Nummer 426 - Dezember 2009 | Uruguay

„Pepe“ muss in die Stichwahl

José Mujica, der Kandidat der Mitte-Links-Koalition Frente Amplio, verpasste bei den Wahlen in Uruguay am 25. Oktober nur knapp die absolute Mehrheit

Bei den Präsidentschaftswahlen am 25. Oktober in Uruguay konnte kein Kandidat die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen. Nun müssen sich „Pepe“ Mujica von der regierenden Mitte-Links-Koalition Frente Amplio und sein Kontrahent, der konservative Luis Alberto Lacalle, am 29. November einer Stichwahl stellen.

Stefan Thimmel

Am 29. November kommt es in Uruguay zum Showdown. Dann müssen sich José „Pepe“ Mujica und Luis Alberto Lacalle einer Stichwahl stellen. Nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom 25. Oktober geht es laut den beiden Kandidaten nicht mehr vorrangig um links oder rechts, nicht um Frente Amplio gegen Blancos, sondern nur noch darum, wer der nächste Präsident aller UruguayInnen werden wird. Beide Lager packten schon am Wahlabend ihre Parteifahnen ein und legten sich die Nationalflagge über die Schulter.
Dass es an diesem Abend nicht klappen würde, war schon knapp zwei Stunden nach Schließung der Wahllokale klar. Die euphorische Stimmung der AnhängerInnen der Frente Amplio (Breite Front), die sich an der Uferpromenade in Montevideo versammelt hatten, um ihren neuen Präsidenten „Pepe“ Mujica zu feiern, kippte abrupt. Nach dem deutlichen Anstieg der Umfrageergebnisse für die Mitte-Links-Koalition und einer ausgelassenen Feierstimmung in den letzten Tagen vor der Wahl, hatten fast alle mit einem Sieg im ersten Durchgang gerechnet.
Entsprechend lang waren die Gesichter von José Mujica und Danilo Astori, dem Kandidaten für die Vizepräsidentschaft, am Wahlabend. Die erste Reaktion des ehemaligen Tupamaros Mujica in der Pressekonferenz war eine trotzige Durchhalteparole: „Wir sind Kämpfer. Niemand hat uns jemals etwas geschenkt, niemals“. Wenige Momente später hatte er sich wieder gefasst und rief seinen AnhängerInnen in einer Mischung aus Ärger und Kampfeswillen zu: „Jetzt werden wir zeigen, dass das Unmögliche zu erreichen noch etwas mehr an Anstrengung kostet und dass es mit euch möglich wird. Nicht Pepe wird gewinnen. Wer gewinnen wird, bist du“. Die Unterstützung der Basis werden Mujica und Astori dringend benötigen, denn 40.000 Stimmen gingen dem Parteienbündnis seit 2004 verloren. Das seit Gründung der Frente Amplio im Jahre 1971 scheinbar nicht zu stoppende Wachstum der Linken in Uruguay ist zum Erliegen gekommen.
Für das Tandem Mujica-Astori stimmten am 25. Oktober 48 Prozent der WählerInnen, 50 Prozent plus eine Stimme wären zum Sieg im ersten Wahlgang notwendig gewesen. Die konservativen Blancos mit ihrem neoliberalen Kandidaten Luis Alberto Lacalle erreichten 29 und die rechtsliberalen Colorados mit ihrem Spitzenkandidaten Pedro Bordaberry 17 Prozent. Auf die Asamblea Popular (Volksversammlung), die 2006 von aus der Frente Amplio ausgetretenen linken Parteien und Bewegungen gegründet wurde, fielen 0,6 Prozent der abgegebenen Stimmen, 2,5 Prozent machten ihr Kreuz bei der sich selbst als sozialdemokratisch bezeichnenden Unabhängigen Partei. Insgesamt also fast ein Patt: die Hälfte der UruguayerInnen wählte links, die andere Hälfte rechts.
Eines ihrer Wahlziele aber hat die Linke schon erreicht. In beiden Kammern des uruguayischen Parlaments konnte sie ihre Mehrheit verteidigen. In der Abgeordnetenversammlung stellt die Frente Amplio zukünftig 50 von 99 ParlamentarierInnen, im Senat erreichte sie 16 von 30 Sitzen. Wenn das Team Mujica-Astori am 29. November gewinnt, kommt noch ein Sitz für Astori hinzu, da der Vizepräsident dem Senat vorsteht. Die Blancos haben hingegen auf ganzer Linie verloren. Trotzdem feierten sie sich am Wahlabend selbst als Sieger, denn letztlich hatten die meisten mit einem direkten Durchmarsch von Mujica gerechnet. Aber in allen 19 Provinzen des Landes haben sie Stimmen verloren. Die Colorados, die zweite der beiden rechten „Traditionsparteien“, die seit der Unabhängigkeit 1828 abwechselnd den Präsident stellten, konnten sich dagegen von ihrem historischen Tief von 2004, als sie nur 10,4 Prozent der Stimmen erreichten, erholen.
Vor diesem Panorama bleiben Mujica jetzt knapp vier Wochen Zeit bis zur Stichwahl, in denen er seine AnhängerInnen motivieren und möglichst viele Wechsel- und NichtwählerInnen gewinnen muss. Und er befindet sich durchaus im Vorteil. Zwar kündigte der Kandidat der Colorados, der Sohn des ehemaligen Diktators Juan María Bordaberry, noch am Wahlabend seine Unterstützung für Lacalle an. Die Frente Amplio liegt jedoch über zwei Prozentpunkte vor der frisch vereinten Rechten. Die Anteile der beiden kleinen Parteien wird Mujica zu einem Teil für sich gewinnen können, auch wenn der harte Kern der Asamblea Popular lieber ungültig wählen wird, als für den „Verräter“ Mujica zu stimmen.
Mujica wird nun vor allem die Kontinuität der Politik des sehr populären amtierenden Präsidenten Tabaré Vázquez betonen. Seinem Kandidaten für die Vizepräsidentschaft, dem ehemaligen Wirtschafts- und Finanzminister (2005 bis 2008) Danilo Astori, wird in diesem Wahlkampf eine wichtige Rolle zufallen. Links der Frente ist kaum noch was zu holen, wie das Wahlergebnis der Asamblea Popular zeigt. Astori, der in der Regierung Vázquez für eine sozialdemokratische, wachstumsorientierte und US-freundliche Politik stand, genießt das Vertrauen der Wirtschaft und der Finanzwelt. Er wird vor der mit einem Präsidenten Lacalle drohenden Rückkehr zum Neoliberalismus der 1990er Jahre warnen. Allerdings steht auch Astori nicht für eine grundlegende Veränderung des Systems. Unter ihm werden wohl eher die kapitalistischen, marktorientierten Strukturen ausgebaut werden.
KritikerInnen innerhalb der Frente beobachten das eher beunruhigt. Sie werfen sowohl Mujica als auch Astori vor, zu wenig für eine wirkliche Umverteilung des in den letzten vier Jahren erreichten Reichtums getan und vor allem den Ausverkauf des Landes an multinationale Konzerne gefördert zu haben. Angesichts eines drohenden Wahlsiegs von Lacalle werden die internen KritikerInnen aber ausnahmslos Mujica und Astori unterstützen, zumindest bis zum 29. November. Auch die über 40.000 Stimmen aus der Mittelschicht, die vor allem in Montevideo verloren gingen, kann nur Astori zurückgewinnen.
Bei der Stichwahl, bei der wie in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen Wahlpflicht herrscht, ist zusätzlich mit zwei weiteren Phänomenen zu rechnen. Einmal werden WählerInnen der Frente, die zwar bei der Parlamentswahl ihre Parteiliste stärken wollten, „Pepe“ Mujica nicht wählen, da sie ihn für absolut nicht präsidiabel halten. Sie wollen sich international nicht von einem ungelernten Blumenzüchter und ehemaligem Stadtguerillero mit losem Mundwerk, der zudem ein schlechtes Spanisch spricht, repräsentiert sehen.
Auf der anderen Seite gibt es einige Sektoren der Nationalpartei und der Colorados, die zwar bei der Parlamentswahl die KandidatInnen ihrer Liste gewählt haben, aber auf keinen Fall bei der Stichwahl den ehemaligen Präsidenten Luis Alberto Lacalle wählen werden. Ihre Ablehnung liegt vor allem darin begründet, dass in dessen Amtszeit von 1990 bis 1995 unzählige Korruptionsfälle öffentlich wurden und Lacalle den Vorwurf, sich persönlich bereichert zu haben, nie entkräften konnte.
Indirekt ist jedoch der ehemalige Tupamaro Mujica selbst sein gefährlichster Gegner. Immer wieder läuft er aus dem Ruder: Noch im September beschimpfte er die SozialistInnen und KommunistInnen innerhalb der Frente Amplio, holte zu einem Rundumschlag gegen den argentinischen Nachbarn aus und bezweifelte die Notwenigkeit einer unabhängigen Justiz. Allerdings ist sein Konkurrent Lacalle genauso unberechenbar: Im Wahlkampf kündigte der Besitzer mehrerer Eukalyptus-Plantagen an, die Sozialausgaben mit der Motorsäge zu kürzen, die Armen nannte er „Penner“ und wollte sie mit Sanitäranlagen beglücken, damit sie sich endlich einmal waschen können. Den bescheidenen kleinen Bauernhof von Mujica bezeichnete der Eigner mehrerer Häuser und Apartments in Montevideo und Punta del Este angewidert als „Höhle“. So könnten sich die beiden gegenseitig dabei unter die Arme greifen, einander zu diskreditieren. Die entscheidende Frage ist, wer von beiden es schafft, die nötigen Wählerstimmen zu mobilisieren.
Mujica kann dabei auf einige eindeutige Erfolge in der Bilanz der Linksregierung verweisen. In viereinhalb Regierungsjahren stieg beispielsweise das Bruttoinlandsprodukt um 35 Prozent, es gab ein jährliches Wachstum von bis zu acht Prozent und eine Arbeitslosenquote von nur sieben Prozent Anfang 2009. Zudem stieg der Reallohn um 30 Prozent, der Mindestlohn wurde auf circa 140 Euro verdoppelt, der Bildungsetat fast verdreifacht und die Rechte der Gewerkschaften wurden deutlich gestärkt. Außerdem wurde ein Sozialministerium eingerichtet, das unter anderem einen Notstandsplan ins Leben rief, von dem zu Beginn der Regierung Vázquez circa 200.000 UruguayerInnen profitierten. Programme wie der Plan Ceibal, durch den über 360.000 GrundschülerInnen einen Laptop aus dem Projekt OLPC (One Laptop per Child) erhalten haben, werden international anerkannt und gelobt.
Ein wirklicher politischer und kultureller Wechsel in der uruguayischen Gesellschaft wurde jedoch nicht erreicht. Denn die Frente Amplio hat während der vergangenen Jahre ihre Integrationsfähigkeit verloren: Die tragende Säule des Wachstums der Linken in den letzten 25 Jahren, die Basiskomitees wurden entmachtet, von Partizipation gibt es keine Spur mehr. Der „Konsens im Dissens“ ist zerbrochen und eine (zwar noch eher marginale) organisierte Opposition links von der Frente Amplio ist entstanden. Zentrale Punkte im Programm des ältesten Linksbündnisses Lateinamerikas, eine Landreform, der (Wieder)Aufbau einer nationalen Industrie und eine anti-imperialistische Politik, wurden unter dem teilweise autoritär regierenden Präsidenten Vázquez nicht umgesetzt.
Inwieweit ein Präsident Mujica für einen Richtungswechsel eintritt, also zu den Prinzipien und Stärken der Frente Amplio zurückfindet, ist bei der politischen Unberechenbarkeit des „alten Anarchisten“, wie sich Mujica selbst nennt, völlig unklar. Außenpolitisch wird „Pepe“ sich sicher stärker seinen Kollegen Lula da Silva, Evo Morales und Hugo Chávez annähern. Und auch eine Verbesserung der Beziehungen zu Argentinien, die seit über drei Jahren wegen des Konflikts um die Ansiedlung einer Zellstofffabrik auf der uruguayischen Seite des Río Uruguay nahezu paralysiert sind, wird unter Mujica nicht lange auf sich warten lassen. Ob es aber auch wirtschafts- und sozialpolitisch einen „Linksruck“ geben wird, ist zu bezweifeln. Dass es dazu nicht kommt, dafür wird schon allein Danilo Astori sorgen, der nicht müde wird, die Erfolge der Regierung Vázquez zu betonen. Sein Einsatz wird im Falle von Mujicas Wahlsieg mit einer außerordentlichen Machtfülle belohnt werden.

Kasten:
Kein Ende der Straflosigkeit – Referendum gescheitert
Ebenfalls am 25. Oktober stimmten die UruguayerInnen in einem Referendum über die Annullierung des so genannten Gesetzes über die Nichtigkeit des Strafverfolgungsanspruchs des Staates für während der Militärdiktatur (1973 bis 1985) von Polizei und Militärs begangenen Verbrechen ab. 47 Prozent der Bevölkerung sprachen sich für ein Ende der Straflosgkeit aus. Damit wurde jedoch eine Mehrheit verfehlt und das Gesetz bleibt weiterhin in Kraft. So wurde eine historische Chance verpasst, endlich die Verbrechen der Diktatur aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
1989 wurde schon einmal in einer Volksabstimmung über das 1986 verabschiedete Gesetz abgestimmt. Damals war die Angst vor einer Rückkehr des Staatsterrors innerhalb der Bevölkerung noch präsent. Und die damalige rechte Regierung unter Julio María Sanguinetti schürte diese Angst geschickt. Trotzdem stimmten schon damals 43 Prozent der UruguayerInnen für die Abschaffung des mit den Militärs ausgehandelten Gesetzes.
20 Jahre später hatten Angehörige von Opfern, Menschenrechtsorganisationen, Basiskomitees und Gewerkschaften zwei Jahre lang massiv für das „Ja“ gegen das von Juristen als verfassungswidrig eingestufte Gesetz mobilisiert. In einer Kampagne wurden Tür um Tür 340.000 Unterschriften für ein erneutes Referendum gesammelt. Das die Mehrheit diesmal so knapp verfehlt wurde, ist eine bittere Niederlage für die BefürworterInnen der Strafverfolgung.
Dafür machen sie auch die amtierende Linksregierung mitverantwortlich, der sie mangelnde Unterstützung vorwerfen. Weder der Präsident Tabaré Vásquez, der sich schon zu Beginn seiner Amtszeit gegen ein erneutes Plebiszit ausgesprochen hatte, noch José Mujica, der Präsidentschaftskandidat der Frente Amplio, engagierten sich in der Kampagne für das „Sí“ zur Aufhebung des Gesetzes. So ging die Initiative im Wahlkampfgetöse unter.
Dabei gab es nur sechs Tage vor der Wahl eine unerwartete Argumentationshilfe: Einstimmig erklärte der Oberste Gerichtshof das Gesetz für verfassungswidrig. Obwohl diese Entscheidung nur für den Fall der 1974 von Militärs ermordeten 24-jährigen Nibia Sabalsagaray, einer in der kommunistischen Jugend aktiven Lehrerin, gilt, war es doch eine wichtige Grundsatzentscheidung. Zudem wurde am 22. Oktober der ehemalige Diktator Gregorio Álvarez zu 25 Jahren Haft verurteilt. Eine komplett andere Ausgangssituation als 1989.
Die strafrechtliche Verfolgung aller Verbrechen von Polizei und Militärs in Uruguay lässt also weiter auf sich warten. Bei den wenigen Fällen, die während der letzten vier Jahre juristisch verfolgt wurden, machte Tabaré Vázquez von seinem präsidialen Recht Gebrauch, einzelne Fälle aus dem Gesetz über die Straflosigkeit herauszunehmen.
Und auch eine Debatte über die Post-Diktatur-Zeit in Uruguay und über ein demokratisches System, das auch die Menschenrechte zu seinen Grundlagen zählt und nicht nur die Spielregeln bei Wahlen beherrscht, steht insofern immer noch aus.
Die Frente Amplio kann mit ihrer wiedererlangten Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments das Gesetz einfach abschaffen. Dazu hatte sie schon seit März 2005 die Gelegenheit. Es wird spannend, ob „Pepe“ Mujica, so er denn zum Präsidenten gewählt wird, das unterstützen wird. Oder ob er wie sein Vorgänger der Meinung sein wird, dass es nicht um die Bewältigung der Vergangenheit, sondern um Versöhnung geht. Dass das eine ohne das andere zu haben ist, bezweifeln nicht nur die Menschenrechtsorganisationen und die Familienangehörigen der über 200 Verschwundenen in Uruguay, sondern zumindest auch 47 Prozent aller UruguayerInnen.


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