Mexiko | Nummer 471/472 - Sept./Okt. 2013

Pro Woche eine Frau

Interview mit Norma Andrade von der Organisation Nuestras hijas de regreso a casa über die anhaltenden Frauenmorde in Ciudad Juárez

Ciudad Juárez gilt als „Hauptstadt der Feminizide“. Seit 1993 wurden in der nordmexikanischen Grenzstadt 1.441 gewaltsame Morde an Mädchen und Frauen registriert. Nach wie vor wird kaum eines der Verbrechen aufgeklärt. Dagegen setzt sich die Nichtregierungsorganisation Nuestras hijas de regreso a casa („Unsere Töchter sollen nach Hause zurückkehren“) ein. Die LN sprachen mit einer der Gründerinnen, Norma Andrade, die zur Verleihung des Alice Salomon Awards nach Berlin gereist war.

Interview: Laura Haber und Eva Bräth

In den 1990er Jahren erlangte Ciudad Juárez aufgrund der massenhaften Ermordung von jungen Frauen den traurigen Ruf, „Hauptstadt der Feminizide“ zu sein. Hat sich die Situation seitdem verändert?
Ich denke nicht. In den Gesetzen finden sich zwar viele Bestimmungen, die positiv klingen, aber sie finden keine Anwendung. Im nordmexikanischen Bundesstaat Chihuahua gilt das Leben einer Kuh mehr als das Leben einer jungen Frau, denn für den Diebstahl einer Kuh werden bis zu 40 Jahre Freiheitsstrafe verhängt. Für den Mord an der Tochter unserer Mitstreiterin Julia bekam der Täter eine Freiheitsstrafe von neun Jahren. Davon hat er eineinhalb Jahre bereits abgesessen und bei guter Führung wird er in zwei Jahren entlassen. Die Suche nach Julias Tochter und die Durchsetzung unserer Forderung, die Identität der Leiche mit einem DNA-Test eindeutig nachzuweisen, hat dagegen vier Jahre gedauert.
Die Problematik verschlimmert sich, seitdem der Drogenkrieg gegen das Sinaloa-Kartell und das Juárez-Kartell begann. Heute verschwinden noch mehr junge Frauen als früher, ungefähr eine pro Woche. Wir wissen das, weil die Eltern der Verschwundenen unsere Hilfe suchen.

Sind die Morde an Frauen Ausdruck geschlechtsspezifischer Gewalt?
Ja, die Opfer werden ermordet, weil sie Frauen sind. Geschlechtsspezifische Gewalt wird manchmal auf den familiären und häuslichen Bereich reduziert. Ich denke, es ist wichtig, alle Lebensbereiche von Frauen in die Betrachtung einzuschließen. Die verschwundenen Mädchen und Frauen werden von Unbekannten vergewaltigt, gefoltert und anschließend wie Müll weggeworfen – in die Wüste, in Straßengräben, in Mülltonnen. Die Behörden behandeln die Opfer als Nummern, als statistische Größen. Als meine Tochter Alejandra 2001 ermordet wurde, war sie Nummer 285. Wegen solch schmerzhafter Erfahrungen mussten wir diesen Kampf beginnen, doch er interessiert die mexikanische Regierung nicht im Geringsten. Ich frage mich, wie viele weitere Frauen ermordet werden müssen, damit staatliche Akteure endlich anerkennen, dass geschlechtsspezifische Gewalt existiert.

Welche Rolle spielt das organisierte Verbrechen bei der Ermordung und dem Verschwinden der Frauen?
Früher fanden wir die Leichen der Frauen ein bis zwei Wochen nach ihrem Verschwinden. Die brasilianische Ethnologin Rita Laura Segato stellte die Theorie auf, dass die Frauenmorde als Initiationsritus zwischen Mitgliedern mafiöser Vereinigungen galten und mit ihrem Blut ein Pakt des gegenseitigen Schutzes geschlossen wurde. Aber heute tauchen die Leichen erst zwei bis drei Jahre nach dem Verschwinden der Frauen auf. Außerdem stimmt der Todeszeitpunkt, der durch die Autopsie festgestellt wird, nicht mit dem Datum des Verschwindens überein. Für einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren weiß niemand, wo die Frauen sind und was mit ihnen passiert. Wir, die Mütter der Entführten und Ermordeten, glauben, dass sie zur Prostitution gezwungen werden. Tatsächlich ist der Fall einer jungen Frau bekannt, die in der Avenida Juárez als Prostituierte arbeitete und dort von einem Bekannten gesehen wurde. Als er mit ihr ins Gespräch kam, rissen zwei Männer die Frau fort. Zehn Monate später wurde ihre Leiche gefunden. Sie war aber bereits viel länger von zu Hause verschwunden. Einige nehmen auch an, dass ein Teil der entführten Mädchen und Frauen nach Tlaxcala und Mexiko-Stadt gebracht und dort zur Prostitution gezwungen werden. Dass eine Person gegen ihren Willen an einen anderen Ort gebracht wird, lässt darauf schließen, dass Mitarbeiter der Regierung in den Menschenraub verwickelt sind. Vor kurzem machte der Fall eines vierjährigen Mädchens Schlagzeilen. Es war verschwunden und tauchte in El Salvador wieder auf, das heißt jemand musste mit dem Kind die Grenzen zu Guatemala und El Salvador passieren – und kein Grenzbeamter will das bemerkt haben?

Sie halten es also für wahrscheinlich, dass Netzwerke des organisierten Menschenhandels in die Morde verwickelt sind?
Ich denke, dass hinter den Entführungen organisierte Täter stecken, denn einer allein kann eine junge Frau nicht entführen. Es sind mindestens zwei Personen notwendig: eine, die das Fahrzeug fährt und eine, die die Frau in das Auto zerrt. Meine Tochter war ein recht großes, sportliches Mädchen, sodass einer allein das kaum geschafft hätte. In der Untersuchung wurden die DNA-Spuren von drei Personen nachgewiesen. Die Entführungen dauern wenige Minuten, sodass niemand merkt, was passiert und das würde ein Einzeltäter nicht schaffen. Die Frauen verschwinden nicht nur nachts, sondern zu jeder Tageszeit und häufig in der Innenstadt, die voller Menschen ist.

Sie selbst wurden mehrmals bedroht und angegriffen und mussten Ciudad Juárez verlassen. Wie wirkt sich Ihre Arbeit auf Ihr persönliches Leben aus?
Die gravierendste Folge ist ohne Zweifel, dass ich nicht mehr in Ciudad Juárez leben kann. Das trifft vor allem meine Enkel, die ich aufziehe. Zu dem Schmerz nach dem Tod ihrer Mutter kommen Schwierigkeiten durch den Umzug. Die Kinder mussten ihr Zuhause, die Schule und den Freundeskreis wechseln. Gleichzeitig hat das dazu geführt, dass sie mein Engagement immer besser verstehen und es unterstützen. Meine Enkeltochter weiß mittlerweile, dass sie allein deswegen besonderer Gefahr ausgesetzt ist, weil sie eine Frau ist, nicht mehr nur deswegen, weil ich Aktivistin bin. Mein Enkelsohn weiß, dass er nicht wie andere Kinder zum Spielen nach draußen gehen kann. Nach den Angriffen auf unsere Familie ist das noch schwieriger geworden. Aber beide verstehen, dass ich dafür kämpfe, dass die Mörder ihrer Mutter gefasst werden, dass keine weiteren Frauen verschwinden und keine Mütter mehr Tränen vergießen müssen, wie ich es tue.

Wie setzen Sie Ihre Arbeit nach den Angriffen fort?
Früher halfen wir den Müttern vor Ort, indem wir Flugblätter und Aushänge erstellt und sie begleitet haben, wenn sie eine Vermisstenanzeige aufgaben. Das geht jetzt nicht mehr, aber ich verbreite die entsprechenden Informationen und unterstütze die Suche nun per Internet. Je nach Sicherheitslage reise ich nach Ciudad Juárez, um Mütter von Verschwundenen zu schulen. Das ist eine schwierige Aufgabe. Viele von ihnen sind Analphabetinnen, vor allem aber sind sie verzweifelt und fragen sich, wo ihre Tochter sein mag und wie es ihr geht. In solchen Momenten ist es sehr schwierig, sich an einen Tisch zu setzen und ein konkretes Vorgehen zu überlegen. Oftmals organisieren die Frauen vor Ort Mahnwachen und protestieren vor der Staatsanwaltschaft, anstatt mit den Behörden zu sprechen oder Protokolle auszuwerten. Aus der Ferne können wir solche Aufgaben übernehmen und Druck auf die ermittelnden Behörden ausüben. Für unsere Arbeit ist es außerdem wichtig, die psychischen Folgen bei den Angehörigen stärker zu berücksichtigen. Oft sind es die Kinder, die am wenigsten Aufmerksamkeit erfahren. Deshalb bieten wir seit einiger Zeit das psychologische Betreuungsangebot Esperanza („Hoffnung“) für rund 50 Kinder von Ermordeten und Verschwundenen an, das meine Kollegin Marisela Ortiz von den USA aus organisiert.

Wie bekommen Sie Kontakt zu den Betroffenen?
Wenn wir von einem Fall hören, bieten wir den Angehörigen Hilfe an. Wir gehen zu den Beerdigungen und begleiten die Familien. In konkreten Fällen bieten unsere Anwältinnen und Anwälte auch direkten Rechtsbeistand an. Eine Schwierigkeit ist, dass die Regierungsbehörden die Arbeit der zivilgesellschaftlichen Gruppen in Ciudad Juárez behindern. Wenn eine Mutter eine Vermisstenanzeige aufgibt, legt ihr die Polizei nahe, sich keiner unserer Organisationen anzuschließen. Sie argumentiert, das würde den Entführer nur unter Druck setzen und dazu führen, dass er die Tochter, sollte sie noch am Leben sein, ermordet.

Was war der bislang größte Erfolg Ihrer Arbeit?
Als wir die Tochter eines Kollegen wieder gefunden haben. Sie war entführt worden, jemand hatte sie gesehen und wir gründeten eine Suchtruppe. Wir konnten das Mädchen ihrem Vater lebendig zurückbringen. Natürlich ist sie traumatisiert und die Familie ist danach in eine andere Stadt gezogen, aber sie lebt. Unsere Arbeit wurde mit Preisen wie der Menschenrechtsmedaille der französischen Regierung und einer Auszeichnung durch Amnesty International anerkannt. Aber für mich war es der größte Erfolg, das Mädchen lebendig zu finden. Und an dem Tag, an dem der Mörder meiner Tochter überführt ist, werde ich sagen, dass es sich gelohnt hat, zu kämpfen.

Infokasten:

Feminizide in Mexiko

Der Begriff „Feminizid“ bezeichnet den Mord an einer Frau aufgrund ihres Geschlechts. Feministische Akademiker_innen und Aktivist_innen verweisen mit dem Konzept auf die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, unter denen die Morde begangen werden. Da Feminizide keine isolierten Einzeltaten, sondern vielmehr Ausdruck struktureller Gewalt darstellen, leitet sich daraus eine Verantwortung von Gesellschaft und Staat ab (siehe auch LN-Dossier Nr. 3 „Frauenmorde in Zentralamerika und Mexiko“).
In Ciudad Juárez im Bundesstaat Chihuahua, Hauptstandort der Billiglohnindustrie und Anziehungspunkt für Migrant_innen, werden seit den 1990er Jahren besonders viele Feminizide registriert. Die Opfer werden nach dem gleichen Muster vergewaltigt, verstümmelt und umgebracht. Bei sinkender medialer Aufmerksamkeit stieg diese Form der extremen Gewaltanwendung an: Von den 1.441 Morden, die im Zeitraum 1993-2013 erfasst wurden, ereigneten sich 60 Prozent seit 2007.
Die Nichtregierungsorganisation Nuestras hijas de regreso a casa thematisiert die Feminizide in der Öffentlichkeit, fordert Aufklärung sowie das Ende der Straffreiheit für die Täter und unterstützt betroffene Familien. Norma Andrade, deren Tochter Alejandra 2001 ermordet wurde, gründete die Organisation zusammen mit Marisela Ortiz, der Lehrerin Alejandras. Beide können heute aufgrund von Morddrohungen und Anschlägen nicht mehr in Ciudad Juárez leben.

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