Nummer 474 - Dezember 2013 | Paraguay

Kolumbianische Schule

Mit der neuen Regierung nimmt die Kriminalisierung von sozialen Bewegungen in Paraguay zu. Aktivist_innen befürchten kolumbianische Verhältnisse

Seit drei Monaten ist der neue paraguayische Präsident Horacio Cartes im Amt. Bereits in dieser kurzen Zeit bestätigten sich die meisten Befürchtungen von Oppositionellen, linken Aktivist_innen und Gewerkschafter_innen. Mit dem Verweis auf die Guerilla EPP kriminalisiert die Regierung zunehmend soziale Proteste.

Thilo F. Papacek

Alles scheint wieder in geregelten Bahnen zu laufen in Paraguay. Am 15. August übernahm der Präsident Horacio Cartes von der Alianza Nacional Republicana, den Colorados, die Regierung. Damit sieht es so aus, als sei das Land wieder zur verfassungsmäßigen Ordnung zurückgekehrt.
Dies erkannten jedenfalls die Nachbarländer so an. Nach der umstrittenen Absetzung von Präsident Fernando Lugo im Juni 2012 setzte das Wirtschaftsbündnis MERCOSUR zunächst die Mitgliedschaft Paraguays aus (siehe LN 467). Den Übergangspräsidenten Federico Franco erkannte der MERCOSUR nie richtig an. Mit der Wahl von Cartes ist diese Episode nun vergessen. Paraguay soll das Bündnis im Dezember sogar bei den Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit der EU vertreten.
Die meisten linken Aktivist_innen, Oppositionellen und Gewerkschafter_innen Paraguays sehen dies anders. Bevor sie eine Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung akzeptieren, fordern sie eine Aufklärung der Geschehnisse von Curuguaty. Am 15. Juni war es in der Gemeinde im Osten Paraguays auf der besetzten Farm Marina Kué zu einem gewaltsamen Zusammenstoß zwischen Kleinbäuerinnen und -bauern und der Polizei gekommen. Die Besetzer_innen verlangten eine Enteignung der Farm, da sie den inzwischen verstorbenen Unternehmer Riquelme Blas beschuldigten, sich diese illegal angeeignet zu haben. Bei der Räumung war es zu einer Schießerei gekommen, bei der mindestens 17 Personen starben. Die Opposition im paraguayischen Kongress hatte den Gewaltausbruch genutzt, um den linken Präsidenten Fernando Lugo im Schnellverfahren abzusetzen (siehe LN 457/458).
Noch immer ist nicht völlig gesichert, was in Curuguaty wirklich geschah. Nach der offiziellen Version begannen einige Besetzer_innen, auf die Polizei zu schießen, die sich dann nur wehrte. Die meisten unabhängigen Untersuchungen von Menschenrechtsgruppen, wie der paraguayischen Koordination für Menschenrechte CODEHUPY, deuten dagegen darauf hin, dass Unbekannte das Feuer aus einem Hinterhalt eröffneten. Danach sei die Polizei mit großer Brutalität gegen die Besetzer_innen vorgegangen und habe mehrere unbewaffnete Personen regelrecht hingerichtet. Eine gerichtliche Aufarbeitung wird dadurch behindert, dass viele Besetzer_innen, die als Zeug_innen aussagen könnten, weiterhin inhaftiert sind. Vidal Vega, einen Bauernaktivisten, der zur Aussage gegen die Polizei bereit war, traf es noch schlimmer: Er wurde am 1. Dezember 2012 ermordet (siehe LN 463).
Inzwischen haben vor allem Student_innen und junge Aktivist_innen die Bewegung 138 gegründet. Der Name bezieht sich auf einen Artikel in der paraguayischen Verfassung, der die Pflicht zum Widerstand mit allen Mitteln vorsieht, sollte eine Regierung unrechtmäßig an die Macht gelangt sein. Für sie war der Gewaltausbruch Teil eines Plans, um die linksgerichtete Regierung von Präsident Lugo abzusetzen. Sie fordern die Enteignung der Farm Marina Kué, die Aufklärung des Verbrechens, die Freilassung aller Gefangenen, die seit dem Vorfall von Curuguaty inhaftiert sind und die Bestrafung der wirklichen Täter. Solange dies nicht geschehe, könne man nicht davon reden, dass in Paraguay demokratische Verhältnisse herrschten.
Mittlerweile haben sich tausende Menschen in Paraguay und im Ausland mit einem Schild abbilden lassen, auf dem „Sabemos que pasó en Curuguaty!“ oder auf Guaraní „Roikuaa mba‘e oiko curuguatetýpe“ steht: „Ich weiß, was in Curuguaty geschah.“ Sie wollen damit deutlich machen, dass sie die offizielle Version für das Massaker nicht anerkennen.
Der neue Präsident ignoriert währenddessen öffentlich diese Proteste. Horacio Cartes ist einer der reichsten Männer Paraguays. Seine Partei, die Colorados, stellt eine Art Staatspartei dar, die vor allem die Interessen der Unternehmer_innen des Landes vertritt, insbesondere der mächtigen Agrarindustrie.
Die Botschaft der Regierung ist klar: Es herrscht Ruhe im Land, alle können wieder zum Alltag übergehen. Eine von mehreren Maßnahmen, mit denen die arme Bevölkerungsmehrheit des Landes weitgehend marginalisiert wird. Auch die kostenlose Gesundheitsversorgung und Schulbildung, die Fernando Lugo eingeführt hatte, wurden wieder abgeschafft. In seiner kurzen Amtszeit hat Cartes so bereits viele Befürchtungen von linken Aktivist_innen bestätigt.
Die wichtigsten Medien des Landes unterstützen dagegen die Regierung. ABC Color, die größte Zeitung Paraguays, behauptet, dass die Proteste nur von einer linken Minderheit ausgingen und schweigt die Bewegung tot. Ein Beispiel dafür ist die Berichterstattung zu einem Gesetz, das von Cartes am 28. Oktober erlassen wurde und Private Public Partnerships erleichtern soll. Kritiker_innen sehen darin einen Ausverkauf des Landes zugunsten von privaten Unternehmen und riefen zu Protesten auf. In einem Editorial hatte ABC Color dazu geschrieben, die Proteste würden nur von korrupten Gewerkschafter_innen ausgehen. Die Gewerkschaft der Journalisten Paraguays beschuldigte ABC Color daraufhin, die Proteste zu kriminalisieren und die Berichterstattung zum umstrittenen Gesetz de facto zu zensieren.
Gegen die Guerrillabewegung „Heer des paraguayischen Volkes“ EPP setzt Horacio Cartes auf Repression. Er kündigte wörtlich an, einen Krieg gegen sie führen zu wollen. Dieses Vorgehen resultiert bisher aber vor allem in der Repression von Kleinbäuerinnen und -bauern und linken Aktivist_innen, insbesondere in den ländlichen Regionen im armen Norden Paraguays.
Miriam Duarte ist Aktivistin der Kleinbauernbewegung Paraguays MCP, die seit 1980 für eine Landreform kämpft und im globalen Netzwerk Vía Campesina organisiert ist. Am 8. Oktober sprach sie in den Räumen des Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika über die Situation von Aktivist_innen in Paraguay.
Die Aussagen von Cartes gegen die EPP hält sie für verlogen. „Die EPP und Cartes sind Verbündete,“ erklärte sie gegenüber den LN. Horacio Cartes steht seit längerem unter Verdacht, Verbindungen zur Drogenmafia zu unterhalten. Miriam Duarte glaubt, dass Regierung, Mafia und EPP mit Unterstützung der Medien zusammenarbeiten würden, um ein Klima der Gewalt im Land zu erzeugen. Ein Beispiel für diese Entwicklung sei Kolumbien, wo ebenfalls jegliche Proteste gegen Unternehmen kriminalisiert würden, indem man sie bezichtige, die Guerilla zu unterstützen.
„Die Medien bauschen die EPP auf, um uns zu kriminalisieren“, sagt Duarte. Obwohl sie aus der Region komme, wo die EPP agiere, kenne sie nur eine Person, die in der Guerilla aktiv sei. Gleichzeitig bauen Agrarunternehmen auf immer mehr Flächen gentechnisch modifiziertes Soja an und entziehen den Kleinbäuerinnen und -bauern dadurch die Lebensgrundlage. Zudem entstehen im Norden Paraguays im großen Stil Marihuanaplantagen. Um ihre Interessen zu verteidigen, bauen die Unternehmen sich mit Hilfe von Sicherheitsunternehmen regelrechte Privatarmeen auf. Wer sich dagegen wehrt, lebt gefährlich. Gegen die Proteste der Kleinbäuerinnen und -bauern gehen die Sicherheitskräfte und – mit Verweis auf die Guerrilla – auch die Regierung mit äußerster Brutalität vor. Die Verbrechen, die an Aktivist_innen begangen werden, die sich gegen die Ausweitung der Agrarindustrie in Paraguay wenden, bleiben dagegen fast immer ungeahndet. Seit 1989, dem Jahr als die Diktatur offiziell in Paraguay endete, wurden 129 Kleinbäuerinnen und -bauern im Kontext von Landkonflikten ermordet.
Die einzige Möglichkeit, diesen Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen, sei es, durch unabhängige Medien über die Zusammenhänge der Gewalt aufzuklären, erklärt Miriam Duarte. In diesem Sinne geht es um viel mehr als nur um ein Massaker, wenn Aktivist_innen fordern, die Wahrheit über Curuguaty zu erfahren. Es geht darum, zu verhindern, dass Paraguay eine Entwicklung nimmt wie Kolumbien, wo die Gewalt auf dem Land zur Vertreibung und Ermordung von Millionen von Kleinbäuerinnen und -bauern geführt hat.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren