Millionen für den Bío Bío
Das Volk der Pehuenche ist vom Untergang bedroht
Die Bagger schaufeln schon eifrig, Techniker laufen geschäftig umher und Männer in feinen Anzügen geben Anweisungen. An einem zweiten einer Reihe geplanter Megastaudämme am Bío Bío wird gebaut. Der Staudamm Ralco soll helfen, der steigenden Nachfrage nach Elektrizität gerecht zu werden. Rund 500 Millionen US-Dollar soll er kosten.
Die wirklichen Kosten dieses Projekts im Namen der Entwicklung sind jedoch in Zahlen nicht auszudrücken. Denn das Tal des Bío Bío und seiner hinauf in die Andenkordillere führenden Terrassen ist, 550 km südlich der Hauptstadt Santiago, der traditionelle Lebensraum der zum Volk der Mapuche gehörenden Pehuenche, die sich seit Jahrhunderten auf außergewöhnliche Weise an die schwierigen natürlichen Verhältnisse der Region angepasst haben. Die Überflutung von 3400 Hektar Land am Oberlauf des Bío Bío würde ein einzigartiges Ökosystem zerstören und die Vertreibung von insgesamt sechshundert Menschen bedeuten, darunter vierhundert Pehuenche, die damit nicht nur ihre natürliche Lebensgrundlage, sondern auch ihre kulturelle und religiöse Basis auf unwiderrufliche Weise verlieren würden.Für die Planung, Durchführung und das Geschäft des Staudammbaus sind die private Firma Endesa (Empresa Nacional de Electricidad, S. A.), Spanien bzw. die chilenische Tochterfirma Enersis verantwortlich. Der transnationale Energiekonzern besitzt 90 Prozent der Wasserrechte Chiles, kontrolliert 80 Prozent der chilenischen und weite Teile der lateinamerikanischen Energiewirtschaft und ist auf dem besten Wege, allen Fragen um Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit seiner Großvorhaben zum Trotz, dieses Monopol weiter auszubauen. Unterstützt wurde Endesa dabei bisher von zahlreichen europäischen Geldgebern, u.a. der Dresdner Bank, dem BMZ und der schwedischen Regierung sowie bis vor kurzem von der Weltbank. Das politische O.K. für die Durchführung des Geschäftes gab der chilenische Präsident Frei unter Missachtung des geltenden Rechts noch kurz vor der Amtsübergabe an Ricardo Lagos im März letzten Jahres.
Der Widerstand steht auf wackligen Beinen
Viele Pehuenche haben durch den Staudammbau, wenn auch nur vorübergehend, Arbeit gefunden. Armut und fehlende Alternativen in der durch den Staat vernachlässigten Region haben sie dazu gezwungen. Stoff für Konflikte in den indigenen Gemeinschaften und innerhalb der Familien gibt es seit dem Auftreten von Endesa deshalb ständig. Kein Wunder also, dass es derzeit nur fünf Pehuenchefrauen sind, die sich aktiv gegen Ralco zur Wehr setzen und die zu der Minderheit gehören, die der Umsiedlung mit ihrer Unterschrift noch nicht zugestimmt haben. Die meisten Pehuenche haben dem Druck von Endesa nicht Stand gehalten, deren erpresserische Methoden zu Angst und Resignation geführt haben. Die mangelnde Aufklärung über ihre Rechte, der fehlende Beistand für die zum Teil analphabetischen Familien durch die staatlichen Behörden und nicht zuletzt die Entschädigungsangebote von Endesa spielten dabei eine Rolle. Einige Familien haben die mit allen westlichen Standards ausgestatteten Blockhäuser bereits bezogen, die Waschmaschine und auch die Fahrräder für die Kinder freudig entgegengenommen. Doch der Unmut über die künstlich von Endesa geschaffene Siedlung El Barco und die dazugehörenden Ländereien griff schnell um sich, liegt sie doch auf der Höhe der Sommerweiden, was bedeutet, dass im Winter hier alles im Schnee versinkt, und so Tiere und Menschen nicht überleben können. Der traditionelle Wechsel zwischen den niedrigeren Winter- und den höher in den Bergen gelegenen Sommerplätzen, der zentraler Bestandteil der Pehuenchekultur ist, wurde schlicht ignoriert. Und so handelt es sich wohl bei El Barco um ein sinkendes Schiff. Endesa begann damit nicht nur, das innere Funktionieren der indigenen Gemeinschaften zu zerstören, sondern spaltet durch die persönliche Druckausübung, besonders auf die bei Ralco angestellten Pehuenchemänner, ganze Familien.
Prinzip Hoffnung
Aussichtslos scheint der Kampf gegen den Energiekonzern dennoch nicht zu sein. Einerseits stehen hinter den fünf Frauen, die von der Organisation Mapu Domo Che Nehuen (Frauen mit der Kraft der Erde) noch übrig geblieben sind, zahlreiche in- und ausländische Menschenrechts- und Umweltgruppen wie die chilenische Nichtregierungsorganisation GABB (Aktionsgruppe für den Bío Bío) mit dem Ökologen Juan Pablo Orego an der Spitze oder auch die chilenische grüne Partei unter dem Vorsitz von Sara Larrain. Außerdem gibt es, im Gegensatz zur Situation von vor acht Jahren während des Baus von Pangue, heute sowohl festgeschriebene indigene Rechte (Ley indígena, 1993) als auch ein Umweltrecht (Ley del medio ambiente, 1994) in Chile, die einforderbar sind und konkrete Schritte möglich machen. Jedoch liegen in der noch jungen Demokratie des Landes genau hier die Schwierigkeiten. Einmal mehr spiegeln die Ereignisse am Bío Bío den anhaltenden Einfluss der Militärs wider, wurde doch Endesa während der Militärdiktatur privatisiert und die Planung der Staudämme im Territorium der Pehuenche vorangetrieben.
Für Ende Dezember erwarten die StaudammgegnerInnen die Entscheidung der chilenischen Justiz zum Indigenen- und Energiegesetz und deren widersprüchlichen Gesetzestexten. Letzteres wurde noch unter der Militärdiktatur formuliert und sieht für die indigene Bevölkerung keine „Sonderregelungen“ vor, da diese gemäß Pinochets Ausspruch „Wir sind alle Chilenen. Es gibt keine Indianer“ ja auch gar nicht relevant gewesen wären. Allerdings will die aktuelle ley indígena die indigenen Kulturen schützen und fördern und verbietet den Kauf und Verkauf indigener Ländereien sowie deren wirtschaftliche Ausbeutung.
Ricardo Lagos ließ zu Beginn seiner Amtszeit im März letzten Jahres verlauten, dass er die Bedeutung von Ralco für Chile zwar anerkenne, den Rechten der Indígenas aber Rechnung zu tragen sei. Leider scheint der Präsident damit ziemlich allein innerhalb der Regierung zu stehen. Heute, ein halbes Jahr später, wurde der Bau des Staudamms zwar mehrmals durch richterliche Verfügungen gestoppt, eine endgültige Absage an das Projekt, das in der chilenischen Gesellschaft und auf internationaler Ebene auf zunehmende Ablehnung stößt, jedoch nicht erteilt.
Da im eigenen Land bereits fast alle rechtlichen Mittel erschöpft sind, um Ralco noch zu stoppen, möchte Orego (GABB) den Konflikt über Chile hinaus publik machen und zusammen mit zwei der Betroffenen, Nicolasa und Berta Quintreman Calpán, den Fall in Spanien zur Anzeige gegen Endesa bringen. Der Versuch des Genozids am Volk der Pehuenche wird dabei Hauptbestandteil der Begründung bilden.
Die Schwestern Quintreman, die z. Zt. in Europa um Unterstützung für ihr Volk werben, wurden während der vergangenen zehn Jahre zum Symbol der Widerstandsbewegung gegen den Bau der Staudämme am Bío Bío. Anfang Dezember nahmen sie in Berlin für ihren gewaltfreien Einsatz gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen den mit 20.000 DM dotierten Petra Kelly Preis der Heinrich Böll Stiftung (Bündnis 90/DIE GRÜNEN) entgegen. In der Begründung der internationalen Jury hieß es, dass die beiden Frauen und ihre Organisation Mapu Domo Che Nehuen (Frauen mit der Kraft der Erde) für ihr couragiertes Handeln gewürdigt werden sollen, durch das sie auf die Nichteinhaltung indigener Rechte weltweit und die kritische Situation der chilenischen Demokratie aufmerksam machen.