Unruhen in Alto Paraná
Der Landkonflikt zwischen einem brasilianisch-paraguayischen Unternehmer und einigen tausend Landlosen in Paraguay spitzt sich zu
Der Konflikt ist angeheizt. Auf der einen Seite stehen einige zehntausend Landlose Paraguayer_innen, die die nationalistische Karte auszuspielen versuchen. Auf der anderen Seite steht ein reicher brasilianischer Unternehmer, der sich selbst als Opfer einer bösartigen Kampagne von „Banditen“ sieht.
In dem Konflikt geht es nicht um einen Pappenstiel: Streitpunkt ist ein 167.000 Hektar großes Gebiet in der Region Ñacunday in Alto Paraná, Paraguay, rund hundert Kilometer von der brasilianischen Grenze entfernt. Nach Meinung der Landlosen, die in Paraguay „Carperos“ genannt werden (nach dem spanischen Wort „carpa“ für Zelt), handelt es sich bei dem Stück Land um Staatseigentum. Der brasilianischstämmige Soja-Produzent Tranquilo Favero soll es sich in den Jahren der Diktatur widerrechtlich angeeignet haben. Favero weist diese Vorwürfe jedoch von sich. Er behauptet, dass er das Land in den 1990er Jahren von privaten Verkäufer_innen erworben habe. Favero verweist dabei auf die Eigentumstitel, die öffentlich einsehbar seien. Doch davon wollen die Carperos nichts wissen. Alles gefälscht, behaupten sie und halten seit Wochen einen Teil des Gebietes besetzt. Sie haben die Regierung zum Eingreifen aufgefordert. Sie solle das Land zurückfordern und unter den Landlosen aufteilen.
Die Aufteilung des umstrittenen Landes lehnt die Regierung allerdings ab. Sie hat ihrerseits 30.000 Hektar staatlichen Landes in der Nähe des umstrittenen Gebietes als Kompensation angeboten. Doch darauf wollen sich die Carperos nicht einlassen. Es gehe um das Land des Sojaunternehmers Favero, „aus Gründen der Souveränität“, erklärte Victorino López Cardozo, der Führer der Carperos. Man werde nicht abziehen.
Die Lage bleibt also angespannt. „Wir campieren hier in prekären Bedingungen, ohne Wasser, ohne Strom, ohne ausreichend Lebensmittel und ohne Hilfe der Regierung“, so López Cardozo gegenüber der brasilianischen Tageszeitung O Globo. In dem Camp aus Baracken und Zelten unweit der Besitzungen Faveros leben derzeit 12.000 Familien, darunter zweitausend Kinder. Es gibt weder Schulen noch Gesundheitsstationen. „Wenn mehr Leute hier auftauchen, könnten wir die Kontrolle über die Situation verlieren, und wir wissen nicht, was dann passiert“, drohte López Cardozo. Von Zeit zu Zeit entlädt sich die Anspannung in gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Auch haben nach Angaben der paraguayischen Tageszeitung Última Hora die Carperos mehrfach Journalist_innen bedroht und ihnen den Zugang zu dem Areal verweigert.
Auf der anderen Seite haben die Grundbesitzer_innen um Favero angefangen, bewaffnete Männer anzuheuern. Und auch verbal wurde aufgerüstet. Die Carperos bezeichnete der auch als „Soja-König“ titulierte Favero als „Banditen, die nichts zu verlieren haben.“ Gegenüber der brasilianischen Tageszeitung Folha de São Paulo legte er noch nach. Man habe während der Regierungszeit von Alfred Stroessner (1954-1989) sicherer gelebt, erklärte Favero. Dabei bezog er sich auf eine der blutigsten Militärdiktaturen Südamerikas mit Tausenden Folteropfern und „Verschwundenen“. Er hasse Armut und lehne einen Dialog mit den Carperos ab. Die müsse man behandeln „wie eine ungezogene Frau, die sich nur Stockschlägen fügt“, sagte er.
Die Aussagen Faveros provozierten eine Welle der Entrüstung. Parteien, Gewerkschaften und Frauenorganisationen zeigten sich empört. Selbst die Vereinigung der Sojabauern APS forderte eine Klarstellung. Die Regierung der Hauptstadt Asunción erklärte Favero zur „Persona non grata“, und im Senat wurde gefordert, ihm die paraguayische Staatsbürgerschaft zu entziehen, die er vor Jahren erhalten hatte.
Favero versuchte daraufhin, den Scherbenhaufen zu beseitigen. Er sei falsch verstanden worden, gab er in einer Pressemitteilung bekannt. Er habe sich nicht für die Wiedereinführung der Diktatur als Regierungsform ausgesprochen. Auch wies er die Vorwürfe von Frauenfeindlichkeit zurück. Doch der Schaden war angerichtet und Faveros Bild in der Öffentlichkeit von ihm selbst ordentlich angekratzt. Bis dahin war von ihm in der Presse wenig die Rede gewesen; und wenn, dann stellte man ihn als erfolgreichen Selfmade-Unternehmer dar, der es mit harter Arbeit nach oben geschafft hatte.
Das Auftreten der Carperos stellt die Presse dagegen meist als anmaßend dar. Die Gruppe ist in den letzten Jahren schnell gewachsen und hat sich zu einem ständigen Kopfschmerz für die Regierung entwickelt. Die Gruppierung zeichnet sich durch einen radikaleren Diskurs und ein gewaltsameres Vorgehen als die meisten anderen sozialen Bewegungen in Paraguay aus. Das Vorbild der Carperos kommt wie ihr Gegner auch aus Brasilien: Sie orientieren sich an der Landlosenbewegung MST.
Die berechtigte soziale Forderung der Carperos nach Umverteilung in dem lang anhaltenden Konflikt mit den brasilianischstämmigen Landbesitzer_innen wird immer wieder mit einem latent fremdenfeindlichen Unterton versehen. In Paraguay leben geschätzt eine halbe Million Brasilianer_innen oder Paraguayer_innen mit brasilianischen Wurzeln. Sie werden auch als „Brasiguayos“ bezeichnet.
Viele Paraguayer_innen begrüßten die Brasilianer_innen als Modernisierer der Landwirtschaft, dem wichtigsten Wirtschaftszweig des Landes. Im Jahr 2010 wuchs der Agrarsektor um erstaunliche fünfzig Prozent – in erster Linie wegen eines Produkts: Soja. Vor allem die Nachfrage aus China und Indien legte enorm zu. Die Ausbreitung des Sojaanbaus aber steht in engem Zusammenhang mit brasilianischem Kapital. Laut Marielle Palau vom Sozialforschungszentrum Base „gab es eine sehr aggressive Politik brasilianischer Siedler, die sich paraguayisches Land aneignen“, wie sie bereits 2010 gegenüber Le Monde Diplomatique sagte.
Viele der Brasiguayos sind, wie Favero, seit Jahrzehnten im Land und besitzen die paraguayische Staatsbürgerschaft. Trotzdem wird ihnen immer wieder abgesprochen, Teil der Nation zu sein. Diese skeptische Haltung liegt nicht zuletzt daran, dass die brasilianische Außenpolitik auch immer wieder massiv Druck auf Paraguay ausübt, um die Interessen der Brasiguayos zu verteidigen. Nicht ganz zu Unrecht kritisieren viele Paraguayer_innen einen brasilianischen Imperialismus. Seit dem Tripel-Allianz-Krieg (1864-1870), bei dem Paraguay fast vernichtet wurde, steht die paraguayische Politik stark unter dem Einfluss Brasiliens. Und das brasilianische Militär hat in den letzten Jahren bereits demonstrativ Manöver an der Grenze zu Paraguay abgehalten, bei denen es um die Evakuierung brasilianischer Staatsbürger_innen im Notfall ging.
Paraguays Regierung erklärte, die Sicherheit der Brasiguayos zu schützen. Gerichte müssten klären, wem das Land gehöre. „Die Regierung garantiert die Sicherheit der gesamten Bevölkerung und kann weder Land verteilen noch wegnehmen; dies muss auf juristischem Weg geklärt werden“, sagte der Kabinettschef López Perito auf einer Pressekonferenz. Man werde dem Druck der Landlosen nicht nachgeben und das Privateigentum schützen. Eine Kommission wurde eingerichtet, die zwischen den beiden Seiten vermitteln soll. Ihr gehören der Chef der Nationalen Behörde für Ländliche Entwicklung (Indert), Marciano Barreto, Generalstaatsanwalt Enrique García und der Rechtsberater der Regierung, Emilio Camacho, an. Ziel ist die Befriedung des Konflikts.
Die strukturelle Gewalt, die dem Ganzen zugrunde liegt, wird dabei weitgehend ausgeblendet: die enorme Ungleichverteilung von Land. Tranquilo Favero, der mehr als eine Million Hektar Boden besitzt, ist ein paradigmatisches Beispiel dieser absurden sozialen Realität. Zahlen der Nachrichtenagentur Prensa Latina zufolge besitzen rund 500 Familien in Paraguay 90 Prozent des Landes. Zwischen 50 und 60 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze; und diese Armut konzentriert sich vor allem auf die ländlichen Gebiete.
Als Fernando Lugo an der Spitze der Patriotischen Allianz für den Wandel (APC), einer Sammelbewegung aus sozialen Bewegungen und Parteien aller politischen Richtungen, 2008 die Partido Colorado nach 61 Jahren Herrschaft von der Macht ablöste, war eine der Hauptforderungen an seine Regierung, endlich eine Agrarreform durchzuführen, die diesen Namen auch verdiente. Doch von Anfang an sah er sich diversen Schwierigkeiten gegenüber. In den mehr als sechs Jahrzehnten Herrschaft der Partido Colorado hatte sich eine Kultur der Korruption in allen Bereichen der Verwaltung bis hinein in höchste Stellen etabliert. Lugo und seine kleine, überschaubare Mannschaft an Getreuen standen vor der Mammutaufgabe, einen Staat umzukrempeln, der komplett nach dieser Korruptionskultur strukturiert ist. Dies mussten sie tun, ohne eine parlamentarische Mehrheit und ohne die Macht, den ebenfalls korrupten Justizapparat schnell verändern zu können. Zudem traten recht bald die Differenzen seiner heterogenen Wahlallianz immer offener zu Tage. Insbesondere die Liberale Partei, die die Mehrheit im Parlament stellt, hat wirtschaftliche Interessen, die sich kaum von denen der Colorados unterscheiden.
Trotzdem brachte die Regierung einiges auf den Weg: Zum ersten Mal in ihrer Geschichte haben alle Paraguayer_innen das Recht auf kostenlose Gesundheitsversorgung; zum ersten Mal wird auch die indigene Bevölkerung des Landes angehört und als politischer Akteur ernst genommen; die Wasserversorgung in den ländlichen Gebieten wurde verbessert und vieles mehr.
Doch der zentrale soziale Konflikt, die Landfrage, wartet weiter auf eine Lösung. Nicht zuletzt, weil sich die mit dem Agrarsektor verbundenen Ministerien in der Hand von rechten Parteien befinden. Und die sind bisher in dieser Frage nicht aktiv geworden. Bauernorganisationen dagegen fordern von der Regierung weiterhin die Einhaltung ihrer Versprechen.
In diesem Kontext ist auch das Auftreten der Guerillagruppe Paraguayische Volksarmee (EPP) zu betrachten. Die Guerrilla wurde immer wieder zum Vorwand für die Unterdrückung sozialer Bewegungen genommen. Die sozialen Kämpfe – und dazu zählen eben auch Landbesetzungen – werden zunehmend kriminalisiert. „Die EPP bietet jetzt den perfekten Vorwand, die Regierung anzuschwärzen und damit den Prozess der Landbesetzungen und der sozialen Versorgung im Norden zu stoppen, damit die tatsächlich kriminellen Organisationen und traditionellen Netzwerke der Drogenmafia, der Schmuggler und der Steuer- und Polizeikorruption geschützt werden“, sagt Juan Martes von der paraguayischen Menschenrechtskoordination (Codehupy) in Le Monde Diplomatique. „Aber Lugos Reaktion grenzt auch an politischen Selbstmord, denn er kriminalisiert die Bauern und beschleunigt die Auflösung der Basisorganisationen, die ihn unterstützt haben.“
Nach Angaben der Agrarkoordination von Paraguay (CAP) gibt es derzeit Landkonflikte in fünf Departamentos des Landes. In den vergangenen Tagen fanden zudem Räumungen in Jejuí (San Pedro) und Itakyry (Alto Paraná) statt, die friedlich verliefen. Vierhundert Polizist_innen, unterstützt von zwei Hubschraubern, vertrieben rund achtzig Familien von einem privaten Grundstück in Jejuí, das sie seit zwei Jahren besetzt hielten. Kurz darauf zerstörten Mitarbeiter_innen des Grundbesitzers die Behausungen und Anpflanzungen. Ebenfalls ohne Widerstand zu leisten, ließen sich rund einhundert Personen in Itakyry räumen. In La Fortuna, Alto Paraná, dagegen sind zweihundert Hektar Sojapflanzen verbrannt, die mutmaßlich von Besetzer_innen in Brand gesteckt wurden.
Wie die Sache in Ñacunday ausgeht, wird sich in den nächsten Tagen oder Wochen zeigen. „Es gibt ein politisches Interesse, dass es da zu Zusammenstößen kommt. (…) Meine Vermutung ist, dass jemand möchte, dass sich die Regierung die Hände mit Blut besudelt“, befürchtet López Perito gegenüber Última Hora. So kann man den Dingen, die kommen mögen, auch das Wort reden.