Plötzlich staatenlos
Nach einer rassistischen Gesetzesänderung wird den Nachfahren haitianischer Immigrant_innen die Staatsbürgerschaft entzogen
Plötzlich war Juliana Dequis Pierre staatenlos. Der 29-jährigen Frau wurde am 23. September 2013 vom Obersten Verfassungsgericht (TC) die dominikanische Staatsbürgerschaft aberkannt, weil sich ihr Vater illegal im Land aufgehalten habe. Elf der 13 Richter bestätigten damit das Urteil eines ländlichen Zivilgerichtes.
Der Weg von Juliana Dequis Pierre durch die juristischen Instanzen begann vor elf Jahren, als sie mit 18 Jahren einen Personalausweis beantragte. Auf dem Standesamt wurde ihr kurzerhand das Original der Geburtsurkunde weggenommen, die Ausstellung eines Ausweises verweigert.
„Das Vorgehen war illegal“, urteilt ihr Anwalt Genardo Rincón von der Rechtsberatung der Sozial-kulturellen Bewegung haitianischer Arbeiter in der Dominikanischen Republik (MOSCTHA). Weil ein Zivilgericht das Vorgehen des Standesbeamten absegnete, verklagte er den dominikanischen Staat vor dem Verfassungsgericht. „Es gibt keinen Zweifel an der dominikanischen Nationalität“, erläutert Rincón.
„Von dem Urteil werden mindestens eine Viertelmillion haitianisch-stämmiger Bewohner der Dominikanischen Republik betroffen sein“, fürchtet der Jurist Genardo Rincón. Zusammen mit seinem Kollegen Manuel de Jesús Dandré vertritt Rincón, selbst Nachkomme einer haitianischen Familie, Juliana Dequis Pierre in ihrem Rechtsstreit mit dem dominikanischen Staat.
„Die Zahl könnte sich sogar noch verdoppeln oder verdreifachen“, glaubt Dandré. „Sogar zwei Richter des Verfassungsgerichts könnten bei exzessiver Auslegung der Neuregelung von ihrer eigenen Entscheidung betroffen sein.“ Nach Bestimmungen des Gesetzes müsste sogar eine historische Persönlichkeit des Landes die Staatsangehörigkeit aberkannt bekommen: der Sozialdemokrat José Francisco Peña Gómez. Die Vorfahren des mehrmaligen Präsidentschaftskandidaten der sozialdemokratischen Dominikanischen Revolutionären Partei (PRD) wanderten aus Haiti ein, er selbst wurde am 6. März 1937 auf dominikanischem Staatsgebiet geboren. Zu seinen Lebzeiten spielte die rassistische Rechte im Wahlkampf die Diffamationskarte der „haitianischen Vorfahren“ gerne aus, um Ressentiments gegen ihn zu schüren.
Der Vater von Juliana Dequis Pierre kam 1970 im Alter von 15 Jahren mit einer Arbeitserlaubnis aus Haiti in den Osten der Insel, ins Batey Los Hobillo de Yamasá, um auf den Zuckerrohrfeldern die süßen Stangen für wenig Geld im Akkord zu schlagen. Er ist nie mehr ins Land seiner Eltern zurückgekehrt. Seine jetzt staatenlose Tochter spricht Kreyól nur mangelhaft, wie sie erzählt. „In Haiti war ich noch nie. Wir haben keine Verwandten mehr dort. Sie sind alle hier im Land geboren oder gestorben.“
Das Gericht hat Juliana Dequis Pierre zwar die Möglichkeit eingeräumt, eine ordentliche Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen. Ansonsten stellt sich der dominikanische Staat aber mit Hinweis auf die geänderte Verfassung, die „wortwörtlich eingehalten werden müsse“ stur.
„Wie kann so was sein?“, fragt Dequis Pierre immer wieder fassungslos. „Ich hatte doch eine dominikanische Geburtsurkunde. Mein Vater hatte mich nach der Geburt offiziell registrieren lassen.“ Rechtsgrundlage für die Ausstellung des Geburtsnachweises war damals das „ius soli“, das Recht des Bodens. Nach diesem Verfassungspassus hatte jede_r, der auf dominikanischem Territorium geboren wurde, einen Anspruch auf die Staatsbürgerschaft, ausgenommen Kinder von Diplomaten_innen oder Personen „im Transit“. Dieses Gesetz wurde jedoch im Jahre 2010 – mit Blick auf die haitian@s – gezielt so modifiziert, dass die haitianischen Arbeitsmigrant_innen ohne Aufenthaltsgenehmigung als „Illegale“ gelten und deshalb der Verfassungsgrundsatz nicht mehr auf sie angewandt werden kann. Pierres Vater habe keine Aufenthaltsgenehmigung besessen, bestätigten die Verfassungsrichter_innen und wendeten das neue Gesetz rückwirkend auf Pierre an.
Der Fall der 29-jährigen Mutter von vier Kindern macht seit der Veröffentlichung international Schlagzeilen und sorgt für hitzige Diskussionen, auch in der Dominikanischen Republik. Nationalist_innen feiern die Entscheidung des Verfassungsgerichts als Sieg der „nationalen Souveränität“. Das Oberste Verfassungsgreicht sei ein Bollwerk „gegen ausländische Einmischung“, den Kritiker_innen gehe es darum, das „Land mit Haiti zusammenzuschließen“, schimpft der Parlamentsabgeordnete Pelegrín Horacio Castillo Semán.
Der 57-jährige Jurist ist Chef der rechtsnationalistischen Nationalen Progressiven Kraft (FNP), die mit der regierenden Partei der Dominikanischen Befreiung (PLD) verbündet ist. Die neoliberale, Partei wurde einst vom linken Staatschef und Literaten Juan Bosch gegründet. Auf dem Weg der Machteroberung und -erhaltung ist sie immer weiter nach rechts gerückt, weil sie auf die bürgerlichen Kreise in Abgrenzung zur Sozialdemokratie des Landes angewiesen ist.
Der dominikanische Kardinal Nicolás de Jesús López empört sich vor der dominikanischen Presse. Als der 65-jährige Nuntius des Vatikans, Jozef Wesolowski, als notorischer Kinderschänder enttarnt wurde, hatte López diskret geschwiegen. Doch nun redet er wutentbrannt vor der dominikanischen Presse. In der Tageszeitung El Caribe bezeichnete er Nichtregierungsorganisationen, die das Urteil kritisierten, als „eine Plage“, die geschickt worden seien, „um das Land zu diskreditieren.“
Die Lügner_innen und Scharlatane sind nach Meinung des Kirchenmannes Amnesty International (AI), die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH) und im Land aktive Menschenrechtsorganisationen, die sich um die Rechte der haitianischstämmigen Minderheit kümmern. Sie kritisieren vor allem, dass die Entscheidung rückwirkend von 1929 bis 2010 angewandt wird. Dadurch würden Zehntausende in der Dominikanischen Republik geborene Personen ihre dominikanische Staatsbürgerschaft verlieren. In einer ersten Stellungsnahme prangerte die CIDH dieses Vorgehen als „Verletzung der internationalen Verpflichtungen“ des Landes an.
„Das Urteil des dominikanischen Verfassungsgerichts ist eine juristische Fehlleistung, die – so scheint es –, direkt von den berühmten hitlerschen Gesetzen inspiriert ist, die in den 1930er Jahren von deutschen Nazi-Richtern gefällt wurden, um Juden (…) ihrer deutschen Staatsbürgerschaft zu berauben“, empörte sich sogar der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa, der nicht gerade linker Positionen verdächtig ist, in einer Kolumne für die spanische Tageszeitung El País.
Inzwischen hat die Oberste Wahlbehörde, die das standesamtliche Register des Landes führt, auf der Grundlage des Verfassungsurteils alle Regional- und Lokalbüros angewiesen, ihre Personenstands- und Wahlregister bis zum 21. Juni 1929 „minutiös“ zu durchforsten und alle „verdächtigen Fälle“ der vorgesetzten Behörde zu melden.
Dass hierbei eher nicht spanisch klingende Namen durchs Raster fallen, hat sich schon in der Vergangenheit des Landes gezeigt. Personen mit haitianisch klingenden Namen seien immer wieder von der Einwanderungsbehörde bei Straßenkontrollen, trotz ordentlicher Ausweispapiere, festgenommen und einfach nach Haiti abgeschoben worden, klagt die Sprecherin der Bewegung dominikanisch-haitianischer Frauen (MUDHA), Liliana Dolis. Oft waren es Menschen in der dritten und vierten Generation, die zwar haitianische Vorfahren hatten, aber weder zum Nachbarland familiäre Verbindungen hatten noch das dortige Kreyòl sprachen.
Der Antihaitianismus hat in der Dominikanischen Republik eine lange Tradition und gründet sich in der Entstehungsgeschichte des Landes. Nachdem sich die Sklav_innen in der französischen Kolonie auf der Westseite der zweitgrößten Karibikinsel erhoben und am 1. Januar 1804 den ersten unabhängigen Staat Lateinamerikas gegründet hatten, wollten sie auch den hispanisch geprägten Osten der Insel befreien. Die staatliche Unabhängigkeit am 27. Februar 1844 erzielten die Menschen jedoch im Kampf gegen die haitian@s. Die Ablehnung kulminierte in einem Massaker, als der Diktator Rafael Léonides Trujillo Molina zur „Dominikanisierung“ des Grenzgebietes mindestens 17.000 haitian@s massakrieren ließ.
Trotzdem wurden danach haitianische Männer als billige Arbeitskräfte auf den Zuckerrohrfeldern eingesetzt. Viele blieben und gründeten Familien. Sie meldeten ihre Kinder an, die so zu dominikanischen Staatsbürger_innen wurden. Heute leben eine halbe bis eine Million Haitianer_innen oder deren Nachfahren in der Dominikanischen Republik.
„Vielleicht besteht ja noch Hoffnung“, sagt Rincón. Staatspräsident Danilo Medina habe zwar eine „menschliche Lösung“ versprochen. Trotzdem werde er mit seinem Anwaltskollegen den „Fall Juliana Dequis Pierre gegen die Dominikanische Republik“ vor den Interamerikanischen Menschengerichtshof in San José, Costa Rica, bringen. „Dort hat die Dominikanische Republik bereits mehrere Fälle wegen Verweigerung der Staatsbürgerschaft verloren“, sagt Genardo Rincón. Der Gerichtshof kritisierte und verurteilte das Land 2012 im Fall „Benito Tide Méndez und andere“ wegen Diskriminierung. Jedoch ignorierten die nationalen Gerichte den interamerikanischen Richterspruch. Die Weigerung ist eine offensichtliche Rechtsverletzung. Die Einwanderungsbeamt_innen hatten einfach die Ausweispapiere von Benito Tide Méndez zerstört und sie als illegal erklärt. Weitere Fälle sind nach wie vor in San José de Costa Rica anhängig.
Die dominikanische, nationalistische Rechte macht derweil weiter mobil. Während das Bündnis dominikanischer Menschenrechtler_innen und Linker immer breiter und die Kritik aus dem Ausland immer lauter wird, mehren sich die Reaktionen der Nationalist_innen auch auf der Straße. Vor dem Mausoleum der Staatsgründer Juan Pablo Duarte, Ramón Mella und Francisco Sánchez forderten sie in Sprechchören den Tod von Parlamentsabgeordneten, Journalist_innen und politischen Menschenrechtsaktivist_innen, die sich für die von der Justiz illegalisierten haitian@s einsetzen. In einer Fahndungsliste werden die „Staatsfeinde“ öffentlich genannt und mit Foto abgebildet. „Ihr habt das Vaterland verraten, schädigt unserem Ruf, beeinträchtigt Investitionen, den Tourismus, die Wirtschaft und den guten Ruf der Dominikaner“, heißt es in der Schmähschrift.
Die Nachfahren der Indigenen – die taínos waren aus dem Orinoco-Becken auf die unbewohnte Insel eingewandert – wurden bereits wenige Jahre nach Beginn der conquista vernichtet. Die Vorfahren der heutigen dominican@s wurden als Sklav_innen aus Westafrika auf die zweitgrößte Karibikinsel verschleppt. Schon Frantz Fanon hat in seinem Buch „Schwarze Haut, weiße Masken“ vom Selbsthass der Kolonialisierten geschrieben. „Der schwarze Mensch erscheint aus der Perspektive des Weißen als minderwertig, aber umgekehrt ist der Weiße mit seinen ‚Errungenschaften‘ Zivilisation, Kultur, kurz Intellekt, nachahmenswert.“ Die haitian@s mit ihrer „schwarzen Haut“ stellen all das dar, was diese „weißen Masken“ an sich selbst hassen.