Mexiko | Nummer 480 - Juni 2014

Widerstand hinter Gittern

Ein Besuch bei dem indigenen Gefangenen Alejandro Díaz Santis in Chiapas

Seit 15 Jahren sitzt Alejandro Díaz Santis unschuldig im Gefängnis. Aus der Haft kämpft er gegen das korrupte mexikanische Justizsystem sowie die schlechten Haftbedingungen.

Julius Martin-Humpert

Es herrscht eine bunte Geräuschkulisse aus Musik, Familien, die mit Essen vollgestopfte Tüten mitbringen, und grölenden Glücksspielern. Die Sonne knallt auf bekritzelte Wände, aufgehängte Wäsche und einzelne Tortillas, die in der Hitze trocknen. Und auf einen kleinen Pavillon, unter dem in ein paar bunten Plastikbechern Kaffee vor sich hindampft.
Uns gegenüber dieses markante Gesicht, eindrucksvoll geprägt von seiner Geschichte, etwas müde, aber trotzdem mit einem Leuchten in den Augen. Es gehört zu Alejandro Díaz Santis, der seit 1999 zu Unrecht eingesperrt ist. Der mittlerweile 33-jährige lebte zu dem damaligen Zeitpunkt vom Verkauf von Süßigkeiten in den Straßen der Küstenstadt Veracruz und, wie ein Großteil der indigenen Bevölkerung, mit gerade genug Einkommen, um von Tag zu Tag zu leben. Eines Abends geht er mit seiner Frau einkaufen. Seine 19 Monate alte Stieftochter bleibt mit seinem Cousin in der gemeinsamen Unterkunft. Bei der Rückkehr findet das Ehepaar das Kind am Fuß der Treppe, bereits tot. Der Cousin ist verschwunden. Als Alejandro sich aufmacht, einen Krankenwagen zu suchen, und zurückkehrt, wird er von Polizist_innen festgenommen, geschlagen und aufs Revier gebracht. Zu diesem Zeitpunkt spricht Alejandro nur Tzotzil, die indigene Maya-Sprache, jedoch kein Wort Spanisch. Als man ihm am nächsten Tag der Vergewaltigung und Ermordung seiner Stieftochter beschuldigt, hat er keinerlei Möglichkeit zu verstehen, geschweige denn sich zu verteidigen. Aufgrund des Mangels an finanziellen Mitteln bleibt ihm auch das Recht auf einen Anwalt verwehrt. Er wird zu 29 Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt.
Von da an beginnt eine Odyssee durch verschiedenste Gefängnisse in den südmexikanischen Bundesstaaten Veracruz und Chiapas. Bis er im Januar 2010 in das Gefängnis Cereso 05 nahe San Cristóbal verlegt wird. Hier sitzen wir nun und lauschen wie Alejandro uns all das mit unglaublicher Ruhe und Ausführlichkeit erzählt. Und heute in perfektem Castilla, wie die Indigenen das Spanisch nennen. Dies sei nur durch die Begegnung mit Alberto Patishtán hier im Cereso 5 möglich geworden, erzählt er.
Patishtán, Lehrer aus Chiapas und ebenfalls Tzotzil, wurde in den letzten Jahren zum Gesicht einer Kampagne, die die sozialen Missstände, die Ungerechtigkeit und Verstöße gegen die Menschenrechte in Mexiko, besonders gegenüber der indigenen Bevölkerung und politischen Häftlingen, anprangert. Aus dem Gefängnis setzte er sich permanent und kontinuierlich für eine Veränderung und einen Paradigmenwechsel in der Gesellschaft sowohl außerhalb als auch innerhalb des Gefängnisses ein. Patishtán wurde 2013 nach 13 Jahren politischer Haft aus dem Gefängnis entlassen (siehe LN 474).
„Patishtán“, so Alejandro, „hat mir beigebracht stets die Wahrheit zu sagen, und die Dinge stets öffentlich zu machen. Denn wer schweigt, macht sich zum Komplizen.“ Die Tatsache, sich als Unschuldiger in der isolierten Gesellschaft der Inhaftierten wiederzufinden und die Begegnung mit Patishtán hätten ihm die Augen geöffnet. In all den Jahren habe er gelernt, was Ungerechtigkeit sei, was die Abwesenheit von Recht bedeute, wie die Autoritäten in verschiedensten Positionen ihre Macht missbrauchten. Und auch was es heißt, zu kämpfen, sich einzusetzen für einen Wandel, für Gleichheit, für eine umfassende Gerechtigkeit.
Es versammeln sich mehr Leute am Tisch. Einer von ihnen ist Roberto Paciencia, der uns erzählt, wie er im Mai letzten Jahres aus dem Nichts festgenommen wurde, beschuldigt der Entführung einer Person, die er nie gesehen hat. Gefoltert, um ein falsches Geständnis zu erpressen, befindet er sich jetzt hier. Leider keine Ausnahme. Viele der 400 Insassen im Cereso 05 haben so oder ähnlich ihren Weg hier hinein gefunden. 90 Prozent von ihnen sind Indigene, die oft kein oder kaum Spanisch sprechen. Da große Teile der indigenen Bevölkerung in ärmsten Verhältnissen leben, kaum das Castilla beherrschen, von der Gesellschaft diskriminiert werden und ihre Rechte nicht kennen, sind sie leichte Beute, falls einmal ein Schuldiger gebraucht wird. In dem korrupten System bezahlt häufig der wahre Schuldige eine Geldsumme und man sucht sich willkürlich irgendeine Person, die dessen Strafe absitzt. Das sei, so Alejandro, eine etablierte Strategie der Ministerien und der Staatsanwaltschaft.
Leider nicht nur hier in Chiapas, sondern in großen Teilen Mexikos, Mittel- und Südamerikas. In einem Bericht, den die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte am 13. März veröffentlicht hat, wird die katastrophale Situation der mexikanischen Gefängnisse und deren Insassen aufgeführt: Mexiko ist nach den USA und Brasilien der Staat mit der höchsten Anzahl an Inhaftierten. Aktuell sind es 242.000 Häftlinge in 419 Strafvollzugsanstalten im Land. Diese sind durchschnittlich zu 26 Prozent überfüllt. Allein in den letzten fünf Jahren sind mehrere Tausend geflohen und mehr als 600 nahmen sich im Gefängnis das Leben. Von den 242.000 befinden sich 40 Prozent, also mehr als 100.000 Menschen, in vorübergehender Untersuchungshaft – ohne Urteilsspruch, allerdings in den gleichen Gefängnissen, unter den gleichen miserablen Bedingungen. Es ist eine weit verbreitete Meinung, die in der Gesellschaft herrscht: Je mehr Festnahmen, desto sicherer sei es. Unter dem Vorwand, eine Lösung für Kriminalität und Unsicherheit in Mexiko zu kreieren, wurden von der Politik diverse Gesetze modifiziert, um die vorläufigen Festnahmen ohne Untersuchung und Beweise zu legalisieren. Dies führte zu einem extremen Anstieg der Festnahmen in den letzten Jahren.
Bei einem Rundgang durch das Gefängnis bekommen wir ein Bild von der verrückten Welt, in der sich die Häftlinge bewegen und leben. Ich fühle mich wie im Film Carandiru von Hector Babenco über das berüchtigte Gefängnis von São Paulo. Wir schlängeln uns durch engste Gänge, vorbei an freundlich grüßenden Budenbesitzern, die Chips und Zigaretten verkaufen, kleinen Gasküchen und tätowierten Kartenspielern mit traurigen Gesichtern. Wir kommen in winzige Zellen mit bis zu zehn Häftlingen, jede mit einem ein mal zwei Meter großen Bett, das zugleich Kleiderschrank und Wohnraum ist.
Seit Patishtán im Oktober vergangenen Jahres schlussendlich aus der Haft entlassen wurde, nimmt Alejandro Díaz die Rolle ein, die Missstände im Gefängnis anzuprangern – wie zum Beispiel das Fehlen von desinfizierendem Alkohol für medizinische Behandlungen oder die korrupten Strukturen. Im Gefängnis selbst fungiert er als eine Art Ratgeber, um seine Erfahrungen zu teilen und ist Vorbild für den politischen Aktivismus eines Inhaftierten. Die Fortsetzung dieses Kampfes nach der Freilassung Patishtáns und neun weiterer indigener politisch Inhaftierter am 4. Juli 2013 zeigt, dass deren Bemühungen nicht umsonst waren und anderen Kraft gegeben haben.
Alejandro Díaz strahlt. Am 11. Mai sind es 15 Jahre, die er unschuldig im Gefängnis sitzt. Er sei zufrieden, sagt er. Zufrieden über die Freilassung seiner compañeros. Zufrieden damit, im Gefängnis gelandet zu sein. Hier, hinter den Gitterstäben, habe er andere Freiheiten gefunden. Obwohl eingeschlossen, so hätten sich ihm doch ganze Welten eröffnet: das erlernte Spanisch, die gewonnenen Erkenntnisse über die Ungerechtigkeit, der politische Aktivismus und Widerstand. Es sei kein Kampf für eine persönliche Gerechtigkeit, sagt er, sondern für eine allumfassende. Hier zwischen der aufgehängten Wäsche, den Tortillas, die in der Sonne trocknen und dem Kaffee, der inzwischen aufgehört hat zu dampfen.

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