Madagaskar statt Miami!
Kubanische Filme auf der Berlinale
“Wenn ich etwas im Kopf habe, was ich nie verlieren werde, sind das meine Illusionen”, meint Juventino, Bankräuber im Ruhestand, in dem kubanischen Film “Quiéreme y verás”. Vor mehr als dreißig Jahren hatte er, dem Orakel einer Wahrsagerin folgend, versucht, in der Silvesternacht eine Bank auszurauben. Tragischerweise wurden die Safeknacker nach sechsstündiger harter Arbeit im Morgengrauen vom Ausbruch der kubanischen Revolution überrumpelt. Aus der Traum vom schnellen Geld. Nun sitzen die ergrauten Ex-Ganoven auf einer Parkbank in der Altstadt von Havanna und hängen den Zeiten nach, als sich Bankraub auf Kuba noch lohnte. Heute hat die Wanduhr in der Schalterhalle, die ihnen damals die Schicksalsstunde schlug, längst die Zeiger verloren, fungiert die ehemalige Börse Havannas als Speisesaal für alte Leute, vor dem verwitterten Bankportal blüht der Schwarzmarkt. Da fällt Juventino durch Zufall die Beute eines Straßenräubers in die Hände: ein Bündel mit dicken Geldscheinen. Die Frau, der das Geld geklaut wurde, erinnert Juventino an seine verschollene Jugendliebe. So stellt das Schicksal ihn vor eine schwere Entscheidung…
“Quiéreme y verás” – “Liebe mich und du wirst schon sehen” ist der Titel einer alten Schnulze und eines neuen Films von Daniel Díaz Torres. Dessen surreale Satire “Alice im Wunderland” wurde vor drei Jahren auf der Berlinale zum Publikumserfolg und in seinem Heimatland Kuba zum politischen Skandal.
Sein neuestes Werk hat dagegen einen wesentlich milderen Unterton. Die Bilder sprechen allerdings für sich: Während die Außenaufnahmen die Altstadt von Havanna zeigen, wie sie in einer Mischung aus morbider Schönheit und profaner Kleinkriminalität verfällt, sind die Rückblenden aus der Zeit vor der Revolution von nostalgischer, plüschiger Eleganz.
An der Wahrsagerin, die Juventino nach Jahrzehnten wieder aufsucht, um sie um Rat zu fragen, scheint der Zahn der Zeit kaum genagt zu haben: Sie war damals zwar diejenige, die als erste die revolutionäre Flagge vom Balkon hängte. Ihr eigentliches Universum war und ist jedoch ihre von Räucherstäbchen umnebelte und mit Kitschfiguren, Groschenromanen und Kristallkugeln vollgestopfte Wohnung – ein Mikrokosmos, der ein wenig an das Refugium von Diego erinnert, dem schwulen Bohemien aus Tomás Gutiérrez Aleas “Erdbeer und Schokolade”.
Der kubanische Regisseur Fernando Pérez entwirft in dem Film “Madagascar” ebenfalls das Bild eines Kubas zwischen realsozialistischer Tristesse und der Flucht ins Esoterisch-Abgedrehte. Laura, Physikprofessorin und alleinerziehende Mutter, beklagt sich beim Arzt, daß sie nur noch in der Lage ist, vom alltäglichen Leben zu träumen, welches sich eintönig dahinschleppt. Die KollegInnen an der Universität scheinen von Lähmung und Apathie ergriffen zu sein, hängen Tag für Tag im Lesesaal der Universität herum, lesen sich mit teilnahmsloser Mimik die neuesten Zeitungsmeldungen vor oder putzen ihre Brillengläser, die “so halbblind sind wie dieses Land”. Manchmal packt die nach außen so diszipliniert agierende Laura die Lust, eine Bombe hochgehen zu lassen.
Währenddessen vertreibt sich Lauras greise Mutter den Lebensabend mit “Monopoly”-Spielen. Ihre halbwüchsige Tochter Laurita klettert mit Walkman auf den Ohren wie eine Schlafwandlerin aufs Dach, schwankt zwischen pubertärer Schwermut, religiöser Abgehobenheit und dem Fernweh nach einem Ort namens Madagaskar.
Der “Magische Realismus”, das selbstverständliche Gleiten zwischen schnöder Realität und alltäglichen Wundern, was jahrelang fast zum Klischee für das lateinamerikanische Kino wurde, hat sich in diesem Film verflüchtigt. Traum und Wirklichkeit sind schmerzhaft voneinander getrennt.
Die Sehnsucht nach “Madagascar” wird zur esoterischen Massenbewegung, die Realitätsflüchtlinge auf die Dächer treibt. – Tatsächlich nur auf die Dächer? “Ich kann jede Interpretation akzeptieren, mit einer Ausnahme: daß jemand beispielsweise behauptet, Madagaskar stünde für Miami, Laura verkörpere Kuba und Laurita die kommunistische Jugend,” wehrt sich Fernando Pérez gegen Beifall von der falschen Seite. “Ich will ein Gefühl zum Ausdruck bringen, das sich nicht in konkrete Worte fassen läßt, in dem sich vielerlei vermischt: der Zweifel, die Desorientierung, die Enttäuschung und vor allem ein Gefühl der Unbeweglichkeit.”
Pérez weiß, wovon er redet, denn auch Kubas FilmemacherInnen leiden in den Zeiten des “período especial” unter gravierenden Hemmnissen. Sowohl “Quiéreme y verás” als auch “Madagascar” sind nur ungefähr 50 Minuten lang – für mehr reichten die finanziellen Mittel nicht. Trotz verstärkter Bestrebungen des staatlichen Filminstitutes ICAIC, sich durch Serviceleistungen für und Koproduktionen mit dem Ausland neue Einnahmequellen zu verschaffen, ist die Situation unverändert desolat: Die Dokumentarfilmproduktion wurde weitgehend eingestellt, und statt wie früher acht werden jetzt höchstens drei Spielfilme pro Jahr realisiert.
Hinzu kommen Probleme mit der staatlichen Zensur, unter der ja gerade “Alice im Wunderland”, Daniel Díaz Torres’ letzter Film, zu leiden hatte. Was die jetzige Arbeitssituation angeht, betonte der Regisseur auf der Berlinale: “Die Probleme liegen nicht innerhalb, sondern außerhalb des ICAIC. Was Zensur angeht, hängt dies auch mit der individuellen Risikobereitschaft des Regisseurs zusammen. Es kann Polemik bis hin zur Zensur geben. Die gravierendsten Probleme sind allerdings im Moment ökonomischer Art.”
Angesichts der Knappheit der Mittel entwickelten Fernando Pérez, Daniel Díaz Torres und Rolando Díaz die Idee, einen dreiteiligen Episodenstreifen zu drehen. Gemeinsames Thema: das Kuba von heute im Spiegel kleiner, metaphernreicher Geschichten. “Wir wollten”, so Fernando Pérez. “keine Chronik der laufenden Ereignisse, der Stromsperren, der Schlangen vor den Geschäften, der nicht funktionierenden Omnibusse schaffen.” Bei dem Kurzfilm von Rolando Díaz, der noch nicht abgedreht ist, soll es sich laut Fernando Pérez um eine “furiose Komödie” namens “Melodrama” handeln, “deren Hauptfigur eine Fernsehansagerin ist, die den Wetterbericht vorliest”. Entsprechend soll auch das Gesamtwerk den vieldeutigen Titel “Wettervorhersage” tragen.
Wettervorhersagen und Kartenlesen sind risikoreiche Methoden der Zukunftsdeutung: “Wenn der Hahn kräht auf dem Mist…” Bei “Quiéreme y verás” schaut die Wahrsagerin tief in die Kristallkugel und prophezeit dem Bankräuber: “Ich sehe Frustration und Rettung. Aber Letzeres kommt erst langfristig. Wie lange, hängt von dir ab.” – Womit wir doch wieder beim Menschen als historischem Subjekt wären.
“Madagascar”
Kuba, 1994, 50 Minuten
Regie: Fernando Pérez
“Quiéreme y veras”
Kuba, 1995, 47 Min.
Regie: Daniel Díaz Torres