Literatur | Nummer 245 - November 1994

Mehr als eine Liebesgeschichte

Der neue Roman von Gabriel García Márquez

Robert Dettmering

“Von der Liebe und anderen Dämonen”, so der Titel des neuesten Romans vom kolumbianischen Vorzeigeschriftsteller. In seiner unverwechselbar bildreichen Spra­che, in der Lebensfreude und Schwermut untrennbar miteinander verwoben sind, erzählt García Márquez die Geschichte der zwölfjährigen Sierva María de Todos los Angeles, die im Haus ihrer Eltern, dem Marqués de Casalduero und dessen Frau Bernarda Cabrera als eine Fremde heran­wächst.
Von ihrem Vater vernachlässigt, von ihrer Mutter gehaßt, wächst sie unter den Skla­ven des Hauses auf, deren Sprache und Religion sie verinnerlicht.
Das Unglück beginnt, als Sierva María an ihrem zwölften Geburtstag von einem tollwütigen Hund gebissen wird. Ihr Va­ter, der daraufhin seine Zuneigung zu ihr entdeckt, unterwirft sie in panischer Angst, seine Tochter könne erkranken, den qualvollen Behandlungen sämtlicher Wunderheiler und Quacksalber von Car­tagena.
Als Sierva María sich verzweifelt wehrt, beginnt sich plötzlich der Bischof der Diözese für sie zu interessieren: hinter dem kratzbürstigen Widerstand des Kin­des glaubt er, das Wirken Satans zu erken­nen. Deshalb drängt er den Marqués, seine Tochter zur Beobachtung in das nahegele­gene Kloster der Klarissinnen zu geben, was dieser schweren Herzens auch tut.
Das Verhängnis nimmt seinen Lauf, als der mit den Exorzismen betraute Pater Cayetano Delaura sich in das Kind ver­liebt, woraufhin er in eine schwere Glau­benskrise stürzt.
In dieser “zauberhaften Geschichte über irdische, himmlische und geistige Leiden­schaften”, so der Klappentext, ist García Márquez, nach seinem etwas schwerfälli­gen Roman über den lateinamerikanischen Befreier Simon Bolívar, nun wieder zu dem zurückgekehrt, worauf er sich am be­sten versteht: phantastische Bilder, wie aus einem vergangenen Traum, werden zu lateinamerikanischen Realitäten verdich­tet. So ist es vielleicht kein Zufall, daß auch der Ort der Handlung derselbe ist wie in García Márquez’ großem Erfolgs­roman “Die Liebe in den Zeiten der Cho­lera”.
Der Roman ist freilich mehr, als nur die Geschichte einer unmöglichen Liebe. An­hand dieser und um sie herum zeichnet Márquez ein Bild der eigentlichen und ungleich verheerenderen Dämonen, die Lateinamerika seit dessen gewaltsamer Christianisierung vor fünfhundert Jahren heimsuchen.
Aberglaube, Unterwürfigkeit, innerkirch­liche Machtkämpfe und eine entartete Re­ligiosität zur Zeit der spanischen Inquisi­tion erheben allüberall ihr Haupt und es ist förmlich zu spüren, wie sich die Hoff­nungslosigkeit gleich einem dieser “apo­kalyptischen Tropenstürme” unauf­haltsam heranschiebt.
Mit journalistischem Scharfsinn fängt García Márquez Stimmungen ein und hält das Tempo in seinem Roman, der nie schleppend wirkt. Und das paßt dann auch zu den Worten, die er seiner Geschichte vorausschickt und in denen er den wahren Ursprung seines Berichtes be­hauptet. Er gebe doch nur eine Legende wieder, die in den Dörfern der kolumbia­nischen Karibik seit Jahrhunderten exi­stiere.
Andererseits wirkt die Erzählung biswei­len übereilt, ja sogar gehetzt, als ob der Autor sich selbst vor den Dämonen, die er beschwört, nicht sicher fühle und sich zum Ende des Romans hinflüchte.
So bleibt beim Leser der Eindruck, eben erst den Entwurf eines großen und le­senswerten Romans kennengelernt zu ha­ben.

Gabriel Garcia Marquez, Von der Liebe und anderen Dämonen, Kiepenheuer & Witsch, 224 S. 38 DM, ISBN 34620236-08

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