte daran mitgewirkt, den WTO-Verhandlungsprozess neu zu initiieren. Gleichzeitig hat sich die G20 – nicht zuletzt wegen Brasilien – als ein neuer Akteur in der WTO etabliert.

Neue Freunde im Süden

Die Regierung Lula begann neben einem Aus- und Umbau ihrer Beziehungen in den internationalen Institutionen eine rege Aktivität, um auf bilateraler und regionaler Ebene neue Zusammenschlüsse zu fördern. Alleine im Jahr 2003 bereiste der neue Staatschef 38 Länder. Das Ziel der regen Reiseaktivität: Eine neue Geografie des Welthandels, die stärker den Bedürfnissen der Dritten Welt zu Gute kommen sollte. Hierfür boten veränderte weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen einen Ausgangspunkt. Nach einem Tiefpunkt des Süd-Süd-Handels stieg der Anteil der Entwicklungsländer am Welthandel in der Zeitspanne von 2000 bis 2004 wieder von 19 auf 23 Prozent. Die Kooperation mit bedeutenden Schwellen- und Entwicklungsländern wie China, Indien, Russland und Südafrika hatte hier ein besonderes Gewicht. Die Idee der brasilianischen Regierung war daher: Bei einer wirksamen Zusammenarbeit wären die technologischen Ressourcen, ausreichend qualifizierte Arbeitskräfte und das nötige Kapital vorhanden, um die Abhängigkeit von den Industriestaaten zu verringern. Lula versuchte deswegen, Bündnisse mit den bevölkerungsreichsten Schwellenländern aufzubauen.
Gerade das chinesisch-brasilianische Verhältnis bot hierbei infolge des rasanten Wirtschaftswachstums Chinas ein großes Potential. So wurde das Verhältnis mit der Volksrepublik China durch die Vereinbarungen im November vergangenen Jahres auf eine neue Stufe gestellt. Die chinesische Regierung sagte knapp acht Milliarden US-Dollar für Direktinvestitionen im Bergbau und Eisenbahn-Bereich zu und machte Konzessionen im Tourismusbereich und bei brasilianischen Agrarimporten im Umfang von 800 Millionen US-Dollar. Im Gegenzug erkannte Brasilien China auf der Ebene der WTO als Marktwirtschaft an und bekundete – wie von der Volksrepublik zur Aufnahme von diplomatischen Beziehung gefordert – die Unterstützung ihrer Ein-China-Politik, das heißt, Chinas Anspruchs auf Taiwan. Der bilaterale Handel von mittlerweile 9,15 Milliarden US-Dollar soll durch spartengebundene Freihandelsabkommen bis 2010 verdoppelt werden. Dieses Ziel scheint nicht unrealistisch. Der Handel zwischen beiden Ländern wurde alleine von 2002 bis 2004 von vier auf über neun Milliarden US-Dollar gesteigert.
Brasilien begann zudem mit der Gründung des India Brazil South Africa Dialogue Forum bessere Beziehungen mit Südafrika und Indien zu etablieren. Durch ein Abkommen mit Indien und der Southern African Customs Union im Dezember 2004 wurden die Zölle für 890 Produkte um 20 Prozent gesenkt.
Die brasilianische Regierung setzte ebenfalls auf eine wachsende Kooperation mit dem subsaharischen Afrika und dem Nahen Osten. Sie schloss Abkommen mit einer Fülle von wirtschaftlich weniger bedeutenden Ländern – etwa Syrien, Burkina Faso oder Libyen – ab, was in verschiedenen Fällen zu einem rasanten Anstieg des zwischenstaatlichen Handels führte. Gleichzeitig begann die Lula-Administration, interregionale Foren zur politischen Kooperation zu schaffen. Im Mai 2005 fand ein erstes Treffen zwischen dem MERCOSUR und arabischen Staaten statt, auf dem allerdings keine bahnbrechenden Ergebnisse erzielt wurden. Ein südamerikanisch-afrikanisches Treffen soll auf den Anfang des Jahres 2006 datiert werden.

Probleme in der neuen Süd-Süd-Kooperation

Kann die Regierung Lula also als erfolgreicher Architekt einer neuen Welthandelsgeografie gelten? Einige Zahlen sprechen dafür. Der Anteil am brasilianischen Gesamthandel mit der EU von 2002 bis 2004 ging beispielsweise von 26,84 auf 25,17 Prozent und mit der USA von 23,83 auf 19,7 Prozent zurück, während der Austausch mit dem subsaharischen Afrika von 4,68 auf 6,54 Prozent kletterte. Neben diesem handelspolitischen Aspekt konnte der dauerhafte Dialog und die Zusammenarbeit mit anderen wirtschaftlich schlecht entwickelten Staaten gestärkt werden. Auch die größere Aktivität des Südens in der WTO ist zumindest als ein Indiz für eine Umorientierung zu werten. Dennoch existieren Fallstricke für eine Vertiefung der Süd-Süd-Kooperation. Es besteht die Gefahr, dass der Süden die ungleichen Handelsstrukturen zwischen Nord und Süd reproduziert. China könnte in den sino-brasilianischen Beziehungen perspektivisch die Rolle eines Industriewarenexporteurs wahrnehmen, während Brasilien als reiner Agrarexporteur fungieren würde. Ähnlich ist das Verhältnis zwischen Brasilien und den subafrikanischen Staaten zu bewerten. Brasilien erwirtschaftet mit dem Export von Industriewaren einen Handelsüberschuss, während afrikanische Länder lediglich Agrarwaren ausführen. Es kommt auf die Art und Weise der Integration an: Radikale Marktöffnungsprogramme werden auch im Süden als Vehikel einer neoliberalen Politik dienen. Bisher scheint die Regierung Lula jedoch in vielen Punkten auf relativ defensive Integrationsstrategien bedacht zu sein.

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