Argentinien | Nummer 447/448 - Sept./Okt. 2011

„Niemand will wissen, wie viele Opfer es gibt“

Interview mit Victoria Vaccaro, Mitarbeiterin im Frauenfluchtzentrum der Stadtregierung von Buenos Aires

Zwangsprostitution und Frauenhandel sind ein weltweites Problem. In Argentinien ist es mitlerweile ein öffentliches Thema, jedoch gibt es keine offiziellen Statistiken. Die LN sprachen mit Victoria Vaccaro über Frauenhandel in Argentinien.

Interview: Tina Füchslbauer und Miriam Weiss

Seit wann ist Frauenhandel ein Thema in Argentinien, das öffentlich diskutiert wird, und seit wann beschäftigt sich die Regierung damit?
Das Thema des Menschenhandels wurde in Argentinien mit dem Fall von María de los Ángeles Veron – „Marita Veron“ – publik. Die 23-jährige Frau aus Tucumán verließ im April 2002 ihr Haus und wurde daraufhin nie wieder gesehen. Seit dem Zeitpunkt des Verschwindens begann ihre Mutter nachzuforschen, was mit Marita geschehen war und entdeckte ein Frauenhandelsnetz in Tucumán. Die Händler entführten Frauen und brachten sie dann in andere Provinzen Argentiniens, um sie dort zur Prostitution zu zwingen. So wurde das Thema in Argentinien öffentlich gemacht. Diese Geschichte gelang an internationale Medien und im Jahre 2007 wurde der Mutter Maritas der Preis der „Frau des Jahres“ von den Vereinigten Staaten überreicht.
Im Jahr 2002 wurde in Argentinien das Protokoll von Palermo unterzeichnet, welches für die Bekämpfung des organisierten Verbrechens, inklusive des Menschenhandels, steht. Im Jahr 2008 wurde das Gesetz zu Menschenhandel in Argentinien verabschiedet. Abgesehen von Präventions- und Bestrafungsmaßnahmen beinhaltet das Menschenrechtsgesetz Unterstützungsmaßnahmen für die Opfer. Trotzdem ist dieses Gesetz ziemlich polemisch und wird von sozialen Organisationen in Frage gestellt, die schon viel früher als der Staat mit dieser Thematik gearbeitet haben. Zur Zeit wird das Gesetz im Parlament überprüft, um es zu verbessern.

Können Sie uns Ihre Arbeit genauer erklären? Nach der Verabschiedung des nationalen Menschenhandelsgesetzes hat die Stadt Buenos Aires auch ihr eigenes Gesetz verabschiedet, das den Schwerpunkt auf die Unterstützung der Opfer des Menschenhandels setzt. Somit verpflichtet sich die Stadt Buenos Aires zur Unterstützung und Beherbergung von Frauen, die aus den Menschenhandelsnetzen befreit wurden. Diese Einrichtung wurde im September 2010 eröffnet. Ich arbeite dort als administrative Koordinatorin. Im Refugium sind wir 21 Personen. Dieser Zufluchtsort kann 18 Frauen oder Kinder aufnehmen. Er ist rund um die Uhr geöffnet. Es arbeiten hier zwei Psychologinnen, eine Sozialarbeiterin, eine Hauptkoordinatorin und ich – wir bilden das technische Team. Der Rest des Personals unterteilt sich in zwei Rollen: Einerseits Betreuerinnen, die mit den Frauen den Alltag verbringen, mit ihnen den Tagesablauf festlegen und ihnen wieder Gewohnheiten wie Zähneputzen, sich zum Essen zu setzen, regelmäßig zu baden und so weiter näher bringen, die oft nach so vielen Jahren der Ausbeutung verloren gingen – und jene Mitarbeiterinnen, die Workshops und Aktivitäten mit den Frauen realisieren.

Wie viele Frauen kommen im Durchschnitt pro Woche oder Monat in das Refugium?
Um die Privatsphäre der Opfer zu schützen, können wir keine spezifischen Angaben über die Anzahl der Fälle geben. Wir haben Kapazität für 18 Personen. Es sind auch schon Jungen gekommen, obwohl der Ort ausschließlich für weibliche Opfer sexueller Ausbeutung gedacht ist.

Müssen die Opfer, die sich illegal im Land aufhalten, nach der Befreiung das Land verlassen?
Argentinien hat im Vergleich zu Europa ein flexibleres Einwanderungsgesetz, welches es Migrant_innen, vor allem Staatsbürger_innen des Mercosur und lateinamerikanischer Staaten, leichter macht, eine Aufenthaltsgenehmigung in Argentinien zu bekommen. Zusätzlich existiert ein spezifisches Menschenhandelsgesetz, das besagt, dass der argentinische Staat Verantwortung übernehmen muss für die, die nicht in ihr Land zurückkehren wollen. Unsere Betreuung ist für Argentinierinnen sowie für Ausländerinnen die gleiche. Wir helfen den Opfern, eine permanente Aufenthaltsgenehmigung zu erlangen, wenn sie das wollen. Sobald sie den DNI (Personalausweis; Anm.d.Red.) bekommen haben, haben sie Zugang zu allen Unterstützungen, genauso wie jeder andere Staatsbürger.

Was sagen die offiziellen Statistiken?
Offizielle Statistiken gibt es nicht, vor allem aus politischen Gründen. Niemand will wissen, wie viele Menschenhandelsopfer es in Argentinien gibt, da es sich um eine Verletzung der Menschenrechte handelt und der Staat nicht dagegen interveniert. Allerdings gibt es allgemeine Daten auf Basis der Anzahl der verschwundenen oder wieder aufgetauchten Frauen. In der Regel handelt es sich um Frauen im Alter zwischen dreizehn und maximal 25 Jahren. Die Definition des Menschenhandels beinhaltet auch eine Ortsversetzung von Personen. Die Opfer werden beispielsweise von Tucumán nach Buenos Aires und nach einer gewissen Zeit, in der bereits sexuelle Ausbeutung stattfindet, in den Süden Argentiniens gebracht. So ist es besonders schwierig, die Opfer zu finden. Argentinien ist ein Transit- und Empfängerland für Opfer. Deswegen werden die Mädchen, die in Buenos Aires entführt werden, oft ins Ausland oder in andere Provinzen gebracht. Sie bleiben nie am gleichen Ort. In Buenos Aires gibt es eine hohe Anzahl an Arbeitsausbeutung von Frauen aus Bolivien und an sexueller Ausbeutung von Frauen aus der Dominikanischen Republik.

Viele Opfer kommen aus dem Norden des Landes. Warum?
Der Nordosten Argentiniens, wie beispielsweise Misiones, ist eine der ärmsten Regionen des Landes. Es gibt viel Armut. Viele Menschen sprechen kein Spanisch, sie sprechen Guaraní oder Deutsch. Es gibt viele deutsche Siedlungen und die Regierung ist für diese Menschen nicht präsent. Es gibt verschiedene Gründe, warum die Frauen von dort angeworben werden. Zum Beispiel macht die Nähe zu den Grenzen der Nachbarländer Brasilien und Paraguay es besonders leicht, die Mädchen aus dem Land zu bringen. Obwohl es seit einigen Jahren viel mehr Kontrollen gibt und sogar ein eigenes Ministerium gegründet wurde, bleibt Misiones immer noch die Provinz mit der höchsten Opferzahl.

Wie können die Opfer den Ausstieg schaffen und welche Unterstützung erhalten sie dabei?
Normalerweise flüchten sie. Letzte Woche gab es einen Fall von einem Mädchen aus Paraguay. Sie reiste von Paraguay nach La Plata, da eine Cousine sie anrief und ihr erzählte, dass Reinigungspersonal in La Plata gesucht werde. Die Cousine sagte ihr, dass sie sie von der Bushaltestelle abholen würde, aber als das Mädchen ankam, wartete nicht ihre Cousine auf sie, sondern ein Mann, der ihr sagte, dass er sie zum Haus der Familie bringen würde. Tatsächlich brachte er sie jedoch in ein Bordell, genauso wie es im Film Nina gezeigt wird. Das Mädchen war sieben Tage lang allein in einem Zimmer ohne Licht eingesperrt. Das einzige, was sie bekam, war Essen. Pro Tag kamen zwischen sieben und zehn Männer, die sie vergewaltigten. Sie erzählte jedem dieser „Kunden“, die 100 Peso (circa 17 Euro) bezahlten, dass sie gegen ihren Willen hier war, dass man sie entführt hat. Nur ein Mann vergewaltigte sie nicht, sondern erstattete Anzeige – ein einziger von circa siebzig. Sie wurde befreit und nach Paraguay zurückgebracht, da sie darauf bestand. Normalerweise wird in diesen Fällen empfohlen, den Frauen zuerst eine psychologische Behandlung zukommen zu lassen, da sie natürlich traumatisiert sind. Die meisten Frauen befreien sich, indem sie in einem Moment der Unaufmerksamkeit der Aufseher_innen aus dem Bordell flüchten.

Gibt es auch Fälle, in denen Familienangehörige Teil des Geschäfts sind?
Ja, oft sind es Familienangehörige, die ihre Kinder verkaufen. Meist sind es nicht die Eltern, oft aber Tanten oder Onkel. Oft sind die Familien Mittäter, und daher ist es auch schwierig bis unmöglich, die Opfer nach der Befreiung in ihr Herkunftsland zurückzubringen.

Wie bekannt ist die Einrichtung, in der Sie arbeiten?
Unser Haus ist einer der ersten Zufluchtsorte und ist nicht sehr bekannt, da der Ort der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist und zum Schutz der Opfer geheim gehalten werden muss.

Warum eröffnete die Stadtregierung den Zufluchtsort?
Der Bürgermeister von Buenos Aires, Mauricio Macri, war wegen des Gesetzes dazu gezwungen. Sobald der Nationalstaat in Argentinien ein landesweites Gesetz verabschiedet, werden die Provinzen verpflichtet, Gesetze in Abstimmung mit diesem zu erlassen. Die Stadt Buenos Aires musste daher ihr eigenes Menschenhandelsgesetz im gleichen Jahr verabschieden, in dem das Nationalgesetz beschlossen wurde. Bei diesem geht es hauptsächlich um Betreuung und Hilfe, da man weiß, dass Buenos Aires eine Empfängerstadt für Opfer ist. Auf Bundesebene soll die Nationalregierung einen Zufluchtsort für Opfer des Menschenhandels in der Stadt geschaffen haben, aber man weiß es nicht sicher, da keine Informationen preis gegeben werden. Bekannt ist, dass man befreite Opfer in Hotels brachte, um ihnen dort zwei oder drei Tage Beratung zu leisten. Was danach weiter mit ihnen passierte, weiß man nicht.

Was wäre Ihrer Meinung nach wichtig?
Für mich ist grundlegend, dass eine wirkliche politische Entscheidung zur Bekämpfung des Menschenhandels gefällt wird. Dies impliziert die Bereitstellung ökonomischer Ressourcen, gut ausgebildeten Personals und Büros in allen Provinzen, welche in dieser Thematik arbeiten, sowie die Säuberung der Polizei und vor allem, dass man die Zivilgesellschaft lehrt, dass Prostitution unvermeidlich zu Menschenhandel führt. Wenn es keine Nachfrage gibt, gibt es kein Angebot, so einfach ist es. Wenn es keine Männer gibt, die Frauen in Situationen der Ausbeutung konsumieren, ist kein Geschäft möglich. Für mich ist ein Umdenken in den Köpfen der Menschen fundamental.

Zur Person:

Victoria Vaccaro
ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet seit 2005 bei der Menschenrechtsorgainsation Instituto Social y Político de la Mujer (ISPM). Seit 2010 koordiniert sie die Verwaltungsaufgaben im Zufluchtsort, das von der Stadtregierung Buenos Aires für Opfer des Menschenhandels und der Zwangsprostitution eingerichtet wurde.

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