Haiti | Nummer 277/278 - Juli/August 1997

Machtkampf zwischen Weggefährten von einst

Reformversuche drohen im Morast der Korruption und Ineffizienz zu versinken

Der zweite Durchgang der Senats- und Kommunalwahlen in Haiti findet vorerst nicht statt. Die Entscheidung des Obersten Wahlrates, die ursprünglich für 15. Juni vorgesehene Stichwahl bis auf weiteres zu verschieben, folgte wenige Tage nach dem Rücktritt von Premier Rony Smarth. Dieser hatte nach der Weigerung des Wahl­rates, das höchst umstrittene Ergebnis des Urnengangs vom 6. April zu annullieren, am 9. Juni das Handtuch geworfen. Darauf nahm US-Botschafter William Swing Präsi­dent Rene Préval zwei Stunden ins Gebet: Wenn an der Fairneß der Wahlen Zweifel bestünden, könne Haiti nicht länger als demokratisch gelten. Die Konsequenz wäre das Einfrieren großer Teile der Wirtschaftshilfe.

Ralf Leonhard

Seit der Agronom Rony Smarth im März vergangenen Jahres überraschend zum Pre­mierminister ernannt worden war, hatte er sich für ein Struk­tur­anpassungspaket stark ge­macht, das eine Ausdünnung der auf­geblähten Bürokratie und die Pri­vatisierung der wenigen Staats­betriebe zum Kernstück hatte. Nicht nur die Auszahlung der rund zwei Milliarden US-Dollar Wirtschaftshilfe, die Haiti bis 1999 zugesagt worden sind, hängt davon ab. Ohne eine tief­greifende Reform droht Haiti überhaupt in dem von den Vor­gängerregimes ererbten Morast aus Korruption und Ineffizienz zu versinken. Zwar wurden we­der die Privatisierung noch der Kahlschlag in den Ministerien in der 15-monatigen Amtszeit Smarths tatsächlich verwirklicht, doch beherrschte die Debatte über diese Themen die Innenpo­litik vollkommen. Expräsident Aristide hatte nämlich seine An­hänger zum Widerstand gegen die “verräterische” Politik seines Nachfolgers aufgerufen. Mit Streiks, Demonstrationen, my­ste­ri­ösen Mordanschlägen ge­gen meh­rere Polizisten und ei­nem Miß­trauensvotum im Par­la­ment En­de März wurde die Re­gie­rung Smarth mürbe ge­macht.
Der Aufschub der Wahlen löst zwar nicht die seit Monaten schwelende Regierungskrise, ver­hindert aber einen Macht­wech­sel, den Rony Smarth als “Putsch durch Wahlen” bezeich­net hatte. Der erste Wahlgang am 6. April war von mehr als 90 Pro­zent der Wähler boykottiert worden. Das Ergebnis, dessen Ver­öffentlichung mehrere Wo­chen verzögert wurde, blieb du­bios. Denn in mehreren Wahlbe­zirken waren von den internatio­nalen Beobachtern massive Ma­nipulationen zugunsten der Kan­didaten von Lafanmi Lavalas aufgezeigt werden. In Cité Soleil, der Slum-Vorstadt von Port-au-Prince, einst eine Hoch­burg des Expräsidenten Jean-Bertrand Aristide, soll eine mehr als 60-prozentige Mehrheit des Regierungskandidaten einfach auf den Mann von Aristide über­schrieben worden sein. Der vom Wahlrat eingefädelte oder ge­deckte Betrug war so offensicht­lich, daß selbst die sonst sehr vorsichtige Organisation Ameri­kanischer Staaten (OAS) dem Ur­nengang ihren Persilschein ver­weigerte. Nachdem außer Aristides Lafanmi Lavalas alle Par­teien die Stichwahl boykottie­ren wollten, hätte diese unwei­gerlich die Mehrheitsverhältnisse im Senat zugunsten des Expräsi­denten verschoben. Aristide wäre damit nicht nur erster Anwärter auf die Präsidentschaft bei den Wahlen 1999, sondern könnte auch eine Person seines Vertrau­ens als neuen Premier durch­setzen.

Vom Pater zum Präsidenten

Schon während der dynasti­schen Diktatur des Duvalier-Clans waren in Haiti Volksorga­ni­sationen entstanden, die zivile Widerstandsformen gegen die Willkür der Tonton Macoutes entwickelten. Eine führende Rol­le spielten Bauernorganisa­tionen wie das Mouvement de Paysans de Papaye (MPP) und die Ba­siskirche, bekannt als Ti Ligliz (Kleine Kirche). Obwohl die befreiungstheologische Bot­schaft nicht nur vom Unterdrük­kungsapparat der Diktatur, son­dern auch vom Erzbischof Fran­çois Wolff Ligonde bekämpft wurde, konnte sie sich ausbreiten und unter den ärmsten Schichten der Bevölkerung ein Minimum an politischem Bewußtsein wachrufen.
Dieser Bewegung entstammt auch Jean-Bertrand Aristide, ein Pater des sonst sehr konservati­ven Salesianerordens, der sich durch die Gründung eines Wai­senhauses in den Slums von Port-au-Prince einen Namen mach­te und in seinen Predigten kein Blatt vor den Mund nahm. Während der Abfolge von Mili­tärregimes und Marionettenre­gie­rungen nach der Flucht des “Präsidenten auf Lebenszeit” Jean-Claude Duvalier war Ari­stide einer der wenigen, der be­harrlich seine Stimme erhob. Daß er mehreren Attentaten un­verletzt entkommen konnte, trug wesentlich zu seinem Ruf als Prophet bei.
Im Dezember 1990 übernah­men die Vereinten Nationen die Organisation der Wahlen. Daher bestand erstmals die Wahr­scheinlichkeit, daß das Ergebnis nicht manipuliert würde. Die Begeisterung darüber war so groß, daß die Volksorganisatio­nen sich ernsthafte Chancen aus­rechneten und mit dem populä­ren Aristide einen Mann nomi­nierten, der die Euphorie noch zu steigern verstand. Mit fast zwei Drittel der Stimmen schlug er nicht nur die Stohmänner der verschiedenen Diktatoren, son­dern auch den Vertrauensmann Washingtons und der Weltbank, Marc Bazin, aus dem Feld.
Von seinen Reformvorhaben konnte er allerdings fast nichts verwirklichen. Denn nach weni­ger als sieben Monaten Amtszeit zwang ihn ein Militärputsch aus dem Land. Da das von der Völ­ker­gemeinschaft empfohlene Em­bargo von manchen Ländern sy­stematisch unterlaufen wurde, konn­ten sich die Putschisten lange Zeit an der Macht halten. Nicht zuletzt, weil die CIA und die Falken der Re­publikaner im Kon­greß Aristide für einen ge­fährlichen Kommunisten hiel­ten und Gerüchte über seine geistige Zurechnungsfähigkeit streuten. Doch Aristide setzte vom Exil in Washington aus alle Hebel in Bewegung, um seine Wiederein­setzung vorzube­reiten. Während George Bush die Putschisten für das geringere Übel hielt und die CIA in Haiti rechtsextreme Kil­ler bezahlte, um die Vermitt­lungsversuche der OAS zum Scheitern zu bringen, war Bill Clinton überzeugt, daß die Flut der ver­zweifelten Boat People nur durch die Wiedereinsetzung des recht­mäßigen Präsidenten gestoppt werden könne. So stellten sich die USA 1994 an die Spitze einer internationalen In­terventionstruppe, die General Raoul Cédras und dessen Ge­folgsleute aus dem Lande jagte. Aristide kehrte an Bord eines Hubschraubers der US-Navy in sein Land zurück.
Da ihm von seiner fünfjähri­gen Amtszeit weniger als 16 Monate übrig blieben, bemühte sich Aristide sehr bald, eine Plattform für die Verlängerung seines Mandats zu schaffen. Da­bei stand ihm nicht nur die Ver­fassung im Wege, sondern auch die Vereinten Nationen, die be­müht waren, im besetzten Land eine gewisse Institutionalität zu schaffen. Widerwillig räumte er schließlich das Feld, obwohl keine Gefahr bestand, daß die alte Mulattenoligarchie oder die Überreste der Gangsterclique um das gestürzte Militärregime die Macht zurückerobern könnten.

Lavalas zerfällt

Doch das breite Bündnis, das Aristide 1990 an die Macht ge­bracht hatte, war längst zerfallen. Lavalas war wirklich nur, wie der Name sagt, eine Lawine, eine Flutwelle, die die politischen Verhältnisse auf den Kopf ge­stellt hatte. An den Aufbau einer eigenen Partei hatte der Präsi­dent nicht gedacht. Mit Evans Paul, dem populären Bürgermei­ster von Port-au-Prince, hatte er sich überworfen. KONAKOM, ein Zusammenschluß von Volksor­ganisationen, ging wie­der eigene Wege, und auch die Bauernorga­nisationen waren enttäuscht über das Ausbleiben der verspro­chenen Agrarreform.
Wie die traditionellen Cau­dillos Lateinamerikas hatte auch der Priester Aristide weniger mit Strukturen als mit Charisma ge­arbeitet. Alles hing von seiner Person ab. Eine Ansprache, ein Streikaufruf konnten die Massen in Bewegung setzen. Mit dieser Methode konnten sich die Intel­lektuellen und die an demokrati­sche Willensbildung gewöhnten Kader der Volksorganisationen nie anfreunden. Diese Leute hatten während Aristides Exilzeit begonnen, die Fundamente für eine Partei zu legen, die “Politische Organisation Lava­las” (OPL), deren Namen ganz bewußt an die siegreiche Bewe­gung von 1990 anknüpft. Feder­führend waren der ehemalige Gewerkschaftsführer und Leiter eines renommierten Sozialfor­schungsinstitutes, Gerard Pierre-Charles, sowie Rony Smarth, ein Altlinker, der unter Salvador Allende im Agrarreforminstitut erste praktische Erfahrung mit den Mühen der Revolution ge­sammelt hatte.
Anders als Aristide sind sie durch linke Kaderschulungen gegangen und gewohnt, mit Strukturen zu arbeiten, zu orga­nisieren und systematisch vorzu­gehen. Gleichzeitig sind sie durch die Erfahrungen der letz­ten Jahrzehnte von allen Dogmen abgerückt. Aristide wurde zwar wegen seines politischen Enga­gements aus dem Salesianeror­den ausgeschlossen, will aber seine Vergangenheit als katholi­scher Priester nicht verleugnen. Verantwortlich fühlt er sich nur dem lieben Gott – und nicht einer Partei oder Organisation, die ihn aufgestellt und aufgebaut hat. Kein Wunder, daß er sich lieber mit Geistlichen und sogar ehe­maligen Militärs umgibt, die diese vertikalen, personenbezo­genen Hierarchien verinnerlicht haben.
Präsident Préval war früher Maoist. Sein Verhältnis zu Ari­stide zählt zu den großen Ge­heimnissen Haitis. Zwar diente er seinem Freund bis zum Putsch 1991 als Premierminister und galt den USA damals als unbere­chenbarer Linker. Doch hat er Aristide deutlich verärgert, als er die Kandidatur für die von der OPL dominierte Koalition Bo Tab La akzeptierte, statt die Ini­tiative zur Verlängerung der Amtszeit um die drei durch den Putsch verlorenen Jahre zu un­terstützen. Daß sein Charisma gering ist, dürfte kein Nachteil sein. Selbst Washington hat sich mit dem neuen Präsidenten ar­rangiert. Denn von ihm ist nicht zu erwarten, daß er politische Kapriolen mit Hilfe öffentlicher Brandreden durchsetzt.
Auch Aristide hat zweifellos an Einfluß verloren. Die Massen, die ihm im Wahlkampf 1990 und bei seiner Rückkehr im Okober 1994 noch zujubelten, folgen ihm nicht mehr bedingungslos. Die geringe Wahlbeteiligung im vergangenen April und die Not­wendigkeit, seine Kandidaten mit flagrantem Betrug durch­zusetzen, beweisen es. Der ehe­malige Priester ist zwar ein glän­zender Redner geblieben, doch während seiner Restamtszeit wurde die Teuerung trotz Aufhe­bung des Embargos immer drük­kender, und die Korruption ver­hinderte jede Reform. Daß er schließlich eine höhere Tochter aus den Exilzirkeln in New York geehelicht hat und eine eigene Straße zu seiner Villa vor der Stadt bauen ließ, während der Straßenbelag im überfüllten Stadtzentrum nur mehr aus Lö­chern besteht, hat viele Anhän­ger, vor allem unter den Armen, ernüchtert.

Boykott hinter den Kulissen

Die Befürchtung, Aristide würde nach dem Regierungs­wechsel hinter den Kulissen mit­regieren, hat sich nur insofern er­füllt, als der Expräsident seinen Einfluß nützt, um die Regie­rungspolitik zu boykottieren. Obwohl die Regierung als OPL-Regierung verkauft wurde, gab es außer Premier Rony Smarth kein einziges Parteimitglied im Kabinett. Einige wechselten die Loyalitäten, andere waren immer schon Leute des Expräsidenten. So unterzeichneten der Finanz­minister und der Zentralbankchef im Januar die Gründungserklä­rung von Aristides Wahlverein Lafanmi Lavalas. Auf der Straße sind es nicht mehr die großen Massen, die auf ein Wort Aristi­des zusammenströmen, sondern radikalisierte Minder­heiten, die vor Gewalt nicht zu­rückscheuen. Die Ermordung ei­ner Anzahl rechter Politiker und ehemaliger Schergen der Dikta­tur kann zwar nicht eindeutig auf Befehle des charismatischen Predigers zu­rückgeführt werden. Doch wäh­rend seiner Amtszeit wurde nichts unternommen, um diese Verbrechen aufzuklären.
Für die Pragmatiker um Rony Smarth und Gerard Pierre-Char­les führt an Massenentlassungen kein Weg vorbei, wenn die öf­fentliche Verwaltung nicht mehr als Pfründe für Günstlinge be­trachtet wird, sondern funktio­nieren soll. Und die Privatisie­rung von Staatsbetrieben ist ein Mittel, flüssiges Kapital in die Wirtschaft zu pumpen und den Staat von defizitären Unterneh­men zu befreien. Für Aristide handelt es sich um die Gretchen­frage: “Wie hältst du es mit dem Neoliberalismus?” Es sei ein Fehler, zu glauben, die Reichen würden die Probleme Haitis lö­sen, erklärte er kürzlich vor Stu­denten. Haiti dürfe nicht auf die Wirtschaftshilfe aus den Indu­striestaaten bauen, sondern müsse sich auf die bäuerliche Selbstversorgung rückbesinnen. Nur so könne das Land als sou­veränes Staatswesen den Jubi­läumsfeiern von 200 Jahren Un­abhängigkeit im Jahre 2004 ent­gegenblicken.
Ein Experte aus dem Team der Vereinten Nationen, der die Entwicklung seit dem Abgang der Militärs mit großer Ernüchte­rung beobachtet hat, ist da weni­ger optimistisch. Er fürchtet, daß die innenpolitischen Konflikte sich weiter zuspitzen und die von ausländischen Beratern ausgebil­dete neue Polizeitruppe früher oder später mit einem Putsch eingreifen könnte.
Fotos: Jens Holst


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