Dossier | Solidarität

„NICHT UNBEDINGT EIN WIDERSPRUCH“

LN-Redakteur*innen im Gespräch über das Kritische an der Solidarität

In den 1970er und 80er Jahren gab es in den Lateinamerika Nachrichten klare Bezugspunkte für Solidarität. Heute gestaltet sich das Bild differenzierter. Zu den linken Regierungen, die in Lateinamerika seit der Jahrtausendwende an die Macht kamen, gibt es keine einheitliche Haltung. Grund genug für die Redaktion, sich angesichts der Nummer 500 darüber auszutauschen, was Solidarität heute bedeutet. Ein Gespräch zwischen den Redaktionsmitgliedern Evelyn (26), Katharina (26), Claudia (51), Fabian (20) und Thilo (37).

Moderation und Bearbeitung: Lea Fauth

Was ist kritische Solidarität und mit wem ist man dabei solidarisch?
Evelyn: Solidarität ist für mich die Unterstützung eines politischen Projekts, das ich als emanzipatorisch betrachte. Im Nord-Süd-Kontext bedeutet das zunächst eine Reflexion meiner eigenen Privilegien. Sonst ist man nicht mehr solidarisch, sondern wird bevormundend – man hat seine eurozentristischen Ideen von dem, was läuft. Stattdessen muss ich zuhören, so erfahre ich, was für eine Art von Solidarität die Menschen brauchen und wollen.

Katharina: Das Reflektieren der eigenen Position sollte aber nicht dazu führen, dass man sich zu sehr zurücknimmt. Man muss sich auch einmischen dürfen. Zum Beispiel zugunsten der Opfer transnationaler Konzerne.

Evelyn: Aber ich kann mich nur mit Leuten solidarisieren, die sich ermächtigt haben und für oder gegen etwas kämpfen. Ansonsten kann ich gar ich nicht in eine solidarische Beziehung zu ihnen treten.

Claudia: Aber man kann zum Beispiel Leute, die gefoltert werden, mit Petitionen unterstützen. In dem Augenblick sind sie keine aktiv handelnden Subjekte, sondern angewiesen auf Hilfe von außen. Das muss nicht unbedingt paternalistisch sein. Meine Solidarität erstreckt sich auch auf die, die nichts mehr haben und selbst nicht mehr handeln können.

Fabian: Ich finde, wir sollten uns beim Thema Solidarität eher darauf konzentrieren, was wir hier in Deutschland machen, was unsere Rolle ist und was wir hier verändern können. Sonst läuft man Gefahr, eine Art Entwicklungshilfe zu leisten, die Abhängigkeiten schafft und die dann doch irgendwann in eine Art Paternalismus hineingerät. Evelyn hat recht: Ich kann nicht für Leute oder Gruppen sprechen, die sich selbst nicht politisch in einer gewissen Weise artikulieren.

Ist unsere kritische Solidarität dann nicht paternalistisch? Wenn sie von links linke Bewegungen und Regierungen kritisiert und sagt, dass sie so ihren Kampf nicht führen sollen?
Fabian: Das würde ja heißen, sobald man Kritik äußert, ist man paternalistisch. Aber ich glaube nicht, dass das Wesen der Kritik an sich so ist.

Thilo: Es ist dennoch eine interessante Frage: Ist Kritik überheblich? Dürfen wir das? Ist das nicht eine Reproduktion kolonialer Strukturen, wenn wir uns anmaßen, darüber zu entscheiden, wie die Bewegungen in Lateinamerika zu handeln haben? Ich würde das nicht sagen. Dieser Vorwand wird gerne von Leuten in Lateinamerika ausgegraben, die sich als links begreifen. Wenn sie kritisiert werden, weil sie autoritär sind, sagen sie: ,Das kommt doch aus dem Norden, das dürfen wir uns nicht gefallen lassen!‘ Einerseits muss man da aufpassen und die eigene Position reflektieren, andererseits darf man das nicht einfach als Entschuldigung durchgehen lassen.

Welche Haltung kann man zu linken Regierungen in Lateinamerika aus einer kritisch-solidarischen Perspektive haben?
Claudia: Ich zitiere mal Urs Müller-Plantenberg, der sagt: ,Ihr seid als LN heute seriöser als früher‘ (siehe Interview in diesem Dossier). Da frage ich mich, ob wir in der Debatte um diese heikle Frage – kritische Solidarität mit linken Regierungen – herumeiern, oder ob die sich nicht mehr so stellt. Ich denke, in den 1980ern musste man immer Position beziehen. Es gab nur wenige Leute, die sich um differenzierte Einstellungen bemüht haben. Innerhalb der Redaktion gehen wir da manchmal auseinander. Wir haben zum Teil unterschiedliche Einschätzungen von den jeweiligen Regierungen. Zum Beispiel habe ich lange die brasilianische Regierung viel positiver bewertet als andere in der Redaktion, weil ich gesagt habe, dass deren Sozialprogramme nicht einfach so vom Tisch gewischt werden können. Das ist eine westliche Arroganz, wenn man das nicht als Errungenschaft wertschätzt – auch wenn es diese Kritik in Brasilien auch gibt, nämlich als „asistencialismo“. Auch wenn ich die Umweltpolitik und Belo Monte fürchterlich finde, kann man deshalb nicht gleich die ganze Regierung verdammen.

Thilo: Das ist nicht unbedingt ein Widerspruch. Da ist die europäische Linke in den letzten Jahren einfach viel differenzierter geworden. Ich kann mich zum Beispiel durchaus mit Venezuela in einer gewissen Weise solidarisch erklären und trotzdem bestimmte Aspekte dort kritisieren. Dieser alte Anti-Imperialismus hat immer so sehr starre Blöcke gesehen, das war eine Ideologie zur Reduktion von Komplexitäten – da sagte man: Es gibt die Unterdrückten, und es gibt die Unterdrücker. Viel spannender finde ich dann den Ansatz der Staatstheorie nach Nicos Poulantzas, wo der Staat als Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse verstanden wird. Der Staat ist eben kein Block, sondern in einer linken Regierung gibt es immer noch den Einfluss von Rechten. Da ist die journalistische Berichterstattung erst einmal wichtig, um sich überhaupt orientieren zu können.

Evelyn: Es gibt nicht das monolithische Etwas, das sich nicht verändert und so ist. Selbstverständlich kann man nicht wegreden, dass die Lebensbedingungen von Leuten vor Ort sich verbessern und dass die das gut finden. Aus meiner Position heraus kritisiere ich dann aber, dass es eine Entfaltung von kapitalistischen Konsum- und Produktionsverhältnissen gibt. Aber gleichzeitig führen Bewegungen konkrete Kämpfe und da kann ich mich zu einer Frage oder zu einem Projekt äußern, auch in einem Artikel.

Katharina: Mir wird beispielsweise von der ecuadorianischen Botschaft oft vorgeworfen, dass ich hier so stark Position beziehe und nicht einfach das linke Regierungsprojekt unterstütze. Aber wäre das sinnvoll? Wenn ich mir angucke, warum der real existierende Sozialismus untergegangen ist, dann finde ich wichtig, an Projekten von Anfang an Kritik zu äußern.
In Ecuador intensivieren sie den Rohstoffabbau und damit die Hierarchien, die aus der Kolonialzeit stammen. Was ist also der Weg, damit ein linkes Projekt Erfolg hat? Für mich ist da zuerst die Steuerpolitik. Meine zentrale Kritik an den linken Regierungen ist, dass etwa in Ecuador und Bolivien zwar mehr Steuern erhoben werden als vorher, aber es geht den Reichen nicht verhältnismäßig mehr auf die Tasche als den Armen. Und das wäre mir wichtiger als das Thema Rohstoffverbrauch.

Fabian: Auch wenn ich die Kritik an der Steuerpolitik grundsätzlich teilen würde, finde ich es trotzdem schwierig, dies den Regierungen zum Vorwurf zu machen. Weil eine Leistung dieser Regierungen darin besteht, dass sie relativ lange halten – dafür, dass sie in erster Linie eine komplette Umkehrung der dortigen gesellschaftlichen Verhältnisse oder zumindest der Machtverhältnisse bedeutet haben. Natürlich muss man als Regierung Kompromisse eingehen, auch wenn das ein blödes Wort ist – Kompromiss. Und deswegen bezweifle ich, dass es beispielsweise für Evo Morales überhaupt die Möglichkeit gab, die Reichen mit – sagen wir mal 90 Prozent – zu besteuern. Das ist etwas, was wir glaube ich oft vergessen in unserer Perspektive auf diese Regierung: Was ist möglich?

Thilo: In die Kerbe wollte ich auch schlagen: Ist es nicht ein bisschen unfair, bei linken Regierungen dann höhere Maßstäbe anzusetzen? Den Extraktivismus hat nicht Rafael Correa in Ecuador erfunden, sondern Rohstoffausbeutung gab es seit der Kolonialzeit. Man kann schwer erwarten, dass eine lateinamerikanische Regierung, die womöglich auch in einer schwachen Position ist, auf einmal ein Projekt etabliert, das tatsächlich die gesamte kapitalistische Vergesellschaftung und Wertung transzendiert. Die betreffenden Regierungen haben sich nicht zuletzt deswegen gehalten, weil sie sich eben nicht so komplett angelegt und alles enteignet haben.

Katharina: Aber indem Correa den Extraktivismus weiter forciert, baut er auch koloniale Hierarchien aus. Und so kann man doch nicht ernsthaft ein linkes, emanzipatorisches Projekt gestalten. Ihr haltet den Regierungen zu Gute, dass sie schon so lange an der Macht sind. Dann müsste ich doch auch froh sein, dass Merkel wahrscheinlich auch die nächsten Wahlen wieder gewinnen wird. Natürlich finde ich es gut, dass Ecuador heute politisch stabiler ist, aber warum ist das so? Hat das noch etwas mit dem anfangs emanzipatorischen Projekt zu tun? Wo ist die Basis einer Regierung und wie verändert sich das?
Dass da globale Machtverhältnisse mit rein spielen, ist klar. Die können nicht sagen: Gut, wir machen jetzt den Ölhahn zu und wir exportieren keine Bananen mehr. Aber sie könnten wenigstens damit aufhören, die bestehenden Machtstrukturen noch weiter auszubauen, indem sie neue Ölquellen aufmachen.

Evelyn: Man kann eben nicht von der Correa- oder Morales-Regierung sprechen, nicht von den linken Regierungen, auch nicht von den Bewegungen. Wir können auch mit einer Bewegung solidarisch sein und gleichzeitig die sexistische Struktur innerhalb dieser Bewegung kritisieren.
Um auf Poulantzas zurückzukommen: Auch in einer linken Regierung gibt es rechte Kräfte und die Besitzverhältnisse werden nicht immer aktiv angegangen. Aber da geht es auch um globale Produktionsverhältnisse: Bestimmte Dinge kann man eben nicht einfach so vor Ort schaffen. Mein Verständnis von Solidarität ist, zu informieren, die dortige Entwicklung zu dokumentieren, aber eben genau da auch aufzuzeigen, welches die Zusammenhänge zur hiesigen Politik sind. Und hier kann ich ebenfalls handeln. Dass Morales jetzt Merkel besucht hat und die beiden sich wunderbar verstehen, ist ein Zeichen dafür, dass die Interessen von den herrschenden Ländern gut vertreten werden. Wenn ich dann einen Artikel schreibe, dann ist dabei wichtig, Aktivist*innen vor Ort zu fragen, was gerade deren Anliegen ist, deren Position dazu.

Claudia: In den sozialen Bewegungen in Brasilien heißt es über das erste Regierungsjahr der PT und Lula: O ano da paciência histórica – das Jahr der historischen Geduld. Weil man einen Putsch befürchtet hat. Damit wird die dort tatsächlich geführte Politik legitimiert – mit der Angst vor einem Militärputsch, wenn man massiv die Oligarchie oder die gesellschaftlichen Machtstrukturen angreift. Die Regierungen sagen: Das ist das, was möglich ist. Und die sozialen Bewegungen erwidern: Aber das ist nicht genug. Als LN retten wir uns aus dieser Konfrontation, indem wir unsere Solidarität als eine mit den sozialen Bewegungen definieren.

Thilo: Klar, wenn ein linkes Projekt kein emanzipatorisches Potenzial mehr hat, verdient es nicht unsere Solidarität. Aber man muss schon auch anerkennen, was diese linken Regierungen Positives gebracht haben, damit man eben nicht rechten politischen Kräften in die Hände spielt, die man gar nicht unterstützen möchte.
Der asistencialismo – der zu Recht kritisiert wird, weil Leute in die Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen geraten – hat zum Teil Menschen auch erst dazu ermächtigt, anders politisch aktiv zu werden. Da gibt es die Gefahr, dass sich die Katze irgendwann in den Schwanz beißt, weil dieses Geld der Transferleistungen ja auch irgendwo erwirtschaftet werden muss. Momentan ist die einzige Lösung, die diese Länder anbieten, der Ausbau von Extraktivismus. Wie man das durchbricht, ist die Frage. Und da sehe ich leider keinen Silberstreif am Horizont.

(Download des gesamten Dossiers)

 

 

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