“DER STAAT MÜSSTE DEN NOTSTAND AUSRUFEN”
Belén Cantero spricht über den Kampf gegen gendermotivierte Gewalt
Protest vor dem Frauenministerium. Alle vier Tage wird in Paraguay eine Frau ermordet. (Foto: privat)
Die jüngsten Proteste gegen die Femizide in Asunción haben es geschafft, die ansteigende Mordrate an Frauen sichtbar zu machen. Wie interpretieren Sie diese Entwicklung und was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür?
Belén Cantero: In einem großen Teil der Welt wird ein Anstieg von Gewalt gegen Frauen wahrgenommen. Obwohl auf der einen Seite die registrierten Gewaltakte gegen Frauen abnehmen, da solche Taten heutzutage sensibler und häufiger wahrgenommen werden, gehen wir trotzdem davon aus, dass die Gewalt gegen Frauen generell zugenommen hat. Immer mehr Frauen fordern ihre Rechte ein und kämpfen für ihre Freiheit, viele Männer begehren dagegen auf. Ich glaube, wir durchleben eine Krise des klassischen männlichen Selbstverständnisses beziehungsweise Rollenbildes, Frauen gegenüber eine mächtigere Position einzunehmen. Viele Männer reagieren mit Gewalt, um ihre Stellung zu verteidigen.
Welche Maßnahmen fordern Sie von der Regierung, damit sich die vielen Morde nicht wiederholen?
Soziale und politische Organisationen haben sich zusammengeschlossen, um gemeinsam die Untätigkeit der Regierung aufzudecken und anzuklagen. Es gibt eine breite Palette von Forderungen an den Staat. Zunächst einmal dürfen Opfer nicht erneut dem bestehenden System zum Opfer fallen. Anzeigen müssen ernst genommen und aufgenommen werden, und es muss in solchen Fällen von Gewalt unmittelbar gehandelt werden. In vielen Fällen, in denen Frauen Unterstützung vom Staat einfordern, beschützt dieser den Gewalttäter und bezichtigt das Opfer, selbst die Schuld an der Situation zu tragen. Der Staat müsste eigentlich den nationalen Notstand ausrufen, um so unmittelbar die benötigten Kräfte zu bündeln, die zur Schaffung von Notfallzentren für Frauen und weiterer psychologischer sowie juristischer Beratungs- beziehungsweise Betreuungseinrichtungen benötigt werden. Nicht nur das Frauenministerium, sondern auch das Gesundheits- und das Bildungsministerium sollten sich an die spezifischen Bedürfnisse dieser Situation anpassen, beispielsweise wenn es um sexuelle Gesundheit und Reproduktionsfähigkeit geht oder auch, was Kampagnen zur Sensibilisierung und Vorbeugung von Gewalt gegen Frauen betrifft.
Welche Strategien haben Sie, um die Kampagne zu verbreiten und den Staat unter Druck zu setzen, damit er handelt?
Im Laufe des Jahres haben wir zwei Aktionen durchgeführt, eine direkt vor dem Bildungsministerium und eine weitere auf einem öffentlichen Platz. Die hatte einen künstlerischen Charakter und sollte auf die Problematik aufmerksam machen. Am 24. Februar, dem Tag der Frau in Paraguay, werden wir weitere Aktionen dieses Charakters an mehreren Orten durchführen, nicht nur in der Hauptstadt Asunción. Gerade sind wir dabei, uns gemeinsam mit anderen Organisationen an etwas Größerem zu beteiligen, nämlich an dem internationalen Generalstreik der Frauen in Paraguay. Wir sind überzeugt, dass dieser Tag ein Meilenstein für die Frauenbewegung in Paraguay sein wird und wir uns durch unsere Aktionen besser positionieren werden, um für politische Veränderungen entsprechend unseren Bedürfnissen zu sorgen.
Das Frauenministerium in Paraguay arbeitet unter einer ultrakonservativen Regierung, deren Senatoren Frauen offen vergleichen können mit „einer treuen Hündin, die kochen und nur ihren Mann bedienen soll“ (Äußerung von José Manuel Bóbeda in einer Versammlung der Organisation Amerikanischer Staaten 2014). Trotzdem wurde Ende 2016 das Gesetz „Für sie“ erlassen, das versucht, die Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. Gibt es irgendwelche Erfolge seit der Erlassung dieses Gesetzes und wie effektiv kann das Ministerium unter der Regierung von Horacio Cartes sein?
Das Gesetz „Für sie“ wurde Ende 2016 erlassen. Dieses Gesetz war ein Gewinn durch die Bewegung. Der Kongress nahm dann noch einige Änderungen vor, wodurch die Begriffe „Gender“ und „Feminizid“ herausgenommen wurden und eine Schlichtungsinstanz zwischen Opfer und Täter verpflichtend etabliert wurde, dies bedeutete einen Rückschritt. Nach Protesten wurde ein Gesetz eingeführt, das einen Fortschritt darstellt. Aufgrund dessen wird heute der Straftatbestand „Feminizid“ anerkannt, er wurde schon von einigen Richtern angewandt. Bis heute (Stand 19. Februar 2017, Anm. d. Red.) wurden die Tötungsfälle von elf Frauen offiziell als „Feminizide“ deklariert. Dadurch wird die Problematik sichtbar gemacht und die Debatte verlagert. Der noch fehlende Teil des Gesetzes wird Ende 2017 eingebracht werden. Die aktuelle Regierung und auch der Staat sind weiterhin machistisch geprägt, ebenso wie die Gesellschaft Paraguays. Mit diesem Wissen im Hinterkopf muss uns klar sein, dass dieser Gewinn in der Jurisdiktion auch seine Grenzen hat. Viele Gesetze sind tote Buchstaben. Es kommt auf tiefgreifendere Veränderungen im gesellschaftlichen Bewusstsein an, ebenso wie auf die materielle Situation von Frauen und unserer Organisation, aber auch auf die Kämpfe, die dafür Sorge tragen, dass notwendige Veränderungen weiterhin stattfinden. Dieser Wandel ist kein Wandel von oben, dessen sind wir uns bewusst.
Die gendermotivierte Gewalt drückt sich auch in der starken Diskriminierung der LGBTI-Gemeinschaft in Paraguay aus. Eine Trans- Frau wurde in Ciudad del Este am selben Tag umgebracht, an dem das Gesetz „Für sie“ erlassen wurde. Dieses beschränkt sich aber nur auf den Schutz von Menschen, die vom Staat als biologische Frauen interpretiert werden. Gibt es auch einen Schutzmechanismus gegen strukturelle, psychologische und physische Gewalt gegen LGBTI-Personen?
Die LGTBI-Gemeinschaft bleibt juristisch weiterhin absolut ungeschützt, das beginnt schon in der Aushandlung der Gender-Identität, die mit dem binären Frau-Mann-Schema zu brechen sucht. Es gibt eine Kampagne und ein Gesetzesvorhaben namens „Gegen jede Form von Diskriminierung“, dagegen gibt es nach wie vor viel Gegenwehr. Es ist noch ein weiter Weg zu gehen, aber er ist notwendig. Von 1989, dem Ende der Stroessner-Diktatur, bis 2016 wurden 57 „Trans-Morde“ aus Hass registriert. Während der Diktatur Stroessners waren es 108 Mordfälle, die das Leiden Homosexueller durch deren Verfolgung in dieser Ära aufzeigen.
In Paraguay gibt es eine große Zahl an Bäuerinnen und indigenen Frauen, die noch weiteren Formen von Diskriminierung wie Rassismus und Klassismus ausgesetzt sind. Was bedeutet das für die feministischen Bewegungen in Paraguay?
In Paraguay – und ich denke, auch im Rest der Welt – leiden die Frauen unter diversen Formen von Unterdrückung, die sich lediglich auf das Geschlecht beziehen, insbesondere innerhalb der ärmeren Bevölkerungsschichten. Ein starker Feminismus ohne Frauen aus diesen gesellschaftlichen Bereichen ist undenkbar. In den marginalisierten Stadtvierteln, den bañados, sind die Frauen in der Mehrheit Anführerinnen. Die Frauen aus ländlichen Gebieten sind in der CONAMORI organisiert, ebenso wie die indigenen Frauen. Sicherlich handelt es sich eher um einen Feminismus von Nichtregierungsorganisationen, aber der stößt an seine Grenzen, wenn er nicht weitere Frauen erreicht. Ich denke, heute hat der paraguayische Feminismus in diesem Sinne einen breiteren Horizont. An der Vorbereitung des Generalstreiks beteiligen sich unterschiedlichste Organisationen wie solche aus ländlichen Gebieten, indigene Organisationen, lesbische und Transbewegungen. Wenn das nicht so ist, hat der Feminismus eine sehr kleine Basis und somit nur sehr geringe Möglichkeiten, uns bessere Tage zu bescheren.