Mexiko | Nummer 355 - Januar 2004

Musikalische Brücken der Rebellion

Poesie und Gesang im Kampf der Zapatisten

“Wir erheben unser Wort, unseren Gesang und unseren Schrei, damit die Toten nicht mehr sterben. Wir kämpfen und singen dafür, dass sie leben.“ So steht es in der vierten Erklärung der EZLN aus dem lakadonischen Urwald. Poesie und Gesang sind nicht nur für die Zapatisten zu einem wichtigen Ausdrucksmittel geworden. Besonders die Geschichte des mexikanischen corrido, einer Art Moritatengesang, zeigt, dass die künstlerische Verarbeitung des Protestes in Mexiko Tradition hat.

Gabriel Delgado López

Zu den großen Leidenschaften der zapatistischen Gemeinden zählen der Tanz und der Gesang. Corridos und Cumbia zählen zur Tradition, im alltäglichen Leben, auf gemeinsamen Festen und inzwischen auch auf nationalen und internationalen Treffen. Überall wo die Zapatisten gewesen sind, wurde Cumbia und corrido, Rock, Ska, Salsa oder Reggae getanzt. Im kulturellen Widerstand gegen den Neoliberalismus waren aufständische Dörfer von Beginn an künstlerisch kreativ. Das zeigt sich in den Liedern, die das zapatistische Projekt über die Jahre charakterisiert haben: darin wird die Anerkennung der Vereinbarungen von San Andrés gefordert, der Kampf für die nationale Befreiung und gegen den Neoliberalismus propagiert.
Wohl am repräsentativsten für die zapatistische Musik ist der corrido. Die Lieder der Moritatensänger sind ein Spiegel der Geschichte der Rebellion. Sie handeln von dessen Anfängen, vom Aufstand, von den verschiedenen Etappen des Krieges und vom Kampf für die Autonomie. Obwohl der corrido in Chiapas traditionell nicht so verwurzelt ist wie die Musik der marimba, ist er seit langer Zeit Teil der eigenen Kultur. Von 1994 bis heute haben die Zapatisten ein Liedgut geschaffen, das sich in alle Einflusszonen ausgedehnt hat. Ihre Lieder hört und singt man in verschiedenen Teilen Mexikos und der Welt. Ein typisches Beispiel ist das Lied „Der Horizont” von der „Aufständischen Lucía”, das auch als zapatistische Hymne bekannt geworden ist:
Man sieht schon den Horizont,
zapatistischer Rebell,
du wirst jenen den Weg weisen, die dir folgen.
Vorwärts, vorwärts, lasst uns vorausgehen,
damit unser Kampf vorankommt,
denn unsere Heimat schreit und braucht, die ganze Kraft der Zapatisten.

Die Geschichte des corrido
Nicht das Gewehr,
das ich mit Geschick bediene,
nicht die Zügel des kühnen Rosses,
sondern die Feder ist mir Geschütz und Strategie,
mein Vers die Munition, wie ich sie verstehe.
Dieser Vers stammt aus einem corrido von Marciano Silva, einem zapatistischen General und Bauern der südlichen Befreiungsarmee zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Die corridos werden eine Verpflichtung zur Wahrheit, ihre Autoren zu Geschichtsschreibern. Die symbolische Kraft, die diese Musikgattung besitzt, kommt aus der aufständischen Kultur des mexikanischen Volkes. Diese Kultur beginnt mit dem Kampf für die Unabhängigkeit. Sie setzt sich fort im Reformkrieg, in den Gefechten gegen die französische und später die US-amerikanische Invasion, als Mexiko fast die Hälfte seines Territoriums verlor, im Widerstand gegen den Diktator Porfirio Díaz und in der mexikanischen Revolution.
In den corridos werden diverse Themen angesprochen: Probleme von Tagelöhnern und von chicanos, den US-Bürgern mexikanischer Abstammung, Drogenhandel, das Massaker von Aguas Blancas, die Rebellion von Tepoztlán oder auch der Beginn des indigenen Aufstands der EZLN im Jahre 1994.
Selbstverständlich ist der corrido nicht die einzige Musikgattung in Mexiko. Das kulturelle und soziale Mosaik des Landes drückt sich durch verschiedene Identitäten, Erinnerungen, Vorstellungen und Konflikte aus. Der corrido hat in der mexikanischen Geschichte heute einen festen Platz, weil er für die musikalische und poetische Kreativität des Volkes steht.
AutorInnen wie Vicente de Mendoza sehen den Ursprung des corrido wegen seiner Form und Struktur in der spanischen Romantik: „Der corrido ist eine epische Gattung, lyrisch-erzählend, in vierzeiligen, variierenden Reimen und Paarreimen. Er ist eine literarische Form, über die sich ein musikalischer Ausdruck legt.”
Andere AutorInnen weisen darauf hin, dass der corrido aufgrund seines begleitenden Stils dem französischen courante entspricht und daher seinen Namen erhält. Dagegen steht die These, dass der corrido seinen Ursprung in der indigenen Poesie hat und in aztekischer oder Náhuatl-Tradition steht. Deren AnhängerInnen argumentieren, dass die epische Romantik sich nicht mit dem Volk beschäftigt und deswegen auch nicht als Kampfinstrument funktioniert. Ihnen zufolge übernimmt der mexikanische corrido zwei Funktionen: er richtet sich an Helden, aber wendet sich nicht ausschließlich ihnen zu, sondern auch der Stärke und dem Heldentum selbst.
Insgesamt sehen diese Autoren im mexikanischen corrido eine episch-lyrisch-tragische Gattung, die jede mögliche Strophenformen annimmt, alle Reimformen benutzt und von einem Musikinstrument begleitet wird.

Die Lieder der Zapatisten
Der zapatistische Moritatensänger Yisimón Lum Wuits, Tzeltal Musiker und Poet im nördlichen Chiapas, urteilt folgendermaßen über Musik und Gesang:
Die gesungene Politik
ist eine Form des Kampfes,
helfend und anklagend,
die Erziehung verändernd.
Das Lied erzieht die Menschen,
vom jüngsten bis zum ältesten.
Es ist eine Kriegsstrategie psychologischer und ideologischer Art.
Das Bewusstsein wird schreiend in unseren Gedanken geboren.
Schließlich wird es eins mit unserer Persönlichkeit,
es bittet um seine Freiheit und drückt sich aus,
in der Politik, im Lied, in der Arbeit, und man nennt es Erziehung.
Eine Revolution
kann bereichert werden,
mit Liedern vom Krieg,
von Schlachten und Menschen,
von künstlichem und natürlichem Material.
In diesem Text ist eine wichtige Überlegung der Zapatistas zu erkennen. Das Wort erfährt nur dann Anerkennung und Sinn, wenn es in Beziehung zu Taten und konkreten Aktionen steht. Lum erkennt in der Musik einen pädagogischen und ideologischen Auftrag. Das Bewusstsein, sagt er, entwickelt sich nur dann mit voller Klarheit, wenn es sich mit der Persönlichkeit vereint. Aus diesen Überlegungen wird klar, dass die Kreativität der zapatistischen Gemeinden sich weiterentwickelt. Vermutlich wird man anlässlich der Feierlichkeiten zum zehnten Jahrestag des Aufstands der EZLN viele der rebellischen Lieder aus den Dörfern hören, aber auch solche von mexikanischen und ausländischen Musikern, die vom Zapatismus inspiriert wurden. Yisimón Lum sagt: „Und wenn ich die Gefühle derer erzähle, die leiden, wenn ich davon spreche, wovon die Leute träumen, wenn ich sehe, dass jemand kämpft, stirbt oder liebt, dann werde ich ihm singen. Ich werde ihm singen.”

Übersetzung: Andreas Justen / Rolf Schröder

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