Nicaragua | Nummer 196 - September 1990

Nichts einigt mehr als die Spaltung?

Zur Diskussion innerhalb der FSLN

“Sozialdemokratisierung” oder Rückkehr zum bewaffneten Kampf, das Verhältnis zu den Gewerkschaften, die Unabhängigkeit der Massenorganisationen, die Rolle der Nationalleitung, Strukturveränderungen, Wahlverfahren… Die Schlagworte der Diskussion innerhalb der FSLN sind mannigfaltig und auch in den Solidaritätsgruppen der BRD Gegenstand heftiger Diskussionen. Im folgenden sollen verschiedene, widersprüchliche Eindrücke von der Diskussion in Nicaragua aufgezeichnet werden.

Bernd Pickert

Ein Wahltag in Managua

Punkt sieben Uhr morgens sollte es losgehen am Sonntag, dem 2. September 1990 im erst vor einem Jahr errichteten “Augusto-César-Sandino-Gedenkpark”: Die ersten Leitungswahlen der Geschichte der FSLN in Managua. Der LN-Korrespondent kam also mit vergleichsweise schlechtem Gewissen um 9 Uhr zu der bereits gut besuchten Versammlung, hatte aber noch reichlich Zeit, an einem der zahlreichen Essensstände ein Frühstück zu ergattern, bevor um halb zehn tatsächlich begonnen wurde. Als sich Daniel Ortega, mit Jeanshemd, Blue-Jeans und Cowboystiefeln bekleidet, erhebt, um die Versammlung zu eröffnen, hallt es durch den Saal: “Dirección Nacional: Ordéne!” (Nationale Führung: Befiehl!) Und der Saal brüllt laut, auf dieser Symbol-Veranstaltung des Strukturwandels innerhalb der Sandinistischen Befreiungsfront.
Daniel erinnert in seiner Einführungsrede an die Geschichte der FSLN. Von den fast 30 Jahren hat die Organisation zwei Jahrzehnte in der Klandestinität zugebracht, militärisch-politische Strukturen entwickelt, die auch im nachfolgenden Kampf gegen die US-Aggression nicht fallengelassen werden konnten. Er betont die Vorläufigkeit all der Wahlen, die bis jetzt
innerhalb der FSLN stattgefunden haben, denn erst der Kongreß im Februar wird die endgültige Entscheidung über die tatsächlichen neuen Parteistrukturen fäl­len. Das wichtigste, worauf die über 2000 anwesenden Delegierten gespannt warten, hebt er sich – didaktisch geschickt – bis zum Schluß seiner Rede auf: Die Nationalleitung favorisiert keineN der bekannten KandidatInnen für die Position des/der Koordinators/in. Die Basis müsse entscheiden; heftiger Applaus.
Der Rest ist technisch, könnte an dieser Stelle gesagt werden, doch auch die Technik hat bei einem derartig historischen Datum natürlich Bedeutung. Da haben einige Distrikte von Managua mehr Delegierte angemeldet, als ihnen zustand, was von der Wahlkommission heftig gerügt wird. Da will auch der uni­versitäre Sektor, dem ein Mitglied im Departamentskomitee zugestanden wird, weitere Kandidaten vorschlagen, darunter den Sänger Carlos Mejía Godoy und den Chef der Satire-Porno-Zeitung “Semana Cómica”, Roger Sánchez, was vom Wahlkomitee nicht akzeptiert wird. Als die Diskussion tumultartig eskaliert, interveniert Daniel mit dem ganzen Gewicht seiner Autorität, sagt, daß die Regeln ja wohl klar gewesen seien. “No!!”, hallt es ihm hundertfach entgegen. “Wer kannte die Regeln nicht?” fragt er; über siebzig Prozent heben die Hände. Nun bleibt ihm nicht anderes übrig, als die Ablehnung der Kandidatur­vorschläge des universitären Sektors inhaltlich zu begründen, was den Routinier ein kurzes Nachdenken kostet: Jedes in der Universität organisierte FSLN-Mit­glied würde ja wohl auch irgendwo wohnen und sollte sich gefälligst in seinem Stadtteil organisieren, die Stadtteile könnten ja schließlich Vorschläge machen, sie seien die Basis, und die Führer sollten aus der Basis kommen. Geschafft, der Saal applaudiert, nochmal gut gegangen.
Nun kann in die Wahlen eingestiegen werden. Aus jedem Stadtteil und den zum Departament gehören­den Gemeinden gibt es bereits jeweils ein Mitglied des Departamentskomitees, zehn weitere sollen gewählt werden, dafür gibt es 23 KandidatInnen. Lang dauert die Vorstellung, lang auch der Wahlvorgang. Die Auszählungskommission zieht sich mit den Wahl­urnen an die Computer zurück. Die weiteren Wahl­vorgänge laufen ohne größeres Chaos ab, dann gibt es eine längere Pause zur Stimmenauszählung, während derer Daniel, der Held der Nation, der “Friedens­präsident”, der Popularitätsträger Nr.1 wie in Wahl­kampfzeiten Mützen, Hemden, Blöcke, Dele­giertenkarten und überhaupt alles signiert, was einen Schriftzug aushält. Ein findiger Fotograf aus dem Barrio San Judas macht das Geschäft seines Lebens: Für umgerechnet 2,5 Dollar kann jedeR ein Foto mit Daniel nach Hause tragen, so ziemlich alle weibli­chen Delegierten stehen Schlange. Foto, Küßchen, Unter­schrift, nächste. Der Ex-Präsident leistet Schwerst­arbeit. Schließlich nach über zwei Stunden
die Bekanntgabe der Ergebnisse. Die einstige “Comandante Dos” bei der spektakulären Besetzung des Nationalpalastes am Vorabend der Revolution, die 34-Jährige Dora María Tellez, ist mit 66% der Stimmen zur Kordinatorin gewählt worden. Heftiger Beifall, Enthusiasmus, “Do-ra, Do-ra!”. Sie fordert in ihrer Rede zum zuhören können und zur Toleranz gegen­über anderen Meinungen in der FSLN auf: “Wenn wir uns gegenseitig nicht zuhören können, wie sollen wir dann die Sorgen der Bevölkerung mitbekommen?”
Daniel möchte in seinen Abschlußworten (Wo hat er bloß so schnell wieder Luft geschöpft?) noch einen Anerkennungsapplaus für die nicht wiedergewählten Compañeros herausholen, er verliest die Liste, darunter auch der Ex-Bürgermeister von Managua und bisherige Koordinator Carlos Carrión, prompt kommt aus dem Saal die alte Losung: “Für die Toten…” und schon antwortet es vielstimmig: “…unsere Toten, schwören wir, den Sieg zu verteidigen!”. Gelernt ist gelernt, aber, wie Daniel dann, einen Lachanfall nur mühsam unterdrückend, feststellt: “Sie sind alle quicklebendig und arbeiten!” Compañero Sigmundo Freud: Presente!!
Der Tag hinterläßt den Eindruck einer jung gealterten Basis, die sich langsam aufrappelt, nur mit den Sprüchen, da hapert’s.

Die “Comandantes”: unschätzbares, wertvolles,
lästiges Erbe?

“Wir atmen richtig durch und können die Dinge einmal in Ruhe betrachten”, so die Einschätzung durchaus nicht weniger Basis-Mitglieder der Frente Sandinista, die meinen, daß die Wahlniederlage vom 25.Februar 1990 für die FSLN als Partei durchaus vorteilhaft, vielleicht sogar notwendig war.
Die aktuelle Debatte innerhalb der FSLN hat zwei Ebenen: Erstens die interne Diskussion um die Veränderungen der Parteistrukturen, die Rolle einer Nationalleitung und ob diese zu wählen sei oder nicht, sowie die personellen und strukturellen Veränderungen auf den kommunalen und regionalen Leitungsebenen. So wurden die alten Regionalkomitees, die zum Teil unüberschaubar große und durchaus unterschiedlich strukturierte Gebiete zu leiten hatten, fallengelassen zugunsten von “Departaments-Komitees”. Im Falle Managuas stimmen Departament und Region (III) überein, so daß sich dort nur der Name geändert hat. Aber, was viel wichtiger ist: Zum ersten Mal in der fast dreißigjährigen Geschichte der FSLN werden die Leitungsebenen gewählt. Damit findet – zumindest partiell – eine Diskussion und Bewertung der KandidatInnen und der ausscheidenden Kader statt: Die Abwahl des bisherigen Koordinators Carlos Carrión macht – ohne daß dies in der Öffentlichkeit so erwähnt würde – eine Kritik an seiner bisherigen Tätigkeit von Seiten der Mitgliedschaft deutlich.
Einen “Generationswechsel” auf der Leitungsebene bedeutet dies jedoch nicht automatisch, wie die Wahlen in Managua zeigten: Sowohl die neue Koordinatorin als auch der zu ihrem Vize gekürte Victor Hugo Tirado, einer der neun Comandantes der Nationalleitung der FSLN, sind alles andere als neue und unverbrauchte Kader. Aber immerhin: Mit Carlos Fonseca Terán, dem Sohn des 1976 gefallenen legendären Gründers und Anführers der FSLN Carlos Fonseca, ist in das Departement-Komitee auch einer der prominentesten Köpfe der – in seinem Falle wortwörtlichen – zweiten Generation gewählt worden. Fonseca jr., der mit seiner scharfen Kritik an einer Verbürgerlichung und Sozialdemokratisierung der FSLN zu einem wichtigen Sprecher der sandinistischen Linken geworden ist, ist auch aussichtsreicher Kandidat für den Vorsitz der Sandinistischen Jugendorganisation, von deren Leitung er in der Vergangenheit als “Abweichler und Anarchist” disziplinarisch bestraft worden war.
Die einzigen, für alle Welt sichtbaren Diskussionen um die Neuorientierung der FSLN finden in den sandinistischen Zeitungen statt. Die Meinungsseiten haben seit der Wahlniederlage der FSLN an Spannungsgehalt ausgesprochen zugenommen, wird doch seither nicht mehr immer nur noch einmal die Anklage gegen den Yankee-Imperialismus und den innenpolitischen Gegner wiederholt, sondern tatsächlich eine Debatte um die weiteren Perspektiven geführt.
So gab es rund um die “Sandinistische Versammlung” von El Crucero im Juni eine breite Diskussion über die Rolle der Nationalleitung. Die neunköpfige, seit 1979 unveränderte Dirección Nacional (DN) war in El Crucero vorläufig bestätigt worden (abgesehen davon, daß gemäß den Abkommen mit der Chamorro-Regierung Humberto Ortega als Armee-Chef formal aus dem obersten FSLN-Gremium ausscheiden mußte); man mochte sich aber noch nicht festlegen, ob die Dirección Nacional auf dem Parteitag im Februar neu gewählt werden sollte oder nicht.
Die derzeitige Nationalleitung, Resultat der “Wiedervereinigung” der drei Fraktionen, “Tendencias” der FSLN kurz vor dem Sieg der Revolution, hat ihre Aufgabe eigentlich schon lange erfüllt. Sie ist auch ein Ausdruck der politisch-militärischen Strukturen, die für den Guerillakampf so notwendig, für eine Partei, die sich intern demokratisieren will, jedoch überholt sind. In der Debatte stehen sich diese Einschätzung, die eher zwischen den Zeilen zu lesen ist, und der Respekt vor den “Comandantes” gegenüber. Die Struktur der Dirección Nacional ist an die Personen geknüpft, jede Forderung zur Abschaffung der Nationalleitung in der jetzigen Form beinhaltet daher auch eine Kritik an den neun Comandantes, die man so gar nicht äußern möchte. Dazu kommt, das ist auch in anderen FSLN-internen Debatten zu spüren, die jeder politischen Partei eigene Angst vor der Offenlegung ihrer Konflikte gegenüber dem politischen Gegner. In einem Land, dessen politische Kultur seit fast zwei Jahrhunderten von der bewaffneten Auseinandersetzung geprägt ist, muß sich diese Angst noch verstärken.
Größter Knackpunkt des Reorganisationsprozeßes, insbesondere auf den “unteren” Ebenen der Gemeinden, ist allerdings die Aufarbeitung der Fehler, Korruption und Verfehlungen der lokalen Führungskader. “Prepotencia” heißt hier das Schlüsselwort, übersetzbar etwa als Überheblichkeit, Allmacht des jeweiligen Polit-Sekretärs, der bekanntermaßen ja nie gewählt wurde, also auch von der Basis nicht abgesetzt werden konnte. Es wird auf der einen Seite durchaus verstanden, daß die Macht an sich korrumpiert, und daß es nicht nur die jeweiligen Personen waren, die durch ihren “miesen Charakter” in die Verfehlungen hereingerutscht sind, sondern die Strukturen, die diese Personen geformt haben. Auf der anderen Seite sind diese Strukturen aber auch tief in der Mitgliedschaft verwurzelt, die sich damit schwertut, jetzt auch mehr Verantwortung übernehmen zu müssen als vorher.

Armee-Chef Humberto Ortega als sandinistischer “Ober-Realo”

Auffallend in der gesamten Debatte ist, daß viel über die internen Strukturen, wenig aber über die politischen Perspektiven diskutiert wird. Für diese zweite Diskussionsebene stehen die Schlagwörter “Concertación” und “Reconciliación” (“Konzertierte Aktion” auf der ökonomischen Ebene, “Versöhnung” auf der politischen). Die klarste Position für die “Concertación” hat aus sandinistischen Kreisen bislang Humberto Ortega – allerdings in seiner Funktion als oberster Heereschef – eingenommen. In einem fast zweistündigen Interview in der Fernsehsendung des Propaganda-Ministers Danilo Lacayo “Demokratie auf dem Weg” sagte er: “Die nationale Versöhnung Nicaraguas ist nicht nur möglich, sondern überlebenswichtig, um Nicaragua zu retten. Wenn wir NicaraguanerInnen nicht in einem tiefen Sinne der Versöhnung handeln, um die Probleme zu lösen, ist Nicaragua verloren.” Diese Position von Ortega ist zum einen seiner Funktion geschuldet: Er läßt derzeit keinen Anlaß aus, um die Loyalität des Sandinistischen Volksheeres zur Verfassung zu bekunden. (Was ihm von der marxistisch-leninistischen MAP-ML in der Wochenzeitung “El Pueblo” prompt den Vorwurf einbrachte, jetzt endgültig das Sandinistische Volksheer zum Garanten der bürgerlichen Demokratie machen zu wollen…)

KASTEN:

Risse im Sandinistischen Volksheer

Der Rausschmiß des Luftwaffenchefs verweist auf tiefere Konflikte

“Das Dementi ist ein grammatikalisches Unikum: Indirekte Bejahung durch direkte Verneinung”, sagt ein schönes Zitat. Am 10. August dementierte der Militärische Rat des Sandinistischen Volksheers (EPS) öffentlich, daß es eine Krise in den Streitkräften gäbe. Ein Tag zuvor war die Absetzung des Chefs der Sandinistischen Luftwaffe (FAS), Javier Pichardo, bekannt geworden. Auch wenn im einzelnen nur sehr wenig Konkretes und umso mehr Gerüchte an die Öffentlichkeit drangen, scheint die direkte Verneinung auch in diesem Falle mehr als alles andere die Annahme einer Krise in der sandinistischen Armee zu bejahen.
Der Rausschmiß des altgedienten Revolutions-Kämpfers und langjährigem Chef der Fuerza Aérea Sandinista durch Armee-Chef Humberto Ortega ist kein Pappenstiel und kommt auch nicht aus ganz heiterem Himmel. Hintergrund ist die Unzufriedenheit der “Basis” des EPS: “Wir haben den Krieg gegen die USA gewonnen, und die lassen sich die Macht einfach an der Wahlurne wegnehmen”, ist hier eine viel zu hörende Haltung. Über Humberto Ortegas wiederholte Verkündungen, daß die Armee “apolitisch” und “professionell” sei, ist man empört, und seine Verhandlungsbereitschaft mit dem “moderaten” UNO-Flügel um Violeta Chamorro empfinden viele als Verrat an der Revolution.
Pichardo selbst hat sich bislang nicht öffentlich zu seiner Entlassung geäußert, ein Gentleman’s Agreement mit Ortega, trotz alledem. Das Macht-Wort Ortegas dürfte auch Auswirkungen über die Person Pichardo selbst hinaushaben; dpa meldet am 16. September, daß 500 Offiziere der Sandinistischen Luftwaffe und der Luftabwehr – im Rahmen der bei der Regierungsübergabe an Violeta Chamorro vereinbarten massiven Reduzierung der Truppenstärke der Armee – entlassen wurden.
Die bewaffnete Macht ist immer das Rückgrat der Sandinistischen Revolution gewesen, und nach dem Verlust der Regierung ist sie es um so mehr. Doch das militärische Rückgrat der SandinistInnen, so scheint es, ist genauso – oder gar noch mehr – gespalten wie die FSLN selbst.
beho/-o

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