Film | Nummer 249 - März 1995

Madagaskar statt Miami!

Kubanische Filme auf der Berlinale

Bettina Bremme

“Wenn ich etwas im Kopf habe, was ich nie ver­lieren werde, sind das meine Illu­sionen”, meint Juventino, Bankräuber im Ruhestand, in dem kuba­nischen Film “Quiéreme y verás”. Vor mehr als dreißig Jahren hatte er, dem Orakel einer Wahrsa­gerin folgend, versucht, in der Silvester­nacht eine Bank auszurauben. Tragi­scherweise wurden die Safeknacker nach sechsstündiger harter Ar­beit im Morgen­grauen vom Ausbruch der kubanischen Revolution überrumpelt. Aus der Traum vom schnel­len Geld. Nun sitzen die er­grauten Ex-Ganoven auf einer Parkbank in der Altstadt von Havanna und hängen den Zeiten nach, als sich Bankraub auf Kuba noch lohnte. Heute hat die Wanduhr in der Schal­terhalle, die ihnen damals die Schicksalsstunde schlug, längst die Zeiger verloren, fungiert die ehemalige Börse Havannas als Speisesaal für alte Leute, vor dem ver­witterten Bankportal blüht der Schwarzmarkt. Da fällt Juventino durch Zufall die Beute eines Straßenräubers in die Hände: ein Bündel mit dicken Geld­scheinen. Die Frau, der das Geld geklaut wurde, erinnert Juventino an seine ver­schollene Jugendliebe. So stellt das Schicksal ihn vor eine schwere Ent­schei­dung…
“Quiéreme y verás” – “Liebe mich und du wirst schon sehen” ist der Titel einer alten Schnulze und eines neuen Films von Daniel Díaz Torres. Dessen surreale Satire “Alice im Wunderland” wurde vor drei Jahren auf der Berlinale zum Publikums­erfolg und in seinem Heimatland Kuba zum politischen Skandal.
Sein neuestes Werk hat dagegen einen wesentlich milderen Unterton. Die Bilder sprechen allerdings für sich: Während die Außenaufnahmen die Alt­stadt von Ha­vanna zeigen, wie sie in einer Mischung aus morbider Schönheit und profaner Kleinkriminalität verfällt, sind die Rück­blenden aus der Zeit vor der Revolution von no­stalgischer, plüschiger Eleganz.
An der Wahrsagerin, die Juventino nach Jahrzehnten wieder aufsucht, um sie um Rat zu fragen, scheint der Zahn der Zeit kaum genagt zu haben: Sie war da­mals zwar diejenige, die als erste die re­volutionäre Flagge vom Balkon hängte. Ihr eigentliches Universum war und ist je­doch ihre von Räucherstäbchen umne­belte und mit Kitsch­figuren, Groschenromanen und Kristallkugeln voll­gestopfte Woh­nung – ein Mikrokosmos, der ein wenig an das Refugium von Diego erinnert, dem schwulen Bohemien aus Tomás Gu­tiérrez Aleas “Erdbeer und Schokolade”.

Der kubanische Regisseur Fernando Pérez entwirft in dem Film “Madagascar” ebenfalls das Bild eines Kubas zwischen realsozi­alistischer Tristesse und der Flucht ins Esoterisch-Abgedrehte. Laura, Phy­sikprofessorin und al­leinerziehende Mut­ter, beklagt sich beim Arzt, daß sie nur noch in der Lage ist, vom alltäglichen Le­ben zu träumen, welches sich eintönig da­hin­schleppt. Die KollegInnen an der Uni­versität scheinen von Lähmung und Apa­thie ergriffen zu sein, hängen Tag für Tag im Lesesaal der Uni­versität herum, lesen sich mit teilnahmsloser Mimik die neue­sten Zeitungs­meldungen vor oder putzen ihre Brillengläser, die “so halbblind sind wie dieses Land”. Manchmal packt die nach außen so diszipliniert agierende Laura die Lust, eine Bombe hochgehen zu lassen.
Währenddessen vertreibt sich Lauras greise Mutter den Lebensabend mit “Mo­nopoly”-Spielen. Ihre halb­wüchsige Toch­ter Laurita klettert mit Walkman auf den Ohren wie eine Schlafwandlerin aufs Dach, schwankt zwischen puber­tärer Schwer­mut, reli­gi­öser Abgehobenheit und dem Fernweh nach einem Ort namens Madagaskar.
Der “Magische Rea­lismus”, das selbst­ver­ständliche Gleiten zwi­schen schnöder Realität und alltäglichen Wundern, was jahrelang fast zum Klischee für das latein­amerikanische Kino wurde, hat sich in diesem Film verflüchtigt. Traum und Wirklichkeit sind schmerz­haft voneinan­der getrennt.
Die Sehnsucht nach “Ma­dagascar” wird zur eso­terischen Massenbewegung, die Realitätsflüchtlinge auf die Dächer treibt. – Tatsächlich nur auf die Dächer? “Ich kann jede Interpretation akzeptieren, mit einer Ausnahme: daß jemand bei­spiels­weise behauptet, Ma­dagaskar stünde für Miami, Laura verkörpere Kuba und Lau­rita die kommunistische Jugend,” wehrt sich Fernando Pérez gegen Beifall von der falschen Seite. “Ich will ein Gefühl zum Ausdruck bringen, das sich nicht in kon­krete Worte fassen läßt, in dem sich vie­lerlei vermischt: der Zweifel, die Desori­en­tierung, die Enttäuschung und vor allem ein Gefühl der Unbeweglich­keit.”
Pérez weiß, wovon er redet, denn auch Kubas FilmemacherInnen leiden in den Zeiten des “período especial” unter gravie­renden Hemmnissen. Sowohl “Quiéreme y verás” als auch “Madagascar” sind nur ungefähr 50 Minuten lang – für mehr reichten die finanziellen Mittel nicht. Trotz verstärkter Bestre­bungen des staatli­chen Filminstitutes ICAIC, sich durch Serviceleistungen für und Koproduktionen mit dem Ausland neue Ein­nahmequellen zu verschaf­fen, ist die Situation un­verän­dert desolat: Die Dokumentarfilmproduk­tion wurde weitgehend einge­stellt, und statt wie frü­her acht werden jetzt höchstens drei Spielfilme pro Jahr reali­siert.
Hinzu kommen Probleme mit der staat­lichen Zen­sur, unter der ja gerade “Alice im Wunderland”, Daniel Díaz Torres’ letz­ter Film, zu leiden hatte. Was die jet­zige Ar­beitssituation angeht, be­tonte der Regisseur auf der Berlinale: “Die Pro­bleme liegen nicht in­nerhalb, sondern außerhalb des ICAIC. Was Zensur an­geht, hängt dies auch mit der individuellen Ri­si­kobereitschaft des Regis­seurs zusam­men. Es kann Po­lemik bis hin zur Zen­sur geben. Die gravie­rendsten Probleme sind al­lerdings im Moment ökonomischer Art.”
Angesichts der Knappheit der Mittel entwickelten Fernando Pérez, Daniel Díaz Torres und Rolando Díaz die Idee, einen dreiteiligen Episoden­streifen zu drehen. Ge­meinsames Thema: das Kuba von heute im Spiegel kleiner, metaphernreicher Ge­schichten. “Wir woll­ten”, so Fernando Pérez. “keine Chronik der lau­fenden Er­eignisse, der Stromsperren, der Schlan­gen vor den Geschäften, der nicht funktionie­ren­den Omnibusse schaffen.” Bei dem Kurzfilm von Ro­lando Díaz, der noch nicht abgedreht ist, soll es sich laut Fer­nando Pérez um eine “furiose Komödie” namens “Melodrama” han­deln, “deren Hauptfigur eine Fernsehansagerin ist, die den Wetterbericht vorliest”. Entsprechend soll auch das Gesamtwerk den vieldeuti­gen Titel “Wettervorhersage” tragen.
Wettervorhersagen und Kartenlesen sind risi­koreiche Methoden der Zu­kunfts­deutung: “Wenn der Hahn kräht auf dem Mist…” Bei “Quiéreme y verás” schaut die Wahr­sagerin tief in die Kri­stallkugel und prophezeit dem Bankräuber: “Ich sehe Frustration und Rettung. Aber Letzeres kommt erst langfristig. Wie lange, hängt von dir ab.” – Womit wir doch wieder beim Menschen als historischem Subjekt wären.

“Madagascar”
Kuba, 1994, 50 Minuten
Regie: Fernando Pérez
“Quiéreme y veras”
Kuba, 1995, 47 Min.
Regie: Daniel Díaz Torres

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