Machtkampf zwischen Weggefährten von einst
Reformversuche drohen im Morast der Korruption und Ineffizienz zu versinken
Seit der Agronom Rony Smarth im März vergangenen Jahres überraschend zum Premierminister ernannt worden war, hatte er sich für ein Strukturanpassungspaket stark gemacht, das eine Ausdünnung der aufgeblähten Bürokratie und die Privatisierung der wenigen Staatsbetriebe zum Kernstück hatte. Nicht nur die Auszahlung der rund zwei Milliarden US-Dollar Wirtschaftshilfe, die Haiti bis 1999 zugesagt worden sind, hängt davon ab. Ohne eine tiefgreifende Reform droht Haiti überhaupt in dem von den Vorgängerregimes ererbten Morast aus Korruption und Ineffizienz zu versinken. Zwar wurden weder die Privatisierung noch der Kahlschlag in den Ministerien in der 15-monatigen Amtszeit Smarths tatsächlich verwirklicht, doch beherrschte die Debatte über diese Themen die Innenpolitik vollkommen. Expräsident Aristide hatte nämlich seine Anhänger zum Widerstand gegen die “verräterische” Politik seines Nachfolgers aufgerufen. Mit Streiks, Demonstrationen, mysteriösen Mordanschlägen gegen mehrere Polizisten und einem Mißtrauensvotum im Parlament Ende März wurde die Regierung Smarth mürbe gemacht.
Der Aufschub der Wahlen löst zwar nicht die seit Monaten schwelende Regierungskrise, verhindert aber einen Machtwechsel, den Rony Smarth als “Putsch durch Wahlen” bezeichnet hatte. Der erste Wahlgang am 6. April war von mehr als 90 Prozent der Wähler boykottiert worden. Das Ergebnis, dessen Veröffentlichung mehrere Wochen verzögert wurde, blieb dubios. Denn in mehreren Wahlbezirken waren von den internationalen Beobachtern massive Manipulationen zugunsten der Kandidaten von Lafanmi Lavalas aufgezeigt werden. In Cité Soleil, der Slum-Vorstadt von Port-au-Prince, einst eine Hochburg des Expräsidenten Jean-Bertrand Aristide, soll eine mehr als 60-prozentige Mehrheit des Regierungskandidaten einfach auf den Mann von Aristide überschrieben worden sein. Der vom Wahlrat eingefädelte oder gedeckte Betrug war so offensichtlich, daß selbst die sonst sehr vorsichtige Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) dem Urnengang ihren Persilschein verweigerte. Nachdem außer Aristides Lafanmi Lavalas alle Parteien die Stichwahl boykottieren wollten, hätte diese unweigerlich die Mehrheitsverhältnisse im Senat zugunsten des Expräsidenten verschoben. Aristide wäre damit nicht nur erster Anwärter auf die Präsidentschaft bei den Wahlen 1999, sondern könnte auch eine Person seines Vertrauens als neuen Premier durchsetzen.
Vom Pater zum Präsidenten
Schon während der dynastischen Diktatur des Duvalier-Clans waren in Haiti Volksorganisationen entstanden, die zivile Widerstandsformen gegen die Willkür der Tonton Macoutes entwickelten. Eine führende Rolle spielten Bauernorganisationen wie das Mouvement de Paysans de Papaye (MPP) und die Basiskirche, bekannt als Ti Ligliz (Kleine Kirche). Obwohl die befreiungstheologische Botschaft nicht nur vom Unterdrükkungsapparat der Diktatur, sondern auch vom Erzbischof François Wolff Ligonde bekämpft wurde, konnte sie sich ausbreiten und unter den ärmsten Schichten der Bevölkerung ein Minimum an politischem Bewußtsein wachrufen.
Dieser Bewegung entstammt auch Jean-Bertrand Aristide, ein Pater des sonst sehr konservativen Salesianerordens, der sich durch die Gründung eines Waisenhauses in den Slums von Port-au-Prince einen Namen machte und in seinen Predigten kein Blatt vor den Mund nahm. Während der Abfolge von Militärregimes und Marionettenregierungen nach der Flucht des “Präsidenten auf Lebenszeit” Jean-Claude Duvalier war Aristide einer der wenigen, der beharrlich seine Stimme erhob. Daß er mehreren Attentaten unverletzt entkommen konnte, trug wesentlich zu seinem Ruf als Prophet bei.
Im Dezember 1990 übernahmen die Vereinten Nationen die Organisation der Wahlen. Daher bestand erstmals die Wahrscheinlichkeit, daß das Ergebnis nicht manipuliert würde. Die Begeisterung darüber war so groß, daß die Volksorganisationen sich ernsthafte Chancen ausrechneten und mit dem populären Aristide einen Mann nominierten, der die Euphorie noch zu steigern verstand. Mit fast zwei Drittel der Stimmen schlug er nicht nur die Stohmänner der verschiedenen Diktatoren, sondern auch den Vertrauensmann Washingtons und der Weltbank, Marc Bazin, aus dem Feld.
Von seinen Reformvorhaben konnte er allerdings fast nichts verwirklichen. Denn nach weniger als sieben Monaten Amtszeit zwang ihn ein Militärputsch aus dem Land. Da das von der Völkergemeinschaft empfohlene Embargo von manchen Ländern systematisch unterlaufen wurde, konnten sich die Putschisten lange Zeit an der Macht halten. Nicht zuletzt, weil die CIA und die Falken der Republikaner im Kongreß Aristide für einen gefährlichen Kommunisten hielten und Gerüchte über seine geistige Zurechnungsfähigkeit streuten. Doch Aristide setzte vom Exil in Washington aus alle Hebel in Bewegung, um seine Wiedereinsetzung vorzubereiten. Während George Bush die Putschisten für das geringere Übel hielt und die CIA in Haiti rechtsextreme Killer bezahlte, um die Vermittlungsversuche der OAS zum Scheitern zu bringen, war Bill Clinton überzeugt, daß die Flut der verzweifelten Boat People nur durch die Wiedereinsetzung des rechtmäßigen Präsidenten gestoppt werden könne. So stellten sich die USA 1994 an die Spitze einer internationalen Interventionstruppe, die General Raoul Cédras und dessen Gefolgsleute aus dem Lande jagte. Aristide kehrte an Bord eines Hubschraubers der US-Navy in sein Land zurück.
Da ihm von seiner fünfjährigen Amtszeit weniger als 16 Monate übrig blieben, bemühte sich Aristide sehr bald, eine Plattform für die Verlängerung seines Mandats zu schaffen. Dabei stand ihm nicht nur die Verfassung im Wege, sondern auch die Vereinten Nationen, die bemüht waren, im besetzten Land eine gewisse Institutionalität zu schaffen. Widerwillig räumte er schließlich das Feld, obwohl keine Gefahr bestand, daß die alte Mulattenoligarchie oder die Überreste der Gangsterclique um das gestürzte Militärregime die Macht zurückerobern könnten.
Lavalas zerfällt
Doch das breite Bündnis, das Aristide 1990 an die Macht gebracht hatte, war längst zerfallen. Lavalas war wirklich nur, wie der Name sagt, eine Lawine, eine Flutwelle, die die politischen Verhältnisse auf den Kopf gestellt hatte. An den Aufbau einer eigenen Partei hatte der Präsident nicht gedacht. Mit Evans Paul, dem populären Bürgermeister von Port-au-Prince, hatte er sich überworfen. KONAKOM, ein Zusammenschluß von Volksorganisationen, ging wieder eigene Wege, und auch die Bauernorganisationen waren enttäuscht über das Ausbleiben der versprochenen Agrarreform.
Wie die traditionellen Caudillos Lateinamerikas hatte auch der Priester Aristide weniger mit Strukturen als mit Charisma gearbeitet. Alles hing von seiner Person ab. Eine Ansprache, ein Streikaufruf konnten die Massen in Bewegung setzen. Mit dieser Methode konnten sich die Intellektuellen und die an demokratische Willensbildung gewöhnten Kader der Volksorganisationen nie anfreunden. Diese Leute hatten während Aristides Exilzeit begonnen, die Fundamente für eine Partei zu legen, die “Politische Organisation Lavalas” (OPL), deren Namen ganz bewußt an die siegreiche Bewegung von 1990 anknüpft. Federführend waren der ehemalige Gewerkschaftsführer und Leiter eines renommierten Sozialforschungsinstitutes, Gerard Pierre-Charles, sowie Rony Smarth, ein Altlinker, der unter Salvador Allende im Agrarreforminstitut erste praktische Erfahrung mit den Mühen der Revolution gesammelt hatte.
Anders als Aristide sind sie durch linke Kaderschulungen gegangen und gewohnt, mit Strukturen zu arbeiten, zu organisieren und systematisch vorzugehen. Gleichzeitig sind sie durch die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte von allen Dogmen abgerückt. Aristide wurde zwar wegen seines politischen Engagements aus dem Salesianerorden ausgeschlossen, will aber seine Vergangenheit als katholischer Priester nicht verleugnen. Verantwortlich fühlt er sich nur dem lieben Gott – und nicht einer Partei oder Organisation, die ihn aufgestellt und aufgebaut hat. Kein Wunder, daß er sich lieber mit Geistlichen und sogar ehemaligen Militärs umgibt, die diese vertikalen, personenbezogenen Hierarchien verinnerlicht haben.
Präsident Préval war früher Maoist. Sein Verhältnis zu Aristide zählt zu den großen Geheimnissen Haitis. Zwar diente er seinem Freund bis zum Putsch 1991 als Premierminister und galt den USA damals als unberechenbarer Linker. Doch hat er Aristide deutlich verärgert, als er die Kandidatur für die von der OPL dominierte Koalition Bo Tab La akzeptierte, statt die Initiative zur Verlängerung der Amtszeit um die drei durch den Putsch verlorenen Jahre zu unterstützen. Daß sein Charisma gering ist, dürfte kein Nachteil sein. Selbst Washington hat sich mit dem neuen Präsidenten arrangiert. Denn von ihm ist nicht zu erwarten, daß er politische Kapriolen mit Hilfe öffentlicher Brandreden durchsetzt.
Auch Aristide hat zweifellos an Einfluß verloren. Die Massen, die ihm im Wahlkampf 1990 und bei seiner Rückkehr im Okober 1994 noch zujubelten, folgen ihm nicht mehr bedingungslos. Die geringe Wahlbeteiligung im vergangenen April und die Notwendigkeit, seine Kandidaten mit flagrantem Betrug durchzusetzen, beweisen es. Der ehemalige Priester ist zwar ein glänzender Redner geblieben, doch während seiner Restamtszeit wurde die Teuerung trotz Aufhebung des Embargos immer drükkender, und die Korruption verhinderte jede Reform. Daß er schließlich eine höhere Tochter aus den Exilzirkeln in New York geehelicht hat und eine eigene Straße zu seiner Villa vor der Stadt bauen ließ, während der Straßenbelag im überfüllten Stadtzentrum nur mehr aus Löchern besteht, hat viele Anhänger, vor allem unter den Armen, ernüchtert.
Boykott hinter den Kulissen
Die Befürchtung, Aristide würde nach dem Regierungswechsel hinter den Kulissen mitregieren, hat sich nur insofern erfüllt, als der Expräsident seinen Einfluß nützt, um die Regierungspolitik zu boykottieren. Obwohl die Regierung als OPL-Regierung verkauft wurde, gab es außer Premier Rony Smarth kein einziges Parteimitglied im Kabinett. Einige wechselten die Loyalitäten, andere waren immer schon Leute des Expräsidenten. So unterzeichneten der Finanzminister und der Zentralbankchef im Januar die Gründungserklärung von Aristides Wahlverein Lafanmi Lavalas. Auf der Straße sind es nicht mehr die großen Massen, die auf ein Wort Aristides zusammenströmen, sondern radikalisierte Minderheiten, die vor Gewalt nicht zurückscheuen. Die Ermordung einer Anzahl rechter Politiker und ehemaliger Schergen der Diktatur kann zwar nicht eindeutig auf Befehle des charismatischen Predigers zurückgeführt werden. Doch während seiner Amtszeit wurde nichts unternommen, um diese Verbrechen aufzuklären.
Für die Pragmatiker um Rony Smarth und Gerard Pierre-Charles führt an Massenentlassungen kein Weg vorbei, wenn die öffentliche Verwaltung nicht mehr als Pfründe für Günstlinge betrachtet wird, sondern funktionieren soll. Und die Privatisierung von Staatsbetrieben ist ein Mittel, flüssiges Kapital in die Wirtschaft zu pumpen und den Staat von defizitären Unternehmen zu befreien. Für Aristide handelt es sich um die Gretchenfrage: “Wie hältst du es mit dem Neoliberalismus?” Es sei ein Fehler, zu glauben, die Reichen würden die Probleme Haitis lösen, erklärte er kürzlich vor Studenten. Haiti dürfe nicht auf die Wirtschaftshilfe aus den Industriestaaten bauen, sondern müsse sich auf die bäuerliche Selbstversorgung rückbesinnen. Nur so könne das Land als souveränes Staatswesen den Jubiläumsfeiern von 200 Jahren Unabhängigkeit im Jahre 2004 entgegenblicken.
Ein Experte aus dem Team der Vereinten Nationen, der die Entwicklung seit dem Abgang der Militärs mit großer Ernüchterung beobachtet hat, ist da weniger optimistisch. Er fürchtet, daß die innenpolitischen Konflikte sich weiter zuspitzen und die von ausländischen Beratern ausgebildete neue Polizeitruppe früher oder später mit einem Putsch eingreifen könnte.
Fotos: Jens Holst