Brasilien | Nummer 535 - Januar 2019 | Theater

„MEINE SCHEISSE IST SCHWARZ“

über den Widerstand Brasiliens junger Kunstszene

Bolsonaros Wahl zum Präsidenten hat den seit Jahren zu beobachtenden Zulauf zu erzkonservativen Bewegungen in Brasilien nur bestätigt. So sehr sich die freie Kunstszene in der extrem angespannten politischen Situation in Bedrängnis befindet, ihre Kulturproduktionen werden als Mittel der kritischen Reflexion immer wichtiger. Eine Reportage aus São Paulo und Rio de Janeiro.

Von Rita Gravert
Kämpft um seine Existenz und gegen polizeiliche Repression Jongleur und Zirkustrainer „Tschatcho“ (Foto: Sabrina Mesquita)

Parque São Bernardo in São Paulo, Ende November 2018. Die Bühne scheint leer und dunkel in der Abenddämmerung, aber aus einer Ecke ertönt melancholischer Gesang: „Veja você, arco-íris já mudou de cor…“ (dt.: „Schau, der Regenbogen hat schon seine Farben gewechselt…“) Unter Kichern brechen die Verse aus dem bekannten Lied von Vital Farias ab und eine wüste Gestalt mit dunkler Perücke, schwarzem Frontzahn, zerrissenen Strümpfen und voluminösem Ballonkleid stakst mit weit ausholenden Schritten in den aufleuchtenden Scheinwerferkegel. Unter ihren Arm hat sie sich einen großen Müllsack geklemmt: Eine Person aus dem Publikum soll auf die Bühne kommen und den Müllsack aufhalten, damit sie hineinsteigen kann. Unter dramatischer Musik und viel Geraschel kommt es innerhalb von Sekunden zum wundersamen Kleiderwechsel. Die Clownin Mafé Vieira bezeichnet diesen Trick ihrer Bühnenfigur als „Quick Change der Marginalisierten“. Entstanden ist die Figur MenDiva aus ihrer Bekanntschaft mit der Obdachlosen Isabel, die sie Tag für Tag vor einem Restaurant in der Nachbarschaft antraf. Mafé ist fasziniert von ihren surrealen Geschichten, ihrer Großmäuligkeit und Schlagfertigkeit: „Isabel zeigte mir die eigenwillige Realität, in der sie lebte, und stellte die Straße als die bestmögliche Wahl ihres Lebens dar. Ihre Geschichten waren mal traurig, mal leicht, sie reichten vom Missbrauch durch einen Klempner, der ihr Waschbecken reparierte, bis zu ihrer abenteuerlichen Suche nach einer Leine für ihr Kuscheltier“, berichtet Mafé.

Isabels provokanter Umgang mit den Widrigkeiten eines Lebens in der Öffentlichkeit der Straße, wie ihn etwa die selbstbewusste Verrichtung der Körperhygiene darstellt, inspirierte die Künstlerin, den weiblichen Körper als widerständige Praxis auf die Bühne zu bringen: MenDiva dient Mafé als Anti-Heldin, die das Bild der Frau in der brasilianischen Gesellschaft hinterfragt.

Nach dem Kleiderwechsel unterm Müllsack umarmt sie ihre Helferin – und stutzt: Was ist das für ein seltsamer Geruch? Schnuppernd kommt ihr die Erleuchtung. Aus ihrer übergroßen Unterhose fischt sie einen Lippenstift. „Menstruationsblut! Jetzt bin ich fast fertig für euch.“ MenDiva bemalt sich ihre Lippen, bis das Rot beinahe das gesamte Kinn bedeckt.

Die Kunst scheint ihren eigenen Verfall und ihren sinkenden Stellenwert zu verhandeln

Die Anerkennung und Sichtbarmachung des weiblichen Körpers abseits des dominanten Schönheitsideals, wie Mafé sie inszeniert, trifft in Brasilien jedoch nicht nur auf Zustimmung. Spätestens seit dem Amtsenthebungsverfahren gegen die damalige Präsidentin Dilma Rousseff am 16. April 2016 befindet sich das Land in einem deutlichen Rechtsruck. Vor allem die Kulturszene wurde in den vergangenen Jahren und Monaten von rechtspopulistischen Kampagnen heimgesucht, die für erzkonservative und fundamental christliche Moralvorstellungen werben und feministische und queere Ausdrucksformen als pervers, blasphemisch und pädophil an den Pranger stellen. Der rasante Zulauf zu derlei Bewegungen und die polemische Rückbesinnung auf die hetero-normative, patriarchale brasilianische Familie beförderte nicht zuletzt den Rechtspopulisten Jair Bolsonaro an die Macht, der mit seinen rassistischen, homophoben und frauenfeindlichen Ansichten das Land spaltet. 2014 hatte der Ex-Militär und heutige Präsident die Politikerin Maria do Rosário mit der Bemerkung attackiert, dass er sie nur nicht vergewaltige, „weil sie es nicht wert ist“. Zuvor hatte die Abgeordnete die brasilianische Militärdiktatur in einer Rede vor dem Parlament als „absolute Schande“ bezeichnet. Clownin und Feministin Mafé erklärt, dass ihre Bühnen­­-shows in einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung diesen Mann wähle, unweigerlich politisch seien. Dennoch warnt sie davor, Bolsonaro als übermächtiger Teufelsfigur zu viel Macht zuzugestehen. Dies sei nur eine Umkehrung des selbsternannten Messias, der seinen Wahlkampf insbesondere mit der Unterstützung evangelikaler Prediger führte.

Trotz der zunehmenden Anfeindungen suchen Mafé und viele andere Straßenkünstler*innen einen Dialog mit den Menschen im öffentlichen Raum, der den Gut-Böse-Diskurs der fundamentalen Glaubensrichtungen aufbricht. Der Straßenzirkus ist für die Künstlerin ein emotionaler und unmittelbarer Gegenort; sie sieht ihre Aufgabe als Clownin in der Herstellung von Situationen, die kollektive Empathie und spontane Freude hervorrufen. Mafé verhandelt auch ihre eigene streng religiöse Erziehung. In einer Nummer tritt MenDiva mit der Plastikschlange „Eva“ auf die Bühne und emanzipiert sich mit den Mitteln der Komik von der biblischen Frauengestalt. Auch wenn die Clownin schon mit öffentlichen Interventionen unter dem Hashtag #TemerJamais („Niemals Temer“ bzw. „niemals fürchten“: Ein Wortspiel mit dem Namen des ehemaligen Präsidenten Temer und dem portugiesischen Verb temer = „fürchten“) gegen den Nachfolger Dilma Rousseffs protestierte, möchte sie auf der Bühne nicht pamphletisch Politik kommentieren. „Meine Arbeit ist politisch, weil sie aus dem Bewusstsein heraus entsteht, dass ich in einer patriarchalen, misogynen und religiösen Gesellschaft lebe. Als ich zum ersten Mal die Lippenstiftszene auf der Bühne spielte und Teile des Publikums verschämt – und viele Frauen in Identifikation – lachten, hat das etwas in mir losgetreten. Ich verließ die Bühne und weinte lange. Ich bin stolz auf meinen weiblichen Zyklus und bin stolz darauf zu bluten.“

Die Wahl der Straße als Bühne entsteht auch aus der Not heraus. Denn die öffentliche Kulturförderung und damit auch die Finanzierung von Veranstaltungs- und Aufführungsorten nimmt in Brasilien bereits seit Jahren stetig ab. Auch wenn das von Michel Temer im Mai 2016 aufgelöste Kulturministerium nach heftigen Protesten und Besetzungen wieder eingeführt wurde, liegt der Sektor brach. Trauriges Symbol dieser Entwicklung wurde jüngst das Nationalmuseum in São Paulo, das am 2. September 2018 samt einem Großteil seiner unersetzlichen historischen Schätze abbrannte. Zum Brand trug auch die jahrelange Vernachlässigung des Hauses bei, das nach Kürzungen des Etats um 90 Prozent zuletzt versucht hatte, die wichtigsten Ausstellungsräume durch eine Crowdfunding-Kampagne instand zu halten.
Auch die renommierte Theaterszene sieht sich vom Verfall bedroht. Das Theaterstück Procópio, das im November 2018 im Teatro Serrador in Rio de Janeiro aufgeführt wurde, finanzierte seine Wiederkehr auf den Spielplan nach der erfolgreichen Uraufführung im Veranstaltungsort SESC Copacabana im Wesentlichen aus den privaten Mitteln der beiden Schauspieler Kadu Garcia und Paulo Giannini, die nebenbei als Professoren für Schauspiel arbeiten. Die Handlung findet in einer Dystopie statt, in der jedweder künstlerischer Ausdruck per Dekret verboten ist und Künstler*innen mit Kopfgeldern gejagt werden. Im verlassenen Gebäude eines ehemaligen Theaters entsteht zwischen zwei Obdachlosen eine verbotene szenische Wiederbelebung verschütteter Erinnerungen und das Schauspiel wird zum Trost in einer unheimlichen Zeit der kulturellen Dürre. Die Kunst scheint ihren eigenen Verfall und ihren sinkenden Stellenwert zu verhandeln, der sich nicht nur in der mangelnden Förderung äußert.

Humor mit politischen Themen Das Künstler*innenkollektiv Confraria do Impossível (Foto: Rizza Habita)

So zwang eine Hetzkampagne von Seiten der fundamental-christlichen Bewegung MBL zuletzt den offen provokanten Performance-Künstler Wagner Schwartz zur Ausreise. Im September 2017 wurde die Ausstellung Queermuseu im Centro Cultural Santander in Porto Alegre aufgrund heftiger Proteste in digitalen Netzwerken und vor Ort durch die religiös-fundamentalistischen Bewegungen MBL und Templários da Pátria nach nur zwei Tagen geschlossen. Der Versuch einer Verlegung der Ausstellung in das tolerantere Rio de Janeiro schlug zunächst fehl, da die Anfragen der Kurator*innen bei öffentlichen Kulturinstitutionen wie dem Museo de Arte do Brasil (MAR) abgelehnt wurden. Erst nach einer der größten Crowdfunding-Kampagnen der brasilianischen Geschichte kam es im August 2018 zur Wiedereröffnung der Ausstellung im Parque Lage. In der Kunstszene spricht man bereits von einer Selbstzensur, da die Kulturinstitutionen nach derartigen Vorfällen bei der Auswahl ihrer Ausstellungen wesentlich eingehender deren vermeintliche moralische Integrität beleuchten.
In dieser politisch aufgeheizten Stimmung fühlen sich afrobrasilianische und LGBT-Künstler*innen besonders marginalisiert und diskriminiert. Nach der Ermordung der afrobrasilianischen Abgeordneten Marielle Franco im Mai 2018 interpretieren viele ihre Arbeit zunehmend sozialpolitisch. Dani Câmara ist Teil des Künstlerkollektivs Confraria do Impossível, das am 20. November 2018 anlässlich des Nationalfeiertags „Tag des Schwarzen Bewusstseins“ im Parque Lage in Rio de Janeiro eine Performancereihe im Stile eines humoristischen Radiobeitrags vorführt. Das Programm A Voz da Senzala (senzalas waren Sklavenunterkünfte; Anm. d. A.) beginnt mit einem Flashmob aller Künstler*innen auf der Bühne, die in regelmäßigen Abständen durch Schusslaute zu Boden gehen. Es folgt eine humoristische Geschichtsstunde, die die Geschichtsschreibung der vermeintlichen Entdeckung Brasiliens revidiert und in eine Erzählung der Kolonialisierung und Verschleppung indigener und afrikanischer Menschen umformuliert.

Eine sensitive Reise durch ihre inneren Verdauungsprozesse

In Einzelbeiträgen der Genres Funk, Poesie, Gesang und Comedy thematisieren insbesondere die Schauspielerinnen Alltagsrassismus und strukturelle Gewalt. In der Performance Fievre („Fieber“) durchlebt Dani einen Zustand der ständigen körperlichen Alarmbereitschaft. Gleich darauf verwandelt Lívia Prado die Marginalisierung afrobrasilianischer Menschen und ihre Kunst in Slampoetry: Provokant führt sie das Publikum auf eine sensitive Reise durch ihre inneren Verdauungsprozesse und verfasst eine kämpferische Neubesetzung der „Exkremente“ der brasilianischen Gesellschaft: „Meine Scheiße ist schwarz / Wertvoll wie ein Kristall / Sie reinigt meine existenzielle / Krise.“ Rassistische Bezeichnungen werden selbstbewusst und zynisch der eigenen Sprache einverleibt und dienen einer widerständigen Honorierung afrobrasilianischer Kulturproduktion. „Meine Poesie der Scheiße entspringt einem Prozess, der sich bei mir im ganzen Körper äußerte. Durch meine Recherchen wurde ich von der einstigen ‚kleinen Schwarzen‘ in einer weißen Großfamilie bewusst zur Schwarzen, ich habe ein kämpferisches Bewusstsein als Afrobrasilianerin entwickelt“, so die Künstlerin.

Nicht zuletzt die Zirkusszene fürchtet mit Bolsonaro eine Rücknahme erkämpfter Rechte wie die jüngst durchgesetzte Legalisierung von künstlerischen Darbietungen in der U-Bahn. Der Jongleur und Zirkustrainer Emerson Noise, genannt „Tchatcho“, erzählt, dass die Militarisierung unter der rechtsextremen Regierung und die verstärkte Polizeipräsenz die Arbeit auf der Straße immer weiter einschränke: „Clowns werden misstrauisch als Vagabunden betrachtet, die es sich leicht machen und deren Arbeit keine „richtige“ Arbeit ist.“ Als Kind einer armen Familie war der Zirkus für ihn eine neue Welt, zu der er durch hartes Training und die gegenseitige Ausbildung in der Szene Zugang bekam, ohne eine Schule oder Universität bezahlen zu müssen. Die erste staatliche Förderung zur Entwicklung eines Stücks mit Dramaturgie und Figurenkonzeption erhielt er 2016 nach zwölf Jahren auf der Bühne. Auf dem Weg zu einem Zirkusfestival in Kolumbien erlitt er kurz darauf einen schweren Busunfall und kämpft seitdem nicht nur mit Schmerzen, sondern auch um seine Existenz. Emerson hat keinen Zugang zu einer Krankenversicherung, da sein Künstlerstatus nicht anerkannt wird. An sozialer Absicherung im Falle eines Verdienstausfalls mangelt es in Brasilien ohnehin. Überlebt hat Emerson durch Spendenauftritte und die Fürsorge der internationalen Zirkusfamilie.

Die schwere Knieverletzung wurde produktiver Teil seiner Kunst. Bereits wenige Wochen nach der ersten Operation spielte er mit einem ebenfalls verletzten Freund in einem Bett auf der Bühne. Heute kann er sein Knie nach zwei Operationen erstmals wieder beugen und verarbeitet die Geschichte kreativ in seiner Jonglage. Er sieht einer Zukunft unter Bolsonaro düster entgegen und hat eine Arbeit in Mexiko angenommen. „Wir Zirkusleute waren immer schon die Untersten der Unteren, aber jetzt werden sie uns einen Stein auf den Kopf legen. Für sie ist Kultur nicht die Kultur der Minderheiten und Marginalisierten, sondern das, was im Fernsehen passiert. Wir sitzen auf einer Bombe. Ich möchte gehen. Aber ich möchte gehen, weil ich dazulernen möchte. Ich möchte vorankommen und später wiederkehren. Ich habe keine Angst vor einer Diktatur.“

 

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