Entwicklungspolitik | Nummer 231/232 - Sept./Okt. 1993

Machbarkeitswahn und Apokalypse: Vom diskreten Charme der Bevölkerungspolitik

Seit einigen Jahren ist das Problem “Überbevölkerung” oder projiziert in die Zukunft – das Problem des “zu hohen Bevölkerungswachstums” wieder in aller Munde: Ein jungdynamischer Neunmalkluger prophezeite es von einem Werbe-Plakat der Firma ESPRIT: “Ohne die Überbevölkerung könnten die Menschen mit der Natur in Harmonie leben”. Und die “Süddeutsche” unternahm mit ihrer als “Zeitbombe Mensch” titulierten Artikelserie im Herbst 1992 eine Neuauflage der sinnbildlichen Sprache des Kalten Krieges. Aber auch in gesellschaftskritischen Kreisen scheint der Begriff “Überbevölkerung” nicht mehr wie in den 70er Jahren als ein Mythos imperialistischer Herrschaftsideologie entlarvt zu werden. Vielmehr ist es weitverbreitet, Überbevölkerung in einer Trinität neben “Unterentwicklung” und “Umweltzerstörung” als objektives Problem der Menschheit zu beschwören und daraus zu folgern, eine wie auch immer gestaltete nationale oder supranationale Bevölkerungspolitik sei grundsätzlich unabdingbar. Was macht die Attraktivität des “Bevölkerungsproblems” aus?

Susanne Schultz

Das Gefühl der Überbevölkerung

Schon der Ökologe Paul Ehrlich, der 1969 den Bestseller mit dem Titel “Die Bevölkerungsbombe” veröffentlichte, wies auf die emotionale Gewißheit der Überbevölkerungsgefahr hin. Er beschreibt eine Nacht in Delhi, als er in einem Taxi durch die Stadt fuhr und dabei “Menschen, die schwatzten, stritten und kreischten … Menschen, die urinierten und sich den Darm entleerten” beobachtete. Interessanterweise räumt er gleichzeitig ein: “Wir waren nur ein paar überprivilegierte Touristen, denen die Menschenmassen und Geräusche Indiens fremd waren. Vielleicht, aber seit jener Nacht kenne ich das Gefühl der Überbevölkerung.”
Während die Sprache diese Emotionalität in der Debatte schürt und Menschen mit Waffen oder Naturkatastrophen vergleicht (Bilder wie Flut, Bombe, Zeitzünder, Krebszellen gehören inzwischen zum journalistischen Alltag), suggeriert der Begriff Überbevölkerung – untermauert mit vielfältigen Statistiken – mathematische Objektivität.
Auch in linken, ökologischen und manchen feministischen Diskursen taucht heute diese Gewißheit eines objektiven Bevölkerungsproblems auf. Bestimmte Elemente bevölkerungspolitischen Denkens scheinen vertraut oder leicht integrierbar zu sein. Um dies zu verstehen, ist es notwendig, zunächst die Logik von Bevölkerungspolitik und von Überbevölkerung, dem Problem, das sie konstruiert, unter die Lupe zu nehmen.

Überbevölkerung – eine simple Rechnung zur Legitimation moderner Bevölkerungspolitik

Bevölkerungspolitik sind alle von staatlichen, supranationalen oder privaten Institutionen durchgeführten Maßnahmen, die darauf abzielen, die Quantität, räumliche Verteilung und/oder “Qualität” einer Bevölkerung zu beeinflussen. Familienplanungsprogramme als ein mögliches Instrument zur Geburtenreduzierung sind demnach nur dann Bevölkerungspolitik, wenn mit ihnen demographische Zielsetzungen verbunden sind. Das von Frauenbewegungen eingeforderte Recht auf selbstbestimmte Geburtenkontrolle als Individualrecht wird also nicht durch Bevölkerungspolitik ermöglicht, wie oft behauptet, sondern grundsätzlich durch ein demographisches Ziel eingeschränkt.
Die eugenische Tradition, Bevölkerungspolitik zur Verbesserung der “Qualität” einer Bevölkerung einzusetzen, tritt heute in der öffentlichen Legitimation kaum noch explizit als demographische Zielsetzung auf. Stattdessen wird behauptet, auf internationaler Ebene gäbe es ein Zuviel an Bevölkerung, das als ein Ungleichgewicht zwischen der Anzahl der Menschen und der Anzahl an Ressourcen dargestellt wird. Die Konstruktion der Überbevölkerung geschieht dabei in zwei Denk-Schritten: der Berechnung der Überbevölkerung und der Auswahl einer bestimmten Gruppe, die dieses Zuviel repräsentiert.

Die Überbevölkerung auf dem Rechenschieber

Überbevölkerung kann nur gedacht werden, wenn folgende simple Rechnung aufgestellt wird: Die Menge der Menschen wird als abstrakte Zahl bestimmten Daten über Ressourcen gegenübergestellt. Je nach historischem und ideologischem Kontext wurde dabei die Nahrungsmittelproduktion, das Bruttosozialprodukt, der Rohstoffabbau oder die landwirtschaftlich nachhaltig nutzbare Fläche gewählt. Beide Größen werden als unabhängig voneinander betrachtet und in Verhältnis zueinander gesetzt.
Es wird dabei unterschlagen, daß die Menge der gesellschaftlich produzierten und benötigten Ressourcen von der Form der gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen abhängen.
Ausgangsthese ist, daß es einen idealen Gleichgewichtszustand zwischen beiden Größen gibt. Ein davon abweichendes Ungleichgewicht zwischen beiden Daten kann so entweder als ein Mangel an Ressourcen, oder als ein Zuviel an Menschen, als Überbevölkerung definiert werden. Jedes gesellschaftliche Problem kann so als Bevölkerungsproblem dargstellt werden. Beispielsweise kann ein zu niedriges Bruttosozialprodukt pro Kopf als ein Zuwenig an Produktivität oder als ein Zuviel an Menschen betrachtet werden.
Voraussetzung ist, daß die gesellschaftliche Bedingtheit der Daten ignoriert wird, die der Menschenmasse gegenübergestellt werden. Nur ahistorische statische Gesetze etwa über die Menge an Menschen, die auf eine Fläche leben können, ermöglichen die Berechnung der Variable Bevölkerung. Die mathematische Korrelation erscheint in den bevölkerungspolitischen Diskursen damit als Ursache – Wirkungsverhältnis; das Zuviel an Bevölkerung ist Ursache für das Zuwenig an Ressourcen, für die Abweichung von dem errechneten Gleichgewichtszustand.

Biomasse Bevölkerung

Existenzberechtigt im Sinne des Allgemeinwohls und gesellschaftlicher Planung sind dabei nur die Menge an Menschen, die nach einer solchen Rechnung effizient ökonomisch oder ökologisch einsetzbar/verträglich sind. Der Terminus Überbevölkerung ähnelt dem rassistischen Diskurs, der die Minderwertigkeit bestimmter Gruppen als objektive wissenschaftliche Tatsache darstellt. Auch die mangelnde gesellschaftliche Integrierbarkeit einer bestimmten Anzahl an Menschen dient als Vehikel, das Existenzrecht abzusprechen, ohne den Diskurs der Aufklärung zu verlassen.
Bevölkerungspolitik kann nämlich nur als Allgemeininteresse dargestellt werden, indem Bevölkerung als Biomasse Mensch zum Objekt gesellschaftlicher Planung wird und dabei von dem sie manipulierenden Subjekt Menschheit getrennt wird. Sie entgeht so dem Image einer offensichtlichen Selektionspolitik. (Nach Foucault ist die Konstruktion von “Bevölkerung” als einer jenseits von Individuen und Gesellschaft existierenden Biomasse ein entscheidendes Moment der Ende des 17. Jahrhunderts enstehenden Machttechniken, die nicht mehr nur die Macht des Souveräns über den Tod seiner Untertanen beinhalteten, sondern sich auf eine Optimierung des Lebens durch demographische Eingriffe ausweiteten.)

Selektion der Überbevölkerung

Obwohl aus der rein mathematisch quantitativen (und in diesem Sinne verteilungsneutralen) Formel “Überbevölkerung” nicht abzuleiten ist, wer denn von der abstrakten Menge zu viel sei, wird in einem typischen Bruch in der bevölkerungspolitischen Argumentation die quantitative Abstraktheit verlassen und selektiert, wenn gefragt wird, wer denn reduziert werden müsse. Es ist dann immer die arme und/oder in ökologisch sensiblen Gebieten der “Entwicklungsländer” lebende Bevölkerung, die das Zuviel ausmacht, die die abstrakte Überbevölkerung zu einer konkreten macht. Um die Reduzierung der errechneten Überbevölkerung politisch umzusetzen, werden nicht mehr die Menge der Ressourcen abstrakt auf die Menge der Köpfe verteilt, sondern wird eine bestimmte Gruppe als die errechnete Überbevölkerung identifiziert. Dazu werden entsprechend sozialdarwinistischer Prinzipien eben die Gruppen zum Problem erklärt, die aufgrund der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen sowieso von dem Zugang zu den Ressourcen ausgeschlossen sind. Ebenso wie die Festlegung der Menge an produzierten und benötigten Ressourcen im ersten Schritt wird so im zweiten Schritt die bestehende Gesellschaftsstruktur zum Naturgesetz erklärt – die Vermehrung der Unterprivilegierten wird gleichgesetzt mit der Vermehrung ihrer Probleme. Es entsteht die immer wieder eingängige Tautologie: Es gibt zu viele Flüchtlinge, weil zu viele Menschen existieren, die sich auf die Flucht begeben müssen oder zu viel Armut, weil zu es viel Arme gibt…

Wie nah liegt der Vernichtungsgedanke?

Zum bevölkerungspolitischen Selbstverständnis gehören weiterhin Antworten auf die Fragen, wie denn die als Überbevölkerung identifizierte Gruppe zu reduzieren sei. In der Behauptung einer weltweiten Überbevölkerung ist noch nicht festgelegt, mit welchen Mitteln dieses Zuviel auf das errechnete Bevölkerungsoptimum zurechtgestutzt werden kann. DemographInnen kennen als Einflußfaktoren auf eine Bevölkerungsmenge (neben der Migration im nationalen Maßstab) die Sterbe- und die Geburtenrate. Technokratisch gedacht ist es dabei egal, an welcher Rate manipuliert wird, allerdings besteht der offizielle Konsens heute “aus ethischen Gründen” (noch) auf der Manipulation an der Geburtenrate. (Nicht selten jedoch überlegen DemographInnen, wie z.B. das Bevölkerungswachstums durch AIDS beeinflußt wird. Auch in der Artikelserie der “Süddeutschen” wird dieser Zusammenhang hergestellt: Ein Beitrag mit dem Untertitel “Nur durch eine entschlossene Politik könnte dem Wachstum der Menschheit Einhalt geboten werden” enthält ein Schaubild zur weltweiten Verteilung von HIV-Neuinfizierten, ohne darauf im Text einzugehen)

Frauenkörper als Medium der Bevölkerungskontrolle

Ein weiterer Konsens im herrschenden bevölkerungspolitischen Diskurs ist die Antwort auf die Frage, wie denn die Geburtenrate zu beeinflussen sei. Es entspricht der Tradition biologistischer Gesellschaftsinterpretationen, Frauen mit Natur, Männer mit Kultur und Zivilisation gleichzusetzen. Zielscheibe von Bevölkerungspolitik im Sinne einer pervertierten, die Menschen selbst zum Objekt machenden Naturbeherrschung ist so die Gebärfähigkeit der Frauen (nicht die Zeugungsfähigkeit der Männer), die durch technologische Eingriffe (Sterilisationen und Verabreichung langwirkender Verhütungsmittel) unter Kontrolle gebracht werden soll. Denn die Gesellschaftlichkeit des Gebärens wird ebenso in Frage gestellt wie die der verfügbaren Ressourcen und deren gesellschaftliche Verteilung.
Die Definition von nicht lebenswertem und von ökologisch und ökonomisch nicht integrierbarem Leben ist Ideologie zur Herrschaftslegitimation, die nur in sich widerspruchsfrei ist, wenn gesellschaftliche Strukturen für unveränderbar gehalten und damit biologisiert werden. Dies ist ein altbekanntes und zentrales Element ideologiekritischer Positionen. Warum überfällt das Gefühl der Überbevölkerung dennoch auch GesellschaftskritikerInnen?

Linker Machbarkeitswahn

Die Idee eines starken Zentralstaates, der planerisch nicht nur die Ökonomie, sondern auch die Bevölkerungszahl kontrolliert, um einen Gleichgewichtszustand zu erreichen, ist Teil linker Utopietraditionen. Marx hatte zwar die malthusianische Annahme eines gottgegebenen Ungleichgewichts zwischen dem Wachstum der Nahrungsmittelproduktion und der Bevölkerungszahl als herrschaftslegitimierend kritisiert und stattdessen von einer durch Krisen des Kapitalismus immer wieder reproduzierten relativen Überbevölkerung gesprochen. Es gab jedoch auch Sozialisten wie z. B. Kautsky, die das Problem einer absoluten Überbevölkerung als unabhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen ansahen. In einem Brief an Kautsky kritisierte Engels zwar diese Haltung; einig war er sich jedoch mit ihm, daß eine kommunistische Gesellschaft in der Lage sei, “die Produktion von Menschen ebenso zu regeln, wie sie die Produktion von Dingen schon geregelt habe.”

Zahlenmagie

Auch heute scheinen sich diese Traditionen zu wiederholen. Meinungsunterschiede bestehen oft nur darin, wann eine zentrale Politik an wen zu delegieren sei: Die einen glauben nicht mehr an weltweite Strukturveränderungen und sehen die Anpassung der Bevölkerungszahlen an die gegebenen Verhältnisse als Gebot der Stunde an. Sie plädieren im Sinne der Neuen Weltordnung für ein Vertrauen in die internationalen bevölkerungspolitischen Institutionen, die sich als Hüter des allgemeinen Menschheitsinteresses ausgeben. Die anderen sehen zwar die Verteilung von Ressourcen und den Anteil der Industrieländer an der weltweiten Umweltzerstörung und erkennen daher die ideologische Funktion der Behauptung, Bevölkerungswachstum sei Ursache aller Menschheitsprobleme. Sie können sich aber genausowenig der Vorstellung entziehen, es gäbe in der Zukunft eine objektiv berechenbare und durch zentralen planerischen Zugriff zu kontrollierende Grenze für die Anzahl der Menschen auf der Welt.
Wenn also die letztere kritischere Position das Selektionsprinzip im bevölkerungspolitischen Diskurs entlarvt, sitzt sie doch der Trennung eines Subjektes Gesellschaft von der funktional einsetzbaren und regulierbaren Biomasse Bevölkerung auf, die Voraussetzung für die Selektion der als überschüssig betrachteten Menschen ist. Sie reproduziert die Annahme einer Berechenbarkeit eines Gleichgewichtszustandes ebenso wie die gesellschaftlichen Problemlösungen als Auflösung der Ungleichung auf der Seite der Variable Bevölkerung.

Revolutionäre Massen

Auch die lateinamerikanische Linke hinterfragte in ihrer Kritik an imperialistischer Bevölkerungspolitik nicht grundsätzlich das Konzept der Variable Bevölkerung, sondern argumentierte nur mit einer dem neomalthusianischen Diskurs der internationalen Agenturen entgegengesetzten Funktionalität von Bevölkerung. Sie widersprach der Betrachtung von Bevölkerung als Masse von KonsumentInnen, die das Bruttosozialprodukt verschlingen und entwarf Bevölkerung stattdessen als Masse der Arbeitskräfte. Oder sie betrachtete eine Steigerung der KonsumentInnen entsprechend den nachfrageorientierten ökonomischen Modellen der Dependenztheorie als förderlich für die Entwicklung eines nationalen Binnenmarktes. Auch die berühmte Kritik Eduardo Galeanos an neomalthusianischen Programmen, in Lateinamerika sei es wirksamer, die Guerillakämpfer in der Gebärmutter zu töten, reproduziert das Konzept der Neomalthusianer unter umgekehrten Vorzeichen: die Bevölkerungsmasse gilt als funktional für revolutionäre Entwicklungen.

Geburtenkontrolle als Naturbeherrschung

Eng verknüpft damit, Bevölkerung als funktionale Größe für gesellschaftliche Entwicklung zu betrachten, ist die Vorstellung der technokratischen Beeinflußbarkeit der Geburtenraten. Dabei begreifen viele Linke die (nach marxistischer Terminologie) als Produktion definierte Sphäre der Gesellschaft als historisch gewachsene Komplexität, während sie die Sphäre der Reproduktion, d.h. die in der geschlechtlichen Arbeitsteilung Frauen zugeschriebenen Tätigkeiten, als ahistorisch und natürlich betrachten. Sie leugnen die historisch entwickelten Konstruktionen von Fruchtbarkeit, Weiblichkeit, Sexualität und die gesellschaftliche Organisation der Kindererziehung/betreuung, wenn ihre Beeinflussung durch demographische Zielvorgaben und technokratische Programme zur Kontrolle der Gebärfähigkeit als machbar angesehen wird. Die Vorstellung, die Veränderung im “Gebärverhalten” sei keine von gesellschaftlichen Prozessen abhängige, sondern eine technokratisch zentral lenkbare Größe eint linken Machbarkeitswahn mit neomalthusianischen Technokraten: Geschlechterverhältnisse geraten dabei völlig aus den Augen.

Bevölkerungskontrolle oder Barbarei

Dabei haben schon die bevölkerungspolitischen Agenturen selbst längst gelernt, daß durch Zwangssterilisationen oder flächendeckende Verhütungsmittelprogramme allein die Geburtenraten nicht verändert werden können. Sie versuchen deswegen, ihre Aha-Erlebnisse über die gesellschaftliche Bestimmtheit “generativen Verhalten” (im Wortlaut der Demographie) doch wieder sozialtechnologisch handhabbar zu machen. Dazu führen sie “Akzeptanzforschung” durch und funktionalisieren Gesundheits- oder Sozialprojekte für antinatalistische Programme. In der ideologischen Debatte über die Notwendigkeit von Bevölkerungspolitik scheint jedoch gerade bei frustrierten Linken außer Frage zu stehen, daß die ungleiche Weltwirtschaftsordnung zwar unveränderbar sei, die durch Geschlechterhierarchien geprägten gesellschaftlichen Muster von Mutterschaft und Fruchtbarkeit dagegen durch technokratischen Eingriff einfach zu manipulieren seien.

Ökologie zwischen Zivilisationspessimismus und Ökomanagment

Bevölkerungswachstum als Ursache für Umweltzerstörung ist seit den 80er Jahren eines der zentralen Themen zur Legitimierung antinatalistischer Programme und von weiten Teilen der Ökologiebewegung ebenfalls in die Problemanalyse aufgenommen worden. Zwei ahistorische Natur- und Ökologiebegriffe haben dieser Betrachtung Vorschub geleistet:
Auf der einen Seite stehen NaturschützerInnen (konservativ bis esoterisch), die Natur als einen Wert an sich betrachten, der grundsätzlich durch die menschliche Zivilisation bedroht wird. Jeder menschliche Eingriff gilt dabei unabhängig von der Form der Naturaneignung als zerstörerisch. Zukunftsvisionen einer Apokalypse durch die Vermehrung der als Parasiten vorgestellten Menschen wird dadurch Vorschub geleistet. In diesem Sinne ist die gesamte Menschheit eine Überbevölkerung – bedeutet jede Reduzierung der Masse Mensch einen Akt des Umweltschutzes. Da Kulturlandschaften in diesem Sinne immer schon zerstörte Natur sind, konzentriert sich diese Tendenz auf die Rettung von Naturenklaven, die vom Menschen unberührt sind (oder so erscheinen) wie z. B. Regenwälder. Auch wenn diese Betrachtung von Natur sich gegen eine Reduzierung der Sichtweise auf ökonomisches Kostennutzenkalkül stellt, hinterfragt sie nicht das herrschende Modell der Naturaneignung und anderer Möglichkeiten eines regenerativeren gesellschaflichen Umgangs mit Natur.

“Ein Bangladeshi funktioniert wie ein Solarmobil”

Eine andere Konzeption von Natur (auch wenn oft nicht klar argumentativ getrennt) verfolgt die technokratische Variante der ökologischen Argumentation. Sie sucht Einsicht in die Komplexität weltweiter Zusammenhänge zwischen Menschen und Ökosystem durch ihre Reduktion auf Regelsysteme, die mit naturwissenschaftlichen quantitativen Daten gefüttert werden. Durch diese kybernetischen Systeme soll das Ökosystem wieder berechenbar und damit kontrollierbar gemacht werden: Der Mensch soll als Ökomanger die als Kreisläufe und Regelsysteme konzipierten Naturprozesse simulieren oder steuern und damit einem Ökokollaps vorbeugen. Bevölkerung gilt innerhalb dieses Denkens als eine Variable unter mehreren im komplexen System. Dabei wird die gesellschaftliche Struktur und Dynamik des herrschenden Modells der Naturaneignung ebenso geleugnet, wie die Existenz unterschiedlicher gesellschaftlicher Organisationsformen und kultureller Sinngebungen in Bezug auf Natur.
Gesellschaft wird in den Berechnungen meist darauf reduziert, daß bei dem “Faktor Mensch” differenziert wird nach Größen wie z.B. die Zahl der Autos oder des Energieverbrauchs pro Kopf, die dann als Multiplikatoren für umweltschädlichere und -freundlichere Versionen der Spezie Mensch eingesetzt werden können. So wurde z.B. in einem GEO-Schwerpunkt-Heft mit dem Titel “Sprengstoff Mensch – Die Bevölkerungsexplosion” erklärt: “Ein Bangladeshi funktioniert wie ein Solarmobil – mit Sonnenkraft und schadstoffrei”. Gefolgert wird aus solchen Betrachtungen entweder, daß die Reduzierung des Bevölkerungswachstums mit einer Reduzierung dieser Faktoren kombiniert werden müsse oder umgekehrt, daß gerade die größte Gefahr für den Globus in den Menschen besteht, die den westlichen Konsumstandard anstreben und so ihr Potential an Umweltzerstörung im Gegensatz zu den Menschen in den Industrieländern noch vervielfältigen können. Es wird also mal wieder eine Ungleichung Umwelt-Bevölkerung aufgestellt und Bevölkerung als die Variable betrachtet.

Alle meine Entchen…

Es geht in dieser falschen Globalität nicht mehr um gesellschaftliche, sondern um Menschheitsprobleme. Zur Berechenbarkeit werden im Sinne eines abstrakten Mensch-Natur-Verhältnisses Elemente der Soziobiologie hoffähig: So ist das Konzept der Tragfähigkeit als Verhältnis zwischen einem bestimmten Territorium und einer Zahl von Menschen, die darauf nachhaltig wirtschaften kann, in Anlehnung an die Populationsbiologie von Tieren entwickelt worden. Nur unter Abstraktion von den sozialen Bedingungen eines bestimmten Produktionssystems (wie Arbeitsorganisation, technische Möglichkeiten, Energieverbrauch bei der Landwirtschaft, Eßgewohnheiten, Bedürfnisse nach Platz, usw.) und unter Annahme einer vom Weltmarkt getrennten, geldlosen und autarken Subsistenzökonomie kann die Tragfähigkeit eines bestimmten klimatisch und von der Bodenbeschaffenheit homogenen Gebietes ermittelt werden. Dennoch wird mit fragwürdig ermittelten globalen Tragfähigkeitsberechnungen inzwischen in der bevölkerungspolitischen Debatte leichtfertig argumentiert. Auch KritikerInnen von Bevölkerungspolitik verwenden solche Daten gern. Dies ist sicherlich sinnvoll, wenn Neomalthusianer mit ihren eigenen Mitteln geschlagen werden sollen und darauf aufmerksam gemacht werden soll, wie selektiv sie Statistiken anwenden. Die Tragfähigkeitsberechnungen ignorieren jedoch außer den genannten gesellschaftlichen Faktoren auch Gründe, warum gerade die ärmsten Bevölkerungsschichten historisch immer in die ökologisch sensibelsten Gebiete abgedrängt wurden und wenden sich gegen jede gesellschaftliche Neuverteilung von Land als andere Art der Problemlösung.

Feministische Bevölkerungspolitik?

Im Gegensatz zu dem planerischen Zugriff auf die Variable Bevölkerung für die verschiedensten utopischen Gesellschaftsentwürfe haben Frauenbewegungen gerade gegen den staatlichen Zugriff auf die Gebärfähigkeit von Frauen protestiert und für ein individuelles Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper und die Anzahl von Kindern gekämpft.
Der Diskurs der westlichen Frauenbewegungen richtete sich dabei zunächst einseitig gegen eine pronatalistische Politik und forderte vor allem das Recht auf Geburtenkontrolle. Frauenbewegungen des Südens dagegen wie z.B. in Lateinamerika mußten sich sowohl mit den antinatalistischen Zwängen der internationalen bevölkerungspolitischen Agenturen als auch mit pronatalistischen Tendenzen von katholischer Kirche und so manchen nationalistischen (linken und rechten) Kräften auseinandersetzen. Sie entwickelten das Konzept der “reproduktiven Rechte”, um darin nicht nur das Recht auf gesundheitsverträgliche Verhütungsmethoden und Abtreibung sondern auch Möglichkeiten für ein Leben mit Kindern einzuschließen. Frauengesundheitsprojekte entstanden, die eine andere Art von Gesundheits-, Sexual- und Verhütungsberatung von den privaten und öffentlichen Diensten forderten und/oder selbst vorlebten.
Dennoch gibt es heute auch in feministischen Kreisen unterschiedliche Vorstellungen darüber, ob Bevölkerungspolitik grundsätzlich abzulehnen oder feministisch reformierbar sei.
Teilweise ist die Diskussion verwirrend, weil manche Feministinnen, wie z.B. Teresita de Barbieri in diesem Heft, den Begriff Bevölkerungspolitik von seiner historischen Bedeutung loslösen und ihn umdeuten. Mehrheitlich geht es jedoch in der Diskussion um das Verhältnis der Frauenorganisationen zu dem internationalen bevölkerungspolitischen Establishment. Die großen Organisationen unterstützen immer mehr Frauengesundheitsprojekte finanziell und nähern sich auch bereits seit einigen Jahren in ihren Diskursen über die Gestaltung der Familienplanungsprogramme an bestimmte feministische Forderungen an, ohne selbstverständlich die antinatalistischen demographischen Zielsetzungen in Frage zu stellen.

Im Vorfeld der Weltbevölkerungskonferenz

Anläßlich der bevorstehenden Weltbevölkerungskonferenz 1994 in Kairo, an der erstmals auch NROs teilnehmen können, wird die Frage eines “Dialoges” mit Institutionen wie Population Council oder Ford Foundation aktuell. Die International Women’s Health Coalition ist eine Organisation mit Sitz in New York, die schon seit einigen Jahren für die Politik des Dialoges eintritt. Sie legte bereits eine Deklaration als Grundlage für die Beteiligung von Frauenorganisationen an der Konferenz vor, die weltweit von über 100 namhaften Frauenorganisationen und Feministinnen (auch einigen Lateinamerikanerinnen) unterschrieben wurde. Darin werden viele allgemeine Forderungen an die Gestaltung von Familienplanungs-Programmen und an die Beteiligung von Frauen bei deren Gestaltung gestellt, Bevölkerungspolitik aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt: “Bevölkerungspolitik muß vielen Bedingungen entgegenwirken, die die reproduktive Gesundheit und Rechte von Frauen und Männern beeinträchtigen.” Gegen diese Deklaration wandte sich das “Women’s Global Network for Reproductive Rights”, ein Zusammenschluß von Frauengesundheitsorganisationen, mit dem Aufruf: “Wir müssen über diese Deklaration hinausgehen und jede Art von Bevölkerungspolitik ablehnen, da sie nicht mit der Selbstbestimmung der Frau in den Bereichen Fruchtbarkeit und Sexualität zu vereinbaren ist.”

Selbstbestimmung als Kosten-Nutzen-Kalkül?

Der Streit zeigt, daß die Konzentration der Frauenbewegungen auf das individuelle Selbstbestimmungsrecht nicht ausreicht, klare ideologiekritische Positionen gegenüber der Behauptung einer “Überbevölkerung” zu entwickeln. Dies liegt einerseits daran, daß viele Frauengesundheitsorganisationen in ihrer alltäglichen Arbeit mehr mit den praktischen Folgen demographischer Zielsetzungen (nämlich gesundheitsschädliche, oft durch Fehlinformation oder Erpressung Zwang ausübende Verhütungs- und Sterilisationsprogramme) als mit deren ideologischer Legitimierungsfunktion beschäftigt waren. Zum anderen wird aber “reproduktive Rechte” selbst oft so interpretiert, daß ihre Vereinnahmung durch bevölkerungspolitische Programme möglich ist.(vgl auch den Artikel von Ana Gomes dos Reis in diesem Heft).
Die Berliner Ethnologin Shalini Randeria erläutert, wie Selbstbestimmung in westlichen feministischen Diskursen oft auf ein zweckrationales Verhältnis von Frauen zu ihren Kindern verkürzt wird. Wo Neomalthusianer die Irrationalität von Kinderreichtum als Ursache für Verelendung in den Vordergrund stellen, erklären Kritikerinnen viele Kinder im Leben armer Frauen oft allein daraus, daß die Frauen sie zur Unterstützung als Arbeitskräfte und zur Altersversorgung bräuchten und der hohen Kindersterblichkeit vorbeugen würden. Außerdem wird Selbstbestimmung oft gleichgesetzt mit einer möglichst genauen Planung von Zeitpunkt und Anzahl der Geburten, eine Vorstellung, die weltweit für die Lebensentwürfe vieler Frauen irrelevant ist.
Mit dieser zweckrationalen und technokratischen Vorstellung von Selbstbestimmung vernachlässigt diese Art feministischer Argumentation alle kulturell und individuell unterschiedlichen sinnstiftenden Vorstellungen und Muster von Fruchtbarkeit und Kindern und macht sich damit auch handhabbar für die bevölkerungspolitische Argumentation. Diese geht nämlich auf die zweckrationalen Argumente ein und kombiniert in ihrem Selbstbestimmungsmodell eine Verbesserung des sozialen Status von Frauen mit einer Reduzierung der Geburten, bietet also ein einleuchtendes Muster der Geburtenreduzierung im Sinne einer Kosten-Nutzen-Maximierung an.

Mein Bauch gehört mir

Ähnlich verhält es sich mit der Forderung nach individueller Selbstbestimmung über den eigenen Körper im Sinne einer technischen Kontrolle über einen Körper, der als vom Subjekt getrenntes Eigentum betrachtet wird. Die Kritik an Verhütungsmitteln, die gesundheitsschädlich sind und die den Frauen die Kontrolle über ihre Anwendung entziehen, hat dazu geführt, daß Forderungen nach Selbstbestimmung oft nur als Wahlfreiheit über technische Methoden und als ideale Situation einer vollkommenen Körperkontrolle verstanden wird – ein auf den Körper übertragenes aufklärerisches Modell von Naturbeherrschung, das gesellschaftliche Muster und damit verbundene psychische Prozesse in Bezug auf Schwangerschaft, Sexualität und Mutterschaft völlig unterschlägt. Eine solche Konzeption von reproduktiven Rechten kann in den Diskursen von “Familienplanung” einfach aufgegriffen werden. So kann z. B. die Befürwortung größerer zeitlicher Abstände zwischen Geburten im Sinne der Gesundheit der Frau mit antinatalistischen Zielsetzungen in Einklang gebracht werden.

Traditionelle Selbstregulierung

Während diese Vorstellung möglichst großer Planung und Naturbeherrschung westliche Emanzipationsmodelle auf alle Frauen weltweit überträgt, versuchen andere feministische Denkweisen zu Bevölkerungspolitik oft, die Verhaltensweisen anderer Gesellschaften in Bezug auf Sexualität, Schwangerschaftsverhütung und Geburt zu idealisieren. Traditionelle Verhütungsmethoden werden als “natürlich” und grundsätzlich positiv dargestellt. Sie interpretieren alle sozialen und kulturellen Praktiken, die die Kinderzahl in einer “traditionellen” Geselllschaft beeinflussen nur daraufhin, wie sie die Bevölkerungszahl regulieren. Dadurch wird eine funktionalistische Gesellschaftsinterpretation versucht, die das Gleichgewichtsmodell der Demographie (zwischen Bevölkerung und Ressourcen) nachbetet – nur eben eine “natürliche Selbstregulierung” statt eines Ungleichgewichtes behauptet.

Gegen Bevölkerung als Variable

Feministische Kritik an Bevölkerungspolitik muß also versuchen, sowohl einer naturwissenschaftlichen Betrachtung von Bevölkerung als funktional einsetzbare Biomasse entgegenzuwirken, wie der Betrachtung von Körperlichkeit, Sexualität und Fruchtbarkeit entgegentreten, die sie entweder als Natur mystifizieren, oder sie zu Größen, die technokratisch maximierbar sind, erklären.
Also verjagen wir das Gespenst der Überbevölkerung lieber wieder aus unserem Wissensrepertoire (auch wenn es so schön einfach zu rechnen war), tragen wir unser Überbevölkerungsgefühl lieber zur nächsten Therapiestunde, (oder besser: Lesen wir die Kapitel in Theweleit’s “Männerphantasien”, die von Fluten und Sümpfen handeln) und ordnen die Bilder von Heuschrecken, Sardinenbüchsen und Zeitzündern lieber wieder unter Fauna, Aldi und Bastelstunde ein, wenn wir uns nicht vor lauter Apokalypse und Rechenfaszination unsere letzten Reste von Gesellschaftskritik aus dem Hirn blasen lassen wollen. In Zeiten, in denen die Neue Rechte nicht mehr überall Kommunismus und Anarchie wittert, sondern ihr Weltbild mit Visionen von Naturkatastrophen und natürlichen menschlichen Aggressionspotentialen füllt, sollten nicht Menschheitsfragen, sondern konkrete Gesellschaftsanalysen dagegengesetzt werden. Nicht das Raumschiff Erde, sondern Verteilungskonflikte und viele regional unterschiedliche Auswirkungen des herrschenden gesellschaftlichen Modells der Naturaneignung sollten Thema politischer Ökologie sein. Nicht für die in Zukunftssimulationen berechnete Gattung Mensch, sondern für die heute auf der Welt lebenden Menschen sollte gedacht, nicht Bäuche als Bomben, sondern Körperlichkeit als Produkt der Geschichte verstanden werden. Bevölkerung als Variable ist Tabu!

Literaturtips:
Shalini Randeria: Kinder als Entwicklungsdefizit? Utilitaristische Doppelmoral in: Weltwirtschaft und Entwicklung, Sonderdienst, 29.6.1992
Eva Engelhardt: Naturschutz durch Bevölkerungspolitik? in: Frauensolidarität Nr 41, 1992, S. 17-21
Heide Mertens: Wunschkinder. Natur, Vernunft und Politik, Verlag Westphälisches Dampfboot, Münster 1991
Michel Foucault: Leben machen und sterben lassen. Die Geburt des Rassismus in: Bio-Macht, DISS-Texte Nr. 25, Duisburg 1992
Irmgard Pinn/Michael Nebelung: Das Menschenbild der Bevölkerungstheorie und Bevölkerungspolitik in: Peripherie Nr. 37, 9. Jg. (1989), S. 21-50

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