Planungsfieber im Chocó-Regenwald
Das Armenhaus Kolumbiens soll zur globalen Genbank werden
Wie so oft nach einem harten Arbeitstag treffen sich die Goldschürfer von Andagoya vor der Hütte von “Dona Ortelia” und läuten mit selbstgebranntem Zuckerrohrschnaps das Wochenende ein. Einige haben noch die bateas, die aus Holz geschnitzten runden Schürfgefäße unter dem Arm. Nach ein paar Minuten des Schweigens kommt das Gespräch auf die guten alten Zeiten, als noch die nordamerikanische Goldkompanie an den Regenwaldflußläufen rund um Andagoya aktiv war. “Damals ging es dem Dorf besser”, weiß der alte Valerio zu berichten. “Es gab genügend Arbeit, und wir hatten das beste Krankenhaus im ganzen Chocó, zu dem die Leute sogar aus Quibdó, der Hauptstadt des Departments, kamen.”
Heute dagegen wirkt Andagoya wie ein aussterbendes Dorf. Für die meisten Leute reichen die Einkünfte höchstens noch zum nackten Überleben. Als sich das nordamerikanische Goldunternehmen 1978 mitsamt seiner großen Maschinen zurückzog, standen die über 2.500 Beschäftigten plötzlich ohne Arbeit da. Zwar wurde versucht, durch die Nationalisierung des Unternehmens die Förderaktivitäten fortzusetzen. Doch konnte nur ein kleiner Teil der Beschäftigten übernommen werden. Die meisten mußten sich nach anderen Überlebensmöglichkeiten umsehen.
Doch die Landwirtschaft, die vor der Ankunft des Goldunternehmens im Jahre 1914 die Lebensgrundlage der Menschen darstellte, ist heute an vielen der durch den industriellen Goldabbau quecksilberverseuchten Flußläufe nicht mehr möglich. Wer nicht abwandern und anderswo sein Glück versuchen will, dem bleibt nur der Griff zur batea, um per Hand nach den kärglicher werdenden Goldvorkommen zu schürfen, oder sich von dem chocótypischen weitverzweigten Verwandschaftssystem auffangen zu lassen.
Enormer Reichtum –
aber für wen?
Das Beispiel Andagoya ist typisch für den Chocó. Seit Jahrhunderten haben immer wieder nationale und internationale Unternehmen den enormen Ressourcenreichtum des Regenwaldgebietes genutzt. Es wurde Holz geschlagen und nach Gold, Platin und Silber geschürft. Die Gewinne dieses Raubbaus kamen aber nie der Pazifikregion zugute. Nach dem Abzug der diversen Unternehmen war die Bevölkerung immer wieder gezwungen, zur Subsistenzwirtschaft zurückzukehren. Diese besteht aus einer Kombination von Ackerbau, Fischfang und der begrenzten Nutzung von Holz und Edelmetallen. Auf diese Weise sichert sich die schwarze Bevölkerung des Chocó seit dem Ende der Sklaverei 1852 das Überleben.
Eine ernsthafte staatliche Unterstützung zur Verbesserung der Lebensbedingungen, zum Beispiel in Form von Förderungen im Gesundheits-, Bildungs- oder wirtschaftlichen Bereich, hat es nie gegeben. Dadurch hat sich im Chocó eine eigene, vom Rest des Landes deutlich unterschiedliche Lebens- und Wirtschaftsweise entwickelt. Diese ist von Gemeinschaftsarbeit und nachbarschaftlicher wie verwandschaftlicher Solidarität geprägt. Die Weitergabe von Besitz erfolgt durch mündliche Vererbung, was seit Generationen reibungslos funktioniert.
Die kolumbianische Regierung hat das traditionelle Besitzrecht der schwarzen Bevölkerung nie respektiert. 1959 wurden große Teile der Pazifikküste wie unbewohntes Land behandelt und zum nationalen Waldreservat erklärt. Staatliche Institutionen begannen, Konzessionen zum Holzeinschlag und zur Ausbeutung von Bodenschätzen zu vergeben. Als dies in den achtziger Jahren auch am dichtbesiedelten “Mittleren Atrato” passieren sollte, setzten sich die BewohnerInnen zur Wehr. Um den Verlust ihrer Lebensgrundlage zu verhindern, gründeten sie 1984 die Bauernorganisation ACIA (Asociación Campesina Integral del Atrato). Dies war der Beginn des Organisationsprozesses der schwarzen Bevölkerung des Chocó.
In den folgenden Jahren kam es im ländlichen Raum zur Gründung weiterer regionaler Bauernorganisationen, wie etwa der Campesinos vom Rio Baudo (ACABA) und vom Rio San Juan (ACADESAM). Mit der OBAPO (Organización de los Barrios Populares del Chocó) formierte sich 1987 auch eine in den Städten arbeitende Basisbewegung. Neben der Verteidiung des Bodenbesitzes setzten sich alle Organisationen auch für die Anerkennung der Schwarzen Kolumbiens als ethnische Gruppe mit eigenen kulturellen Rechten ein.
Der Chocó:
Eldorado für Großprojekte?
Der Zeitpunkt des Organisationsprozesses hängt auch damit zusammen, daß der Chocó in den achtziger Jahren in den Mittelpunkt nationaler und internationaler Planungsinteressen gerückt war. Unter der Regierung Barco wurde Ende der achtziger Jahre der “Entwicklungsplan 2000” für die Pazifikküste vorgestellt. Durch gigantische Infrastrukturprojekte, wie der Ausbau der Panamericana, die Errichtung von Großstaudämmen zur Energieerzeugung und der Bau von Tiefseehäfen, sollte der potentielle Reichtum der Region nutzbar gemacht werden.
Dies stieß zum einen auf den Widerstand der Basisorganisationen. Aber auch die Finanzierungsaussichten waren nicht sehr gut, da internationale Geldgeber mittlerweile Großprojekten gegenüber skeptischer waren.
1992 legte das staatliche Planungsinstitut DNP unter dem Namen “Plan Pacifico – eine neue Strategie für eine nachhaltige Entwicklung der kolumbianischen Pazifikküste” ein überarbeitetes Konzept für die Pazifikregion vor. Die dort formulierten Vorhaben klingen weniger brachial. Der Text ist, ganz im Trend des aktuellen entwicklungspolitischen Diskurses, mit Begriffen wie “Basispartizipation”, “Berücksichtigung ökologischer Aspekte” und “angepaßte nachhaltige Entwicklung” gespickt. Neben den traditionellen Infrastrukturprojekten wie Bau von Straßen, Häfen oder Stromleitungen werden im “Plan Pacifico” auch Projekte in den Bereichen “soziale Infrastruktur” und “Umweltinfrastruktur” aufgeführt.
Aber auch diese Pläne, die teilweise schon seit Jahren in den Schubladen verschiedener Institutionen liegen, die für den Chocó zuständig sind, werden von den Basisorganisationen kritisiert. Ihrer Ansicht nach sind sie weniger für die Bevölkerung des Chocó als für die internationalen Geldgeber verfaßt. Denn eine Beteiligung der betroffenen Bevölkerungsgruppen und der Basisbewegungen hat es bei keinem der anvisierten Projekte gegeben.
Deshalb sehen viele im Chocó mit einem lachenden und einem weinenden Auge, daß auch für die Vorhaben des “Plan pacifico” bisher keine Geldmittel bereitsgestellt wurden.
Der Wind von Rio:
“Plan Biopacifico”
Tatsächlich in Gang gekommen ist nun aber ein UNO-Projekt, dessen Umsetzung auf dem Umweltgipfel in Rio beschlossen wurde und das mit 9 Millionen Dollar aus dem Weltumweltfond GEF finanziert wird: Der “Plan Biopacifico”. Offiziell formuliertes Ziel ist, das neben dem Amazonas artenreichste Regenwaldgebiet der Welt vor Kahlschlag zu bewahren und Möglichkeiten für eine schonende Nutzung der Ressourcen zu erarbeiten.
Der Plan soll in mehreren Phasen umgesetzt werden. Zunächst wird in einer Art Bestandsaufnahme die bisher in wissenschaftlichen Kreisen zu großen Teilen noch unbekannte Flora und Fauna der kolumbianischen Pazifikregion systematisch erfaßt. An dieser Arbeit sollen die in der Pazifikregion lebenden Schwarzen und Indígenas beteiligt werden. Gerade letztere verfügen bezüglich der Tier- und Pflanzenwelt über enormes Wissen.
In einem zweiten Schritt geht es darum, Konzepte zu erarbeiten, wie die erforschte Artenvielfalt ökonomisch genutzt werden kann. Dabei sollen Nutzungsmöglichkeiten auf lokaler, regionaler, nationaler und internationale Ebener abgeschätzt und entsprechende Wirtschaftzskonzepte erarbeitet werden. Der letzte Schritt beinhaltet logischerweise die konkrete Umsetzung dieser Erkenntnisse.
Auch im “Plan Biopacifico” ist immer wieder von der nachhaltigen und schonenden Nutzung der Umwelt die Rede und davon, die lokale Bevölkerung in alle Schritte des Projektes miteinzubeziehen.
Imperialisten im Umweltmäntelchen?
Gerade die Glaubwürdigkeit dieses letzten Punktes muß aber stark angezweifelt werden. Erst auf massiven Druck der Volksorganisationen des Chocó fand im Herbst 1993 ein “Bio-Pacifico-Workshop” statt. Erst bei dieser Gelegenheit wurden sie vom nationalen “PBP”-Koordinatior über die näheren Planungen und Ziele informiert, von Mitbestimmung ganz zu schweigen.
Im Chocó gehen die Einschätzungen, was denn von diesem so wohlklingenden und im Umweltmäntelchen daherkommenden Plan zu halten ist, deutlich auseinander. Die einen sehen im “Plan Biopacifico” eine nahtlose Fortsetzung der altbekannten Ausbeutungspolitik, nur daß es diesmal nicht um Holz oder Edelmetall, sondern um die genetischen Ressourcen der Pflanzen geht. Die KritikerInnen fürchten, daß das Hauptziel des Projektes darin besteht, die Artenvielfalt der Region zu erforschen und in die Gendatenbanken der Industrieländer zu verfrachten. Von ihrer Ursprungsregion abgekoppelt, könnten mit dem pflanzlichen Erbgut im Pharma- und Gentechnikbereich enorme Gewinne erzielt werden.
Die SkeptikerInnen halten es für naiv, zu glauben, daß die internationalen Geldgeber aus reiner Gutmütigkeit und Menschenliebe an einer Verbesserung der Lebensbedingungen der lokalen Bevölkerung interessiert seien. Befürchtet wird, daß die Bevölkerung des Chocó letztlich, trotz vollmundiger Ankündigungen, erneut leer ausgehen wird. In der versprochenen Mitbestimmung wird vor allem eine Taktik gesehen, um das Wissen der Bevölkerung über Flora und Fauna auszunutzen. Deshalb fordern sie, den ganzen Plan abzulehnen und eine Beteiligung zu boykottieren.
Es gibt aber auch Stimmen, die mit dem “PBP” die Hoffnung verbinden, tatsächliche Verbesserungen der Lebensbedingungen in der Region erreichen zu können. Im Rahmen eines solchen Projektes könne die Bevölkerung zum Beispiel für die Bedeutung und den Reichtum sensibilisiert werden, den die enorme Artenvielfalt der Region in der mordernen Welt darstellt. Außerdem sei das Geld für das Projekt ja schon bewilligt, seine Durchführung dadurch auch praktisch nicht mehr zu verhindern. Daher sollten die Basisorganisationen versuchen, möglichst großen Einfluß auf die konkrete Ausgestaltung des Plans zu bekommen.
Die Indígenas des Chocó – vertreten durch ihre Organisation OREWA – stehen dem Plan tendenziell kritischer gegenüber als die Schwarzen. Dies liegt vor allem daran, daß sie aufgrund ihrer Lebensweise direkter von dem labilen Ökosystem des Regenwaldes abhängig sind. So haben sie zum Beispiel beim Bau der Straße Medellin – Quibdó die schmerzvolle Erfahrung gemacht, daß schon geringe Eingriffe in dieses Ökosystem ihre Lebensgrundlage gefährden.
“Plan Biopacifico” –
das kleinstmögliche Übel?
Bei der Einschätzung, was für Interessen und Ziele denn tatsächlich mit dem “PBP” verbunden sind, ist es mit Sicherheit sinnvoll, noch einige Fakten über sein Zustandekommen zu nennen: Der Plan Biopacifico wurde 1990 nachweislich auf Initiative von Gentechnik und Pharmaunternehmen von der Weltbank erarbeitet. Finanziert wird er aus dem im gleichen Jahr gegründeten Weltumweltfond GEF (Global Environmental Facility), der organisatorisch dem IWF angegliedert ist und von 21 Industrienationen getragen wird. Die konkrete Ausführung von GEF-finanzierten Projekten liegt in den Händen der Entwicklungsprogramme der Vereinten Nationen. Diese Organisationsstruktur führt dazu, daß die “Entwicklungsländer”, auf deren Territorien die Projekte dann stattfinden, während der gesamten Planungs- und Initialphase der Projekte keine Einflußmöglichkeiten haben.
Der “Plan Biopacifico” wurde nicht für die Bevölkerung des Chocó geschrieben. Allerdings stellt sich die Frage, ob nicht das weltweite Interesse an der Artenvielfalt der Region mit den Interessen der lokalen Bevölkerung nach dem Erhalt ihres Lebensraumes zumindest vorübergehend einhergehen könnte. Vielleicht stellt der Plan Biopacifico im Vergleich zu der sonst drohenden weiteren Vergabe von Holzkonzessionen das kleinere Übel dar.
Zudem stehen die Basisorganisationen des Chocó vor dem Dilemma, einerseits eine Entwicklung und das Ende der extremen Marginalisierung der Region zu wollen, gleichzeitig aber immer wieder mit Projektvorschlägen konfrontiert zu werden, auf die sie selber keinen Einfluß nehmen können. Im Fall des “Plan Biopacifico” wird ihnen nun auch kaum etwas anderes übrig bleiben, als zu versuchen, ihre Interessen möglichst stark in die konkrete Projektgestaltung einfließen zu lassen.
Kasten:
Der Chocó : tropischer Reichtum und soziales Elend
Das feuchtheiße tropische Regenwaldgebiet ist mit 10.000 Millimeter pro Jahr eines der niederschlagreichsten Gebiete der Erde. Es existiert ein enormer biologischer Artenreichtum, der aufgrund der marginalen Lage noch relativ gut erhalten ist. Auch Bodenschätze sind reichlich vorhanden, insbesondere Gold, Silber und Erdöl, doch kaum erschlossen. Insgesamt existieren nur knapp 600 Kilometer asphaltierte Straße. Haupttransport- und Kommunikationsmittel sind die ca. 1675 Kilometer Flußläufe.
Die Bevölkerung besteht zu 90 Prozent aus Schwarzen, 4 Prozent Indígenas, 6 Prozent Weißen und Mulatten. Der Grund: Als im 16./17. Jahrhundert mit der Ausbeutung der Goldvorkommen begonnen wurde, verschleppten die Spanier massenweise Sklaven aus Westafrika in den Chocó.
Der Chocó ist das mit Abstand ärmste der 22 Departamente Kolumbiens. Das Bruttoinlandprodukt beträgt die Hälfte des Landesdurchschnitts. Die Kindersterblichkeit bis zum 4. Lebensjahr liegt bei 181 auf 1.000 Geburten; auf 10.000 EinwohnerInnen kommt nur ein Arzt. Über 80 Prozent der Haushalte sind ohne Wasseranschluß und Kanalisation.